Entscheidungshilfe oder Individualisierung?

Eine Reflektion über Beratung bei Pränataldiagnostik

Eine bessere Beratung vor und nach pränataler Diagnostik ist dringend nötig, als alleinige Forderung jedoch unzureichend. Der Schwangeren darf damit nicht die Verantwortung für gesellschaftliche Fehlentwicklungen übergeholfen werden.

Angesichts der komplexen medizinischen und technischen Vorgänge und der problematischen Entscheidungssituationen im Rahmen pränataler Diagnostik wird immer wieder der Ausbau von Beratung als Interventionsmöglichkeit vorgeschlagen. Die mannigfaltige Kritik an der unzureichenden Informiertheit vieler Schwangerer über die möglichen Konsequenzen der Untersuchungen lässt eine beratende Begleitung als sinnvolle Option erscheinen. Der häufig beklagte Automatismus vom Erstverdacht über die gesicherte Diagnose bis zur Abtreibung legt eine systematische Förderung der Reflektionsmöglichkeiten als Gegenmittel nahe. Auch der Gesetzgeber hat mit der Verschärfung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) 2009 und dem im selben Jahr verabschiedeten Gendiagnostikgesetz (GenDG) diesen Weg beschritten.1 Schon die Neuregelung des Paragrafen 218 hatte mit der Einführung der Zwangsberatung 1995 „die Strafverfolgung durch den Staat […] durch eine moralisch-pädagogische Unterrichtung ersetzt“.2

Die Ausweitung und Intensivierung von Beratung hemmt die Dynamik der pränatalen Selektion aber gerade nicht, sondern heizt sie weiter an. Die pränataldiagnostische Unterrichtung konfrontiert Frauen mit einem genetisch-medizinischen Wissen, das sie vielleicht gar nicht haben wollen. Und ist die pränatale Diagnostik in Deutschland nicht durch die humangenetischen Beratungsstellen überhaupt erst eingeführt worden? 3 Lenkt die Konzentration auf die Beratungsbedürftigkeit der einzelnen Schwangeren nicht davon ab, dass das ganze System auf die Abtreibung beeinträchtigter Föten ausgerichtet ist?

Informed Consent - Die heilige Kuh

Heutzutage gilt die informierte Einwilligung der Schwangeren als das eigentliche Ziel jeder Beratung. Dieses Konstrukt hat allerdings eine interessante Geschichte: Eingeführt wurde es als Regelung für Menschenversuche nach dem Nationalsozialismus. Nach dem Nürnberger Kodex von 1947 müssen die Teilnehmer_innen an medizinischen Experimenten aufgeklärt worden sein und diesen freiwillig zugestimmt haben. In den 1970er Jahren wurde „aus dem juristischen Konstrukt für Sonderfälle schließlich ein Patienten-Recht“.4 Diese Herkunft ist ebenso von Bedeutung wie es die eugenischen Wurzeln der Humangenetik sind. Allerdings ist die Etablierung einer informierten Einwilligung als Voraussetzung für medizinisches Handeln auch eine Errungenschaft der Gesundheitsbewegung gegenüber einem autoritären medizinischen System, das von der Entscheidungsmacht von Ärzt_innen ausging.

Voraussetzung für eine informierte Einwilligung ist, dass die Schwangere über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufgeklärt worden ist und diese verstanden hat. Die Umsetzung dieser simpel klingenden Direktive erweist sich in der Praxis als kaum durchführbar.5 Uneinigkeit besteht darüber, was die wesentlichen Umstände sind, in Bezug auf welche Untersuchungen überhaupt eine Einwilligung eingeholt werden muss, wie eine nicht-direktive Beratung garantiert und ein Recht auf Nichtwissen umgesetzt werden kann. So werden Schwangere über den Sinn und die Folgen von Untersuchungen immer noch nicht oder nur unzureichend aufgeklärt. Zudem kann die Beratung über die Sinnhaftigkeit einer Untersuchung immer nur eingeschränkt nicht-direktiv sein, da das krankenkassenfinanzierte oder von der Frauenärztin empfohlene Angebot an sich bereits die Untersuchung als sinnvoll erscheinen lässt.

Zudem sind die möglichen Folgen der Untersuchungen, über die in der Beratung umfassend aufgeklärt werden müsste, nicht nur komplex, sondern auch nahezu unbegrenzt: Die mannigfachen feststellbaren Behinderungen und Abweichungen können unterschiedliche mögliche Ausprägungen zeitigen. Auch ist eine realistische Darstellung der möglichen Folgen einer Beeinträchtigung des Fötus unmöglich, wenn man diese nur aus Lehrbüchern kennt. Angaben wie „Tod mit 25“ mögen sogar im statistischen Durchschnitt richtig sein, nicht-direktiv sind sie nicht. Schon eine ausschließlich medizinische Art der Darstellung möglicher chromosomaler Abweichungen ist nicht neutral, weil sie nur auf mögliche Defizite fokussiert.

Recht auf Nichtwissen?

Das Recht auf Nichtwissen kann in diesem Feld heutzutage nur mit einer gehörigen Portion Wissen durchgesetzt werden - ein Paradox! Die Schwangere müsste sich eigentlich nicht nur dagegen entscheiden können, von einer bestimmten Beeinträchtigung zu erfahren, sondern auch, sich überhaupt mit der Wahrscheinlichkeit dieser hypothetischen Beeinträchtigung beschäftigen zu müssen. Um aber eine als informiert anerkannte Entscheidung darüber zu treffen, dass sie einen bestimmten Test wirklich nicht machen will, muss sie sich über die Vor- und Nachteile informiert haben. Nach den Kriterien des informed consent muss ihr bewusst gemacht werden, dass sie damit das Risiko auf sich nimmt, dass ihr zukünftiges Kind die unentdeckte Behinderung x hat. Bloßes Nicht-Wissen-Wollen wird von Frauenärzt_innen gerne mit der Frage konfrontiert, ob die Schwangere sich denn bewusst sei, welche Risiken sie damit eingehe. Einfache Unnachgiebigkeit hilft hier zwar, dafür muss der Makel der Verantwortungslosigkeit in Kauf genommen werden.

Risikodenken und -vermeidung sind allerdings entscheidende Faktoren für eine immer weitere Ausdehnung pränataler Diagnostik. Der Gedanke, mit einer solchen Dynamik könnte die Nachfrage nach PND abgeschwächt werden, mutet geradezu absurd an. Ein reales Recht auf Nichtwissen müsste das einfache tatsächliche Nicht-Wissen-Wollen akzeptieren und nicht nur eine auf Grundlage aller wesentlichen Umstände getroffene Entscheidung, nicht noch mehr wissen zu wollen.

Legitimierungsstrategien

Die informierte Einwilligung gilt mittlerweile als Wert an sich, als die authentische und daher zu respektierende Entscheidung der einzelnen Frau. Die „selbstbestimmte Entscheidung“ der Schwangeren wird so zu einer Legitimierungsstrategie für auf Selektion abzielende Verfahren. Das Ergebnis der Entscheidung und der gesellschaftliche Prozess, der dahin führte, werden damit möglicher Kritik entzogen. Um aus diesem ideologischen Konstrukt auszubrechen ist es wichtig, die heilige Kuh informierte Einwilligung zu entmystifizieren. Die Grundlagen einer informierten Entscheidung müssten in der Praxis viel stärker reflektiert werden. Ohne das handelt es sich lediglich um ein zu unterschreibendes Formular, das den korrekten Ablauf bestätigt und Ärzt_innen von der Haftungspflicht befreit, aber nicht um einen Beitrag zu einer reflektierten Entscheidung.

Die immer wieder vorgebrachte Forderung einer Verbesserung und Ausweitung von Beratung bedeutet zudem, dass die Einstellungen und Entscheidungen werdender Eltern als Hauptproblemquelle betrachtet werden.6 Trotzdem soll die Schwangere, allerdings mit guter Beratung, ganz individuell für sich zu einer Entscheidung finden, die sie tragen kann. Die gesellschaftlichen Normen werden in diesem Beratungsdenken nicht als Hintergrund und Grundlage der Entscheidungen betrachtet, sondern als Faktor, der durch einen wirklichen, authentischen Entscheidungsprozess neutralisiert werden könne. Dies überdeckt das zu Grunde liegende Problem, die gesellschaftliche Normalisierung der Suche nach Abweichungen. Wenn erst am Ende der ganz normalen Diagnosespirale die Beratung und die Entscheidung anstehen, übt dies eher einen moralischen Druck auf die Schwangere aus, als sie zu unterstützen. Das Ideal des informed consent trägt damit zu einer Delegierung der Verantwortung an jede einzelne Person bei.

Die pränatalen Untersuchungsmethoden schaffen neue Ängste und Entscheidungszwänge und verändern das Erleben von Schwangerschaft einschneidend. Die Verantwortung für Ablauf und Ausgang der Schwangerschaft wird immer weiter auf die individuelle Schwangeren übertragen. Dadurch wird eine Präventionslogik aktiviert, die die Selektionsmechanismen überdeckt und Ängste und die Abwehr von Behinderung und Anderssein kanalisiert. In dieser komplexen Dynamik sind Frauen weder ausgelieferte Opfer noch rational und selbstbestimmt handelnde autonome Subjekte. Die durch PND vorangetriebene Normalisierung der Suche nach Abweichungen zementiert Ausschlüsse und Zuschreibungen.

Verbesserungen notwendig

Eine Verbesserung der Beratung ist trotz aller Kritik unentbehrlich: Für eine ausführliche und gründliche Beratung spricht beispielsweise die Tendenz, dass das Interesse an der Inanspruchnahme genetischer Tests sinkt, je besser über deren Implikationen aufgeklärt wird. Eine Kombination der Faktoren Beratung und Bedenkzeit ergab bei einem pränatalen Test auf Mukoviszidose beeindruckende Unterschiede in den Inanspruchnahmen zwischen 99,8 und 15,5 Prozent.7

Die Einbeziehung von Selbsthilfeorganisationen Behinderter oder ihrer Angehörigen in die Beratung ist sicherlich für die Schwangere oft hilfreich, weil die abstrakte Behinderung so konkret, anschaulich und möglicherweise weniger bedrohlich wird. Als problematisch ist aber anzusehen, wenn Behinderten gesamtgesellschaftlich die Verantwortung dafür zugeschoben wird, Abtreibungen zu verhindern indem sie als ehrenamtliches „Anschauungsmaterial“ bezeugen, dass die Behinderung doch nicht so schlimm ist. Für die systematische Einbindung von Betroffenen und ihren Angehörigen sollte in dem Beratungsprozessen Raum und Möglichkeit gegeben werden, daraus kann aber keine Erwartungshaltung resultieren.

Beratungen vor jeglicher pränataler Untersuchung wären außerdem sinnvoll, wenn Schwangere sich wirklich entscheiden können sollen. Wichtig wären nicht nur medizinische sondern vor allem psychosoziale Beratungen, mit deren Hilfe die Schwangeren herausfinden könnten, was sie eigentlich warum wissen wollen.8 Für die meisten Schwangeren wäre wohl auch eine Begleitung in der Wartezeit auf die Ergebnisse hilfreich. Das könnte zu einer psychischen Entlastung beitragen.

Eine frühzeitige Beratung ist jedoch sehr selten, die meisten Frauen nehmen außermedizinische Beratungen erst in Anspruch, wenn sie eine definitive Diagnose haben. Dann kann diese sich aber nur noch darum drehen, ob die Schwangerschaft abgebrochen werden soll.9 Selbst dann kann eine professionelle Begleitung noch hilfreich sein, den häufig eintretenden Schock zu überwinden. Dazu müssen die Beratungsstellen aber auch genug Kapazitäten haben, um psychosoziale Beratungen tatsächlich flächendeckend und niedrigschwellig anbieten zu können. Zu oft werden den Beratungsstellen von der Politik immer nur mehr Aufgaben zugeschoben, ohne auch die Ressourcen dafür zur Verfügung zu stellen.

 

Dieser Text ist eine aktualisierte und erweiterte Version des Kapitels „Beratung - Entscheidungshilfe oder Individualisierung?“ aus dem Buch „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“, Verbrecher Verlag, Berlin 2015, 224 Seiten, 18 Euro.

  • 1Siehe dazu auch Uta Wagenmann, Seite 8 ff. in diesem Heft.
  • 2Michi Knecht: Zwischen Religion, Biologie und Politik. Eine kulturanthropologische Analyse der Lebensschutzbewegung, Münster 2006, S. 176.
  • 3Vgl. dazu Udo Sierck, Seite 11 ff. in diesem Heft.
  • 4Silja Samerski: Entmündigende Selbstbestimmung. Wie die genetische Beratung schwangere Frauen zu einer unmöglichen Entscheidung befähigt. In Sigrid Graumann, Ingrid Schneider (Hg.): Verkörperte Technik - entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht, Frankfurt /Main 2003, S. 213-233; Zitat S. 225.
  • 5Vgl. Marion Baldus: Von der Diagnose zur Entscheidung. Eine Analyse von Entscheidungsprozessen für das Austragen der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose Down-Syndrom, Bad Heilbrunn 2006, S. 23.
  • 6Vgl. Hannes Friedrich, Karl-Heinz Henze, Susanne Stemann-Acheampong: Eine unmögliche Entscheidung. Pränataldiagnostik - ihre psychosozialen Voraussetzungen und Folgen, Berlin 1998, S. 13.
  • 7Vgl. Irmgard Nippert: Vorhandenes Bedürfnis oder induzierter Bedarf an genetischen Testangeboten? Eine medizinsoziologische Analyse zur Einführung und Ausbreitung genetischer Testverfahren. In Jörg Schmidtke (Hg.): Guter Rat ist teuer. Was kostet die Humangenetik, was nutzt sie? München 2000, S. 126-153, S. 140. Das klinikinterne Modell der Charité wird auf Seite 19 in diesem Heft erläutert.
  • 8Die Bemühungen um eine Ausweitung und Verbesserung der Beratung scheinen allerdings von den Bedürfnissen der Schwangeren abgekoppelt zu sein: Nur 18 Prozent der in der 20. bis 40. Woche schwangeren Frauen wünschten sich einer Studie im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge mehr Informationen über PND zu Beginn ihrer Schwangerschaft. Vgl. Ilona Renner: Schwangerschaftserleben und Pränataldiagnostik. Repräsentative Befragung Schwangerer zum Thema Pränataldiagnostik, Köln 2006, S. 10.
  • 9Eine vorläufige Bilanz der Beratungsentwicklung seit der Verschärfung des SchKG und dem Inkrafttreten des GenDG zeigt, dass viele Ärzt_innen die Neuerungen eher sporadisch umsetzen. Demnach verweist eine große Mehrheit der Ärzt_innen die Frauen erst nach einer gesicherten Diagnose an weitere psychosoziale Beratungsstellen, um die Schwangere nicht „unnötig verrückt zu machen“, indem über „ungelegte Eier“ geredet würde. Vgl. Christiane Woopen, Nina Horstkötter u.a.: Interdisziplinäre und multiprofessionelle Beratung bei Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2013, S. 28.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
235
vom April 2016
Seite 14 - 16

Kirsten Achtelik arbeitet als freie Autorin und Journalistin zu behinderten- und geschlechterpolitischen Themen.

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