Gezwitscherte Genomik

Gentest-Anbieter 23andMe nutzt Twitter geschickt

Auch Soziale Medien wie Twitter oder Facebook sind mediale Öffentlichkeiten, in denen wissenschaftliche Informationen kursieren - und zwar in der Form extrem schneller, interaktiver und persönlicher Kommunikation. Der Gentest-Anbieter 23andMe nutzt Twitter geschickt, um die Neugier für Gentests und deren Ergebnisse zu wecken.


Hat hier jemand schon selbst 23andMe genutzt?“ zwitschert um 10.17 Uhr am 12. Januar 2012 @sofakissen alias Daniel Ziegener fragend im Informationsnetzwerk Twitter.com.1
Response! Just folgt Birgits Antwort. Sie ist als @_Rya_ angemeldet, und lässt wissen, dass sich @gedankenstuecke, alias Bastian Greshake, gut auf diesem Gebiet auskennt.2
Greshake weist sich in seinem Twitter-Profil als „Life Scientist, student of evolution & ecology, co-founder of openSNP and a science-geek“ aus. Er reagiert prompt auf @_Rya_ und hakt nach.3
@sofakissen konkretisiert und fragt „ob man [ihm] in 140 Zeichen idiotensicher erklären kann was man da bekommt für sein Geld“.4
@gedankenstuecke beantwortet in vier Tweets informiert die Frage: „a) Auswertung ob du (Über)Träger von Erbkrankheiten bist (interessant falls irgendwann Nachwuchs ansteht)“; „b) Zum Teil aber auch für stark erhöhte Risiken (Brustkrebs, Alzheimer u.A.)“; „c) Pharmakogenomik: Wie wirken Medikamente/Substanzen auf meinen Stoffwechsel. Vertrage ich Medikament X? “ und „Oh, und d) Ancestry-Analyse: Woher kommen meine Vorfahren? Gibt es potentiell Nahverwandte Kunden in deren User-DB?“ Zum letzten Punkt führt er amüsiert an: „d) hab ich mir aber ehrlich gesagt noch nie wirklich angeschaut weil ich es langweilig finde :>“ 5
@sofakissen bedankt sich dafür und kontert (selbst)ironisch: „Denn wer will schon was mit Leuten zu tun haben die so merkwürdigen Internetfirmen DNA-Proben zukommen lassen ;-)“.6 Zwischenzeitlich rät ihm @map aus München, sich dort einen Account anzulegen, dann könne er Beispieldaten einsehen.7
Und @sofakissen antwortet „@map Ich wühl mich jetzt erstmal durch die Demo-Daten... und der @gedankenstuecke hat mir auch schon ausführlich weitergeholfen :-)“8
Die ironische Äußerung Daniel Ziegeners zuvor erwidert Bastian Greshake via der @gedankenstuecke-Anmeldung mit: „Naja, ob du die Ancestry-Analyse mit Dritten teilen willst kannst du selbst aussuchen. Ist kein muss. ;)“.9
Gegenüber @gedankenstuecke stellt @sofakissen schließlich fest: „Also hat man quasi die Wahl zwischen forever alone by DNA und forever alone by Datenschutz...“.10
„Richtig“ bestätigt Greshake Ziegener und beendet um 10.48 Uhr den Austausch mit dem Emoticon „:P“ durch ein Lächeln nebst Zunge rausstrecken.11
In gut einer halben Stunde ist die Frage zu direkt vermarkteten Gentests aus den USA 12 in einem persönlichen, öffentlichen Austausch via dem Social Media-Kanal Twitter beantwortet, hat bei dem Fragesteller sogar zu einer persönlichen Schlussfolgerung geführt - und wir können dies recherchieren und nachlesen. Und dies ganz und gar ohne, dass das angesprochene Unternehmen überhaupt für dessen Produkt aktiv werben musste.

Virale Multiplikation

„Genetics just go personal“ steht für das Unternehmen 23andMe im Firmen-Profil bei Twitter @23andMe.13 Zeitgemäß verfügt das Unternehmen über drei Twitter-Accounts und ist ebenfalls bei Facebook online.14 10.957 Facebook-Nutzern gefällt die Produkt- und Dienstleistung-Seite, auf deren „Pinnwand“ sich über Werbeangebote oder Testresultate untereinander und mit dem Unternehmen ausgetauscht wird. Verbindend, interaktiv mit anderen Nutzern, vermittelt die Firma derzeit über ihren verifizierten, das heißt von Twitter auf Echtheit geprüften Twitter-Kanal zwischen 4.727 Twitter-NutzerInnen sogenannte Tweets, also maximal 140 Zeichen langen Kurztexte.15 Die Firma „folgt“ 7.813 anderen Twitter-Profilen (das heißt zeigt sich an deren Tweets interessiert) und wird von 14.469 Profilen regelmäßig in deren Timeline, der permanent aktualisierten Mitteilungsliste eines eigenen Twitter-Accounts, „verfolgt“ (Follower), das heißt findet Leser ihrer Unternehmens-Tweets. Neben einem weniger populären Twitter-Account für die Kommunikation der Unternehmensinitiative zur Sarkom-Forschung, @23andMeSarcoma, hält das Unternehmen via @23andMe_CS direkten Interessenten- und Kundenkontakt und verbreitet beispielsweise in „Retweets“ absatzfördernd Weihnachtswünsche (siehe Abbildung 1).16 In Sozialen Netzwerken erreicht man einander meist persönlich, entweder als Pseudonym oder glaubwürdig und profiliert mit Angaben zur Person dargestellt. Twitter benutzen in Deutschland laut zweiter „Studie Soziale Netzwerke“ der BITKOM 3 Prozent der Befragten aktiv (45 Prozent Facebook) und „mehrheitlich ausschließlich privat“.17 Das Prinzip von Social Media ist: Nicht nur Gleiche treffen auf Gleiche, Einzelne auf Einzelne, sondern Viele auf Viele. Kommerzielle Anbieter personalisierter Genomik treffen auf Leute, die in Sozialen Netzwerken agieren - direkt und im Austausch. Durch entschiedene e-Kampagnen treffen 23andMe's wirtschaftliche Anliegen auf Interessierte, und persönliche Ansprache ist gegeben. 23AndMe ist Social-Media-affin.18 Das Biotech-Unternehmen, das von Linda Avey und Anne Wojcicki, Ehefrau des Google-Gründers Sergey Brin, im Jahr 2006 gegründet wurde, titelte bereits 2007 im Technologie-Magazin „Wired“ mit der Coverstory „Welcome to the Age of Genomics!“19 Anders als bei Gentest-Unternehmen wie GATC (@gatcbiotech), deCODE (@decodegenetics), Eastern Biotech and Lifesciences (@easternbiotech), iGENEA (@iGENEA) oder Navigenics (@Navigenics) verstehen sich die Verantwortlichen bei 23andMe darauf, die Sozialen Netzwerke effektiv zu nutzen.20 Das zeigt nicht nur der Blick auf die Menge der Accounts der konkurrierenden Unternehmen. Der unternehmerische Mehrwert Sozialer Netzwerke liegt auch in ihrem viralen Effekt einer Multiplikationsspirale: Äußerungen, Statements, Kommentare oder Verweise auf Ausführliches (mittels URL-Angabe verlinkt) - kurz Content - gelangen über entsprechende Statusmeldungen beziehungsweise Tweets an EmpfängerInnen. Wird eine dieser Meldungen kommentiert oder leitet jemand diese durch einen Retweet (RT) oder durch einen Klick auf einen Empfehlungs-Button („I like“) weiter, so erweitert sich die Öffentlichkeit um das Netzwerk des Content-Versendenden.21 @23andMe erreicht nicht nur die eigenen 14.469 Follower, sondern auch deren Follower-Gruppen, wenn eine Mitteilung interessiert und weiter gemittelt wird.

Kompatibel für die Direktvermarktung

Social Media bietet perfekte Voraussetzungen für „Direct to Consumer Genetic Testing“, also für direkt an den Verbraucher verkaufte Gendiagnostik. Die Kommunikationsweise in (den meisten) Blogs, Mikroblogs oder Sozialen Netzwerken basiert auf Affektpotential, ist zeitnah im Wechsel von Aktion und Reaktion und zielt auf Partizipation und Anerkennung ab. Social Media ist Narration und referenziell in ihrer Funktion - persönliche Empfehlungen sind grundlegend. In Kenntnis dessen gelingt es den Verantwortlichen bei 23andMe.com, professionell eine digital-technische Gemeinschaft zu bewirtschaften. Hier geht es darum, kommunikativ die Ergebnisse von Gentests, welche eigentlich nur unpersönliche Wahrscheinlichkeits-Aussagen zulassen, in eine soziale, persönliche Interaktion zu transferieren, eine Interaktion zwischen Interessierten, etwaigen oder potentiellen Gentest-Konsumenten und dem Gentest-anbietenden Unternehmen.22 Die Mitteilungspraxis des Schriftlichen und des Zeichenanzahl-bedingten Kurzfassens in einer neuen kulturellen Form der Informatik verhindert multidimensionale Darlegungen beziehungsweise unterbricht die Kommunikation permanent und verweist im Kommunizieren möglichst weiter.23 Sie bindet die Mitteilenden in eine gemeinsame Gruppe ein und sorgt für Fürsprecher und Neugierige. Denn die Aussageform deutet sehr wohl Komplexes an, vermittelt aber Zeitrelevanz als bedeutend - ja: Eile und Aktualität sind inhärent. Im Mitteilen des Eigenen liegt Bedeutung, da zeichenbegrenztes Mitteilen Konzentration und Überlegung in und zwischen den Zeilen erfordert und im Austausch stets auch präsentiert. Diese zeiteffektive Kommunikationspraxis birgt stets Aufmerksamkeit und Emotionalität. Im Transfer komplex spielen die Teilnehmer auf Neugier - auf Information - ab. So ist Social Media für den Austausch über Gen- und Körperdaten wie geschaffen und bietet der digitalen Selbstvermessung, dem Quantified Self, nicht nur technische Gelegenheiten der Vermittlung.24 Es stellt sich künftig die Frage nach dem Umgang mit Information - dem Gehalt einer Nachricht, die aus Zeichen eines Codes besteht. Aktuell sind alle technischen Möglichkeiten, eben auch die neuen Kommunikationsformen, in Verbindung mit individuellen Präferenzen der Nutzer ein unwiderstehlicher Trend, dem gegenüber die Gesellschaft angeblich die Bringschuld hätte, sich damit zu befassen.25 Und dies allein, weil Mögliches praktiziert wird. Ich denke, wir müssen uns Zeit nehmen - wider der Feststellung des Journalisten Niels Boeings: „Das Management der Möglichkeiten ist schließlich ein Fulltime-Job. Da bleibt keine Zeit, über die Gegenwart nachzudenken.“26

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
210
vom Februar 2012
Seite 15 - 17

Torben Klußmann ist Sozialwissenschaftler aus Hamburg. Er ist unter anderem über den Twitter-Account @tweets_by_T zu erreichen.

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