Ursprungsmythen der Gegenwart

Einführung

In der Evolutionspsychologie (EP) gibt es seit der Entstehung dieses Forschungszweigs Anfang der 1990er Jahre eine dominante Hauptrichtung, die weitreichende Vorannahmen über die Art und Weise macht, wie die Evolution den menschlichen Geist geformt hat. Sie betont dabei stark den adaptiven Aspekt evolutionärer Veränderung von Arten: EP-Forscher gehen zum Beispiel davon aus, dass die Evolution neuronale Mechanismen (sogenannte Module) in das menschliche Gehirn eingeschrieben hat, die Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen vorgeben, um damit bestimmte Probleme der Überlebenstauglichkeit und Reproduktion zu lösen. Aus dieser Perspektive ist es verführerisch, menschlicher Entwicklung eine Zielgerichtetheit zu unterstellen. Und wer dieses Ziel beziehungsweise diesen Zweck kennt, will ihm anscheinend auch dienen: Abweichler und Kritiker werden scharf angegriffen. Die EP feiert sich als die ultimative Integration der Natur- und Geisteswissenschaften oder generiert sich als die ultimative „wissenschaftliche“ Basis der Psychologie. Bekannte EP-Autoren wie Steven Pinker oder Richard Buss stehen für diese aggressive Form des Auftretens. Unser Autor Simon Roos stellt die rhetorischen Manöver dieses mainstreamings in der EP dar, das gekoppelt mit missionarischem Eifer auftritt (Seite 7).

Schwache Datenlage und Spekulationen

Eine weitere Annahme, die in der EP vorherrscht, geht von einer „Umwelt der evolutionären Anpassung“ aus, in der der heutige Mensch geformt wurde. Auf diesen weit zurückliegenden Zeitraum werden dann bestimmte moderne Vorstellungen, wie etwa die von einer Arbeitsteilung der Geschlechter, biologischer Familien oder gar von der Notwendigkeit der Großwildjagd, projiziert. Doch die archäologischen Funde sind spärlich, und selbst von den wenigen vorhandenen lassen sich kaum eindeutige Rückschlüsse auf das Leben und Bewusstsein der frühen Menschen ziehen. Im Interview mit der Archäologin Brigitte Röder geht es um diese schwache Datenlage, aber auch um die Spekulationen, die im soziobiologischen und evolutionärpsychologischen Kontext über das Leben der frühen Menschen angestellt werden. Nicht zufällig stimmen diese Spekulationen überein mit aktuell vorherrschenden Geschlechter- und Familienmodellen (Seite 10). Will man Spekulationen über die frühe menschliche Entwicklung mit Hilfe von Analogieschlüssen zu anthropologischen Studien untermauern, verläuft dies ebenfalls problematisch, wie Anthropologin Susan McKinnon in ihrem klar und präzise argumentierenden Buch „Neo- liberal Genetics“ zeigt. Sie zeichnet nach, wie die Tendenz der EP-Forscher, eigene kulturelle Vorstellungen von Geschlechterrollen und ökonomischen Verhältnissen unhinterfragt zu reproduzieren, einen selektiven Blick auf „kulturübergreifende“ Studien produziert. Der GID fragte sie, warum sie dieses Thema für wichtig hält (Seite 6). Die Hauptrichtung der EP folgt einem Modell der evolutionären Selektion, das sein Augenmerk vor allem auf das Individuum richtet. Alternativvorstellungen, die auch die Gruppe, das soziale Gefüge als Selektionsebene in den Fokus nehmen, wurden im Rahmen der Soziobiologie schon in den 1970er Jahren in den Hintergrund gedrängt.1 Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die vorherrschende Perspektive der EP dem Konzept des „egoistischen Gens” von Richard Dawkins entspricht.2 Um die kulturelle Vielfalt des menschlichen Lebens in den Allgemeingültigkeitsanspruch von soziobiologischen und evolutionärpsychologischen Ansätzen zu integrieren, wird oft das Konzept des ebenfalls von Richard Dawkins ins Spiel gebrachten „Mems“ verwendet. Meme werden quasi als das kulturelle Pendant zu den Genen gedacht: Ein „Mem“ ist eine Gedankeneinheit, die sich durch Kommunikation ihrer Träger vervielfältigt. Autorin Shirin Moghaddari untersucht die Funktion der Meme im soziobiologischen Diskurs (Seite 14). Besonders auffallend an der EP ist ihre Expansionsdrang. Beispielsweise versuchen die EP-ForscherInnen, ihren Einfluss auf das Studium frühkindlicher Entwicklung über Ökonomie bis hin zur Gesetzgebung auszudehnen. Exemplarisch betrachtet Uwe Wendling die Annäherung von EP und Marketing. Die Attraktivität ist klar: Marketing bietet sich für EP-Forscher an, weil sich eine möglichst genaue Beschreibung menschlichen Entscheidens und Handelns in diesem Feld ziemlich direkt in Geld umwandeln lassen könnte. Funktioniert das? (Seite 18) Dass es in der EP um Fragen geht, die für uns alle von Interesse sind, ist offensichtlich, denn mit ihr wird nichts Geringeres als der Versuch unternommen, menschliches Verhalten zu erklären: „Was ist der Mensch?“ Es handelt sich um eine Wissenschaft, die unseren Alltag und unsere (Welt)wahrnehmung betrifft. Kein Wunder, dass sie heiß diskutiert wird und dass in ihrem Umfeld eine ganze Reihe sozialer und politischer Interessen aufeinanderprallen. Für einen Science-Fiction-Schriftsteller wie Kim Stanley Robinson sind das inspirierende Themen. An die Erzählungen der soziobiologischen und evolutionspsychologischen Forscher knüpft er mit einer eigenen Vision vom „guten Leben“ an. Gleichzeitig hat er ein feines Gespür für die Fallstricke der mangelnden wissenschaftlichen Selbstreflexion entwickelt (Seite 20).

Zwischen fantasierten Genen und der Black Box des Bewusstseins

Dieser Schwerpunkt versucht, EP als eine Erzählung darzustellen, die die Welt gleichzeitig beschreibt und sie verändert. Es gibt den Wunsch, den Menschen zu erklären und zwar in einer Form, die dem Status quo Sinn gibt. Es ist, wie es ist, weil Männer Jäger waren und Frauen Sammlerinnen. Geschlechterunterschiede sind wichtig. Die eigene Vorstellung von der Ordnung der Dinge drängt sich in die Lücke, die sich zwischen dem Bild von den Genen und unserer komplexen Welt auftut. Schon die Soziobiologie ist an der wissenschaftlichen Lücke zwischen dem Konzept von den Genen und beobachtbaren Phänomenen des (menschlichen) Lebens an dem unreflektiert einfließenden persönlichen und kulturellen Hintergrund gescheitert. Die EP setzt nun noch einen drauf: Zwischen fantasierten Genen und der Black Box des menschlichen Bewusstseins werden gerade Linien gezogen, mit denen das bestätigt wird, was wir schon immer wussten: Der Mensch ist schlecht (weil reproduktiv egoistisch), was aber nichts ausmacht, weil er ja nicht anders kann (weil genetisch determiniert); Männer und Frauen sind extrem unterschiedlich (die EP behandelt Männer und Frauen wie zwei getrennte Spezies) und Schwule und (vor allem) Lesben gibt es eigentlich gar nicht (weil bei ihnen Sex und Reproduktion getrennt verlaufen). Wie könnte eine angemessene Erforschung der evolutionären Geschichte menschlichen Bewusstseins aussehen? Jedenfalls bescheidener und selbstreflexiver als bisher: Wenn ein Wissenschaftsfeld wie die EP so stark dazu neigt, dass sich darin das Selbstbild der ForscherInnen mit den Wissensinhalten vermischt, dann ist dringend kritische Selbstreflexion eigener Beweggründe gefragt. Evolution ist ein historischer Vorgang und entzieht sich deshalb der Erforschung durch die experimentelle Wissenschaft. Ein Teil der Begeisterung darüber, mit der EP endlich „den Menschen" erklären zu können, rührt sicher von dem Freiraum für Spekulationen her, den diese „Unschärfe" eröffnet. Es bleibt eine Herausforderung, diesen Raum nicht mit unreflektierter Selbstvergewisserung aufzuladen. Mit dem vorliegenden Schwerpunkt hinterfragen wir die vorherrschenden Metaerzählungen der soziobiologischen und evolutionsbiologischen Forschungen.

  • 1Siehe auch D. S. Wilson: Evolution, morality and human potential. In: Evolutionary Psychology: alternative approaches, hg. Scher u. Rauscher, 2003.
  • 2Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Berlin 1978.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
206
vom Juli 2011
Seite 3 - 5

Die GID-Redaktion

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