Rezension
Durch Selektion zur Utopie?
Alarmiert von einer scheinbaren „Degeneration“ der Bevölkerung, engagierten sich WissenschaftlerInnen1 und PolitikerInnen um 1900 für eine eugenische Bevölkerungspolitik. Neben zumeist konservativen bis rechten AkteurInnen, warben auch SozialistInnen für die Lenkung und Kontrolle menschlicher Fortpflanzung. In ihrem Buch „Eugenik und Sozialismus, Biowissenschaftliche Diskurse in den sozialistischen Bewegungen Deutschlands und Großbritanniens um 1900“ zeichnet Birgit Lulay deren sozialistische und frauenemanzipatorische Positionen sorgfältig nach. Dabei gelingt es ihr zeitgenössische Denkmuster nachvollziehbar darzustellen, ohne deren sozial-chauvinistischen und be_hindertenfeindlichen Charakter zu relativieren. In neun gut strukturierten Kapiteln rekonstruiert sie, wie genetische Selektion im Denken prominenter SozialistInnen zur Voraussetzung gesellschaftlicher Utopien avancierte. Die Lektüre ermöglicht ein Verständnis dafür, wie und warum ihr Streben nach Gleichheit mit eugenischen (Zwangs-)maßnahmen in Einklang gebracht werden sollte. Vor allem hinterlässt sie aber die Gewissheit, dass emanzipatorische Politik niemals auf der Trennung von „wertvollem“ und „wertlosem“ Leben fußen kann. Das Buch ist damit für eine Auseinandersetzung mit gegenwärtiger Sozial- und Reproduktionspolitik ebenso bereichernd wie für eine historische Auseinandersetzung mit angrenzenden Forschungsbereichen, zu denen Lulay Querverbindungen aufzeigt.
➤ Birgit Lulay (2021): Eugenik und Sozialismus, Biowissenschaftliche Diskurse in den sozialistischen Bewegungen Deutschlands und Großbritanniens um 1900. 402 Seiten, Franz Steiner Verlag, 68,- Euro, ISBN: 978-3-51513-042-4.
- 1Anm. (1): An dieser Stelle wird absichtlich mit Binnen-I gegendert, da das gendern mit * eine Verzerrung historischer „Fakten“ und Wahrnehmungen darstellen würde.
Kena Stüwe studiert Geschichtswissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin. In ihrem Studium und in ihrem politischen Engagement arbeitet sie zu repressiven Elementen von Staatlichkeit und zu emanzipatorischer Politik.
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