Kurz notiert – Mensch und Medizin
Genomforschung
Sog. Nutrigenomik ohne Evidenz
Obwohl laut einer deutschen Umfrage von 2020 fast 70 Prozent der Befragten an den Nutzen genbasierter Ernährungsempfehlungen glauben, sagen wissenschaftliche Studien dazu bisher das Gegenteil. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler*innen der TU München, die in einem Übersichtsartikel die Forschung im Bereich der sogenannten Nutrigenomik der letzten 20 Jahre zusammengefasst haben. Obwohl es inzwischen vielfältige kommerzielle Gentestangebote gibt, fehlen immer noch die Belege für den Erfolg von genbasierten Diät-Tipps. Für die Optimierung von personalisierter Ernährung empfehlen die Autor*innen stattdessen die Verwendung von Messgrößen wie Blutzucker, Instrumente zum Selbsttracking und Biomonitoring, sowie Algorithmen, die auf künstlicher Intelligenz basieren. (Molecular Nutrition Food Research, 29.07.22, www.doi.org/10.1002/mnfr.202200077; Ärzteblatt, 09.09.22, www.aerzteblatt.de) (ib)
Gentherapie gegen Hämophilie
Der Gemeinsame Bundesauschuss (G-BA) verlangt vom Hersteller einer neuen Gentherapie namens Etranacogene Dezaparvovec zur Behandlung der Hämophilie B (auch Bluterkrankheit genannt) eine anwendungsbegleitende Datenerhebung nach Markteintritt in Deutschland. Es liegen zwar schon Ergebnisse zur Wirksamkeit der Therapie vor, in den entsprechenden Studien wurde jedoch kein Vergleich mit einer Behandlungsalternative oder einer anderen Kontrolle durchgeführt. Etranacogene Dezaparvovec wird derzeit von der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA evaluiert. Der Wirkstoff gilt als Orphan-Arzneimittel, da die Erkrankung so selten ist; er konnte daher ein vereinfachtes Zulassungsverfahren durchlaufen. Bei der Therapie soll ein künstliches Adenovirus ein funktionales Gerinnungsfaktor-Gen in die Leberzellen einschleusen, um das defekte Gen der Patient*innen auszugleichen. In Studien konnte ein Großteil der Patient*innen nach der Behandlung auf die prophylaktische Infusion von künstlichem Gerinnungsfaktor verzichten. (G-BA, 05.08.22, www.g-ba.de) (ib)
Gentherapie gegen Krebs
Ein britisches Forscher*innenteam hat Herpesviren entwickelt, die Tumore von Krebspatient*innen bekämpfen. Die genetisch veränderte Version des Lippenherpesvirus namens RP2 wurde bei 39 Patient*innen direkt in Tumore gespritzt, nachdem andere Therapien nicht anschlugen. Die Viren sollten sich in den Tumorzellen vermehren und sie zerstören. Sie sind zudem genetisch so verändert, dass sie das Immunsystem dazu anregen sollen, Krebszellen anzugreifen. Bei drei von neun Patient*innen die nur mit RP3 behandelt wurden, schrumpften die Tumore, bei einem Patienten verschwand der Tumor komplett. Bei sieben von 30 Patient*innen, die auch ein Immuntherapeutikum erhielten, blieben die Tumore gleich groß oder schrumpften. Die Studie enthielt keine Kontrollgruppe. (PET, 03.10.22, www.progress.org.uk) (ib)
Reproduktionsmedizin
Schweiz: Zulassung der „Eizellspende“ auf den Weg gebracht
Mit einer knappen Mehrheit von nur zwei Stimmen hat nun auch der Ständerat in seiner Septembersitzung grünes Licht für die Zulassung der „Eizellspende“ in der Schweiz gegeben. Mit der Annahme der nationalrätlichen Kommission erhält der Bundesrat den Auftrag „eine gesetzliche Grundlage zu schaffen und deren Rahmenbedingungen festzulegen, um die Eizellenspende für Ehepaare zu ermöglichen, bei welchen der Unfruchtbarkeitsgrund bei der Frau liegt“. Im weiteren Verlauf soll der Bundesrat auch eine „Roadmap“ erstellen, die wichtige Fragestellungen zum Eizelltransfer aufzeigt. Der Bundesrat soll dem Parlament außerdem laufend über den Stand der Gesetzesarbeit berichten. Die kontroverse Debatte, die nach der zuständigen Kommission nun auch im Ständerat selbst geführt wurde, zeigt Problematiken auf, die mit dem Verfahren einhergeht. Thematisiert wurde vor allem die Verfügbarkeit von Eizellen, die Gefahr der Ausbeutung potenzieller „Eizellspender*innen“ sowie die medizinischen Risiken, die für alle Beteiligten am reproduktionsmedizinischen Verfahren bestehen. (Siehe „Schweiz: Anhörung zur „Eizellspende“ zeigt Komplexität auf“ unter Kurz notiert, GID 262, S.28; Ständerat, 13.09.22, www.parlament.ch; PM biorespect, 13.09.22, www.biorespect.ch) (gp)
Frankreich: Recht auf Kenntnis der genetischen Herkunft
Menschen, die mit Hilfe von Ei- oder Samenzellen Dritter entstanden sind, können zukünftig leichter auf Informationen über ihre „Spender*innen“ zugreifen. Das neue Gesetz sieht vor, dass „Spender*innen“ ab sofort vor der Abgabe von Keimzellen einwilligen müssen, dass ihre Identität mitgeteilt wird, falls aus ihren Keimzellen entstandene erwachsene Kinder diese erfragen. Bereits heute erwachsene, aus anonymen „Spenden“ entstandene Kinder sollen auf Wunsch dabei unterstützt werden, mehr über ihre genetische Herkunft zu erfahren. Allerdings haben Personen, die in der Vergangenheit Keimzellen abgegeben haben, das Recht die Offenlegung ihrer Identität zu verweigern. Le Monde verweist bezüglich des zu erwartenden „Spendeverhaltens“ auf Entwicklungen in Schweden und Großbritannien: Als dort die Keimzellabgabe nicht länger anonym möglich war, gingen die Zahlen der „Spender*innen“ zunächst zurück, stiegen nach einiger Zeit jedoch wieder an. Interessenvertretungen von sog. Spenderkindern begrüßen die Entscheidung. (Le Monde, 01.09.22, www.lemonde.fr) (ts)
Datenschutz
Forschungsdaten aus der Klinik
Zukünftig sollen Forschende in Deutschland Zugang zu Gesundheitsdaten aus der Universitätsmedizin über das Deutsche Forschungsdatenportal Gesundheit (FDPG) erhalten. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 300 Mio. Euro geförderte Medizininformatikinitiative (MII) will Patient*inneninformationen aus der Klinik mit Forschungsdaten und Biobankdaten vernetzen, um Forschung und Behandlung von Patient*innen zu verbessern. Auf der MII-Webseite werden Patient*innen „maßgeschneiderte Therapien“ und ein „breiter Nutzen für die Allgemeinheit“ versprochen. Genetische Daten würden durch ein besonderes Pseudonymisierungsverfahren geschützt. Die Autor*innen räumen jedoch ein, dass genetische Daten durch ihre hohe Individualität „einfacher als andere medizinische Daten der zugehörigen Person oder gar einem Blutsverwandten zugeordnet werden, selbst wenn die Daten ohne direkt identifizierende Daten wie etwa Namen oder Adressen vorliegen“. In einer ersten Testphase können Forscher*innen der MII-Standorte anfragen und Anträge auf Datenverwendung stellen. Nächstes Jahr soll der Kreis der Berechtigten ausgeweitet werden. Später sollen auch Datenbestände aus dem ambulanten und regionalen Bereich sowie von Krankenkassen und medizinischen Registern eingebunden werden. (Ärzteblatt, 05.10.22, www.aerzteblatt.de; PM MII, 05.10.22, www.medizininformatik-initiative.de) (ib)
Informationsarme DNA-Marker
Die in der Strafverfolgung und Forensik genutzten DNA-Analysen zur Erstellung von DNA-Profilen enthalten neben der Identität und Verwandtschaft einer Person wenig zusätzliche Informationen. Das schreiben Wissenschaftler*innen der chinesischen Nanjing Medical University, die getestet haben, ob aus sog. Short Tandem Repeat (STR)-Markern Vorhersagen über die Gesichtsform oder die engere geografische Herkunft von Menschen innerhalb Chinas möglich sind. STRs sind kurze, sich wiederholende DNA-Sequenzen, die sich zur Unterscheidung von Individuen eignen und keine Informationen über den Aufbau von Proteinen enthalten. Aus Datenschutzperspektive werden STRs aufgrund ihrer „Informationslosigkeit“ zu Identifikationszwecken als geeignet eingeschätzt. Allerdings gilt das nicht immer. STRs auf dem Y-Chromosom werden routinemäßig genutzt, um Vorhersagen über die kontinentale Abstammung von Personen zu machen. (Forensic Science International, Juni 2022, www.doi.org/10.1016/j.forsciint.2022.111311) (ib)
Kritik an DNA-Phantombild
Die Polizei im kanadischen Edmonton, Hauptstadt der Provinz Alberta, hat sich für die Veröffentlichung eines „genetischen Phantombilds“ entschuldigt. Die Behörde hatte die Firma Parabon NanoLabs damit beauftragt, anhand der DNA-Spur eines gesuchten Vergewaltigers dessen Aussehen und Herkunft vorherzusagen. Die Polizei veröffentlichte das resultierende computergenerierte Bild eines Schwarzen Mannes mit kurzen Haaren und schrieb die Person hätte eine ostafrikanische Abstammung. Nachdem das Bild in den sozialen Medien als rassistisch kritisiert wurde, entfernten die Verantwortlichen es wieder von der Webseite. Polizeisprecher Enyinnah Okere übernahm Verantwortung für die Fehlentscheidung, das Bild zu veröffentlichen. Er hätte den pauschalisierenden Effekt, den ein sehr unspezifisches Phantombild innerhalb einer rassifizierten Gesellschaft haben könne, nicht angemessen berücksichtigt. Der Schwarze Anwalt Idowu Ohioze forderte gegenüber CBS News Transparenz darüber, warum die Firma Parabon mit der Erstellung der wissenschaftlich fragwürdigen Profilerstellung beauftragt wurde. Er glaube die Behörde hätte die Akzeptanz der Technologie in der Bevölkerung austesten wollen, so Ohioze. (CBC News, 06.10.22 und 07.11.22, www.cbc.ca) (ib)
Fragwürdige Terminvergabe-Software
Die Organisation Algorithmen Watch (AW) skandalisiert die Zusammenarbeit der Berliner Landesregierung und dem Unternehmen Doctolib für die Vergabe von Corona-Impfterminen. Der Berliner Senat hatte erst nach einer Klage der Organisation FragDenStaat den Vertrag und Dokumente zum Vergabeverfahren öffentlich gemacht. Aus diesen geht hervor, dass Doctolib – im Gegensatz zu anderen Anbietern – seinen Dienst für 0,- Euro angeboten hatte und deshalb den Zuschlag bekam. Doch um einen Impftermin zu buchen, mussten Berliner*innen sich auf der Plattform registrieren. Mit der Registrierung schlossen die Nutzer*innen einen separaten Vertrag mit Doctolib ab, in dem sie der weiteren Nutzung ihrer Daten zustimmten. 2021 erhielt die Firma den Big Brother Award u.a. für ihre systematische Missachtung der ärztlichen Vertraulichkeit bei der Verarbeitung von Patient*innendaten. (Siehe „Doctolib erhält BigBrotherAward“ unter Kurz notiert, GID 258, S.29; AW, 09.09.22, www.algorithmwatch.org) (ib)
Forschungsprojekt „Datenschutz nicht inbegriffen“
Menstruations- und Schwangerschaftsapps sammeln höchst sensible Daten und geben diese teils an Werbetreibende und Datenhandelnde weiter. Dies geht aus einem Forschungsprojekt der Mozilla Foundation hervor. Mozilla bezeichnete die Ergebnisse als „düster“ und kritisiert, dass die meisten der untersuchten Apps keinen ausreichenden Datenschutz böten. 18 der 25 untersuchten Apps und Gadgets bekamen vom Forschungsteam ein „Warn-Label“, da die Unternehmen beispielsweise Nuter*innendaten verkaufen, Daten ohne Relevanz sammeln, keine Auskunft über die Speicherungsdauer der Daten geben oder Nutzer*innen die Daten nicht löschen können. Auch wurde geprüft, inwieweit die Daten beispielsweise durch Verschlüsselung oder das Einfordern starker Passwörter geschützt wurden. Anlass für das Forschungsprojekt sei die Entscheidung des US-amerikanischen Supreme Courts, Roe vs. Wade zu kippen, teilte Projektleiterin Caltider mit. Das Forschungsteam teilt die bereits vielfach geäußerten Bedenken, die App-Daten könnten zu Strafverfolgungszwecken in Staaten mit einer restriktiven Gesetzgebung bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen genutzt werden. Als sicher eingestuft wurde die Gesundheitsapp Euki. Zwar nicht in die Studie einbezogen, aber ebenfalls als datenschutzfreundliche App gilt die Menstruationsapp drip, die von einer feministischen Coder*innen-Gruppe aus Berlin entwickelt wurde. (Siehe „USA: Warnung vor Menstruations-Apps“ unter Kurz notiert, GID 262, S.29; netzpolitik.org, 23.08.22, www.netzpolitik.org) (ts)
Schwangerschaft
Interfraktionelle Gruppe zu Pränataldiagnostik
Wie schon in der letzten Legislaturperiode hat sich im Bundestag eine interfraktionelle Arbeitsgruppe zur Pränataldiagnostik gegründet. Mitglieder sind acht Abgeordnete der Fraktionen von CDU, CSU, FDP, SPD, Linken und GRÜNEN. Die Gruppe steht der Erstattung des Nicht-invasiven Pränataltests (NIPT) auf Trisomien kritisch gegenüber. Sie halten das Thema weiterhin für aktuell, in der Erwartung, dass weitere Tests auf genetische Dispositionen in der Entwicklung seien und vor der Zulassung stünden. Dementsprechend sei die Debatte um vorgeburtliche genetische Tests trotz des feststehenden Beschlusses für die Kassenfinanzierung des NIPT auf Trisomien längst nicht am Ende. Bezüglich des Praxisstarts des kassenfinanzierten Trisomie-Bluttests am 01. Juli 2022 erklärten die Abgeordneten der Arbeitsgruppe: „Uns eint die Überzeugung, dass das pränatale Screening auf Trisomie 21, 18 und 13 und andere auf keinen Fall zur Routine in der Schwangerschaft werden darf.“ Was konkret die interfraktionelle Gruppe unternehmen wird, um das Thema auf die politische Agenda zu setzen, bleibt abzuwarten. (Ärzteblatt, 28.07.22, www.aerzteblatt.de) (ts)
NIPT-Erfinder gewinnt Forschungspreis
Professor Yuk Ming Dennis Lo wurde mit dem Lasker-DeBakey Clinical Medical Research Award 2022 für die Entdeckung zellfreier fetaler DNA im Blut der schwangeren Person ausgezeichnet. Die Forschungserkenntnisse des Molekularbiologen von der Chinese University of Hong Kong bildeten die Grundlage für die Entwicklung der Nicht-invasiven Pränataltests (NIPT), mit denen vorgeburtlich Wahrscheinlichkeiten für genetische Eigenschaften des Fötus herausgefunden werden können. Lo entwickelte das Analyseverfahren zur Detektion genetischer Marker für das Down-Syndrom. Der Wissenschaftler sagte im Rahmen der Preisverleihung, er sei erfreut, dass der NIPT sich seit seiner Markteinführung 2011 zu einem Versorgungsstandard entwickelt habe. Auf der Homepage der Lasker Foundation heißt es, Lo habe Millionen von Frauen vor einem Verfahren bewahrt, das mit einem Fehlgeburtsrisiko verbunden ist (gemeint ist die Fruchtwasseruntersuchung), er habe eine medizinische Revolution angestoßen, deren Auswirkungen weit über die Detektion von chromosomalen Normabweichungen hinausreiche. (PET, 03.10.22, www.progress.org.uk; Lasker Foundation, o.D., www.lasker
fondation.org) (ts)
Neues NIPT-Labor pünktlich zum Kassenstart
Eurofins eröffnete im Juli 2022 ein zweites Labor zur NIPT-Analyse in Matinsried bei München. Der Hersteller des PraenaTests hebt in seiner Pressemitteilung den Zusammenfall der Laboreröffnung und des „10. PraenaTest-Jubiläums“ sowie die Kassenzulassung des NIPT für die Trisomien 13, 18 und 21 seit Juli 2022 hervor. 2010 startete LifeCodexx als Start-Up-Labor in Konstanz. Seit 2018 ist es Teil der Eurofins Laborgruppe. Der von LifeCodexx bereits 2013 gestellt Antrag beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) initiierte das Verfahren, an dessen Ende die Entscheidung für die Kassenfinanzierung des Bluttests auf Trisomien stand. Auch mit dem zweiten NIPT-Labor wolle das Unternehmen die Entwicklung im Bereich der Pränataldiagnostik weiter prägen. Seit der Einführung von Europas erstem NIPT wurden in Deutschland mehr als 360.000 PraenaTest-Analysen durchgeführt. (Industrie-Contact AG, 19.07.22, www.presse.
industrie-contact.de) (ts)
Stammzellforschung
Stammzelltherapie für ALS
Ärzt*innen des Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles (USA) haben die Ergebnisse einer ersten Sicherheitsstudie für eine Therapie vorgestellt, die auf der Transplantation von genetisch veränderten Stammzellen in das Rückenmark basiert. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine nicht heilbare Erkrankung von Motorneuronen, die durch Lähmungen und Muskelschwäche im Durchschnitt innerhalb von drei bis fünf Jahren zum Tod der Betroffenen führt. In der Studie wurden fötale Stammzellen so verändert, dass sie den neuronalen Wachstumsfaktor GDNF produzieren. Wegen der Blut-Hirn-Schranke ist es nicht möglich, Patient*innen GDNF über Infusionen zu verabreichen, um das Wachstum von Nervenzellen anzuregen. Bei 13 der 18 behandelten Patient*innen produzierten die transplantierten Zellen wie gewünscht GDNF. Die Ärzt*innen bewerteten die Behandlung insgesamt als sicher, fünf Patient*innen berichteten jedoch sechs Monate später noch von starken Schmerzen. Da die Transplantation einseitig erfolgte, wurde die Muskelkraftabnahme beider Beine verglichen. Zum Teil konnte eine positive Wirkung der Behandlung gemessen werden, trotzdem starben 13 Patient*innen während des Beobachtungszeitraums an den Folgen von ALS. (Nature, 05.09.22, doi.org/10.1038/s41591-022-01956-3; PET, 12.09.22, www.progress.org.uk) (ib)
Gehirnentwicklung wird kartiert
Eine Gruppe von Forschenden der ETH-Zürich züchtete am Departement Biosysteme in Basel aus Stammzellen menschliches gehirnähnliches Gewebe. Sie kartierten die Zelltypen, die in verschiedenen Hirnregionen vorkommen, sowie die Gene, die deren Entwicklung regulieren. Pluripotente Stammzellen können so programmiert werden, dass sie sich zu jeder beliebigen Körperzelle entwickeln, auch zu Nervenzellen. Mithilfe eines CRISPR-Cas-Systems schalteten die Forschenden in jeweils einer Zelle gezielt ein Gen aus. In den hergestellten „Organoiden“ mehrere Gene gleichzeitig. So konnten sie herausfinden, welche Rolle die jeweiligen Gene bei der Entwicklung spielten. Das Verfahren soll bei der Erforschung von Entwicklungsstörungen oder Nervenerkrankungen helfen. Die Erforschung des Gehirns, insbesondere welche Gene und molekularen Schalter dessen Entwicklung regulieren und lenken, ist nicht ganz einfach. Bislang wurden vor allem Tiermodelle, meist Mäuse, verwendet. Allerdings ist das Mäusegehirn anders aufgebaut, als das menschliche. Auch Zellkulturen führten bisher nicht zu weiterführenden Ergebnissen. Die Forschung an Organoiden aus menschlichem Zellmaterial hat den Vorteil, dass die Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind. (Nature, 05.10.22, www.doi.org/10.1038/s41586-022-05279-8; ETH-Zürich, 07.10.22, www.ethz.ch) (gp)
Corona
Entscheidungen über Leben und Tod
Am 10.10.2022 legte die Bundesregierung einen Entwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) vor, mit dem Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung im Fall einer pandemiebedingten Triage verhindert werden sollen. Damit reagiert der Gesetzgeber auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2021, wonach auch bei pandemiebedingter Knappheit von Intensivressourcen wie Intensivbetten oder Beatmungsgeräten die im Grundgesetz verankerte Schutzpflicht greifen muss. Der Gesetzesentwurf sieht Kriterien vor, die eine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung verhindern sollen. Es soll nur nach aktueller kurzfristiger und nicht nach langfristiger Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden werden. Vorgesehen sind ein Mehraugenprinzip, eine Dokumentationspflicht in Krankenhäusern und die Streichung der Ex-Post-Triage. Ex-Post-Triage meint den Abbruch einer vielversprechenden Behandlung einer erkrankten Person zugunsten einer anderen erkrankten Person mit höherer kurzfristiger Überlebenswahrscheinlichkeit. Die Kriterien wurden von vielen Verbänden in Stellungnahmen und bei der Anhörung im Ausschuss für Gesundheit am 19.10.2022 positiv bewertet, jedoch gäbe es noch Verbesserungsmöglichkeiten, da eine reine Objektivität noch nicht sichergestellt sei. Seitens ärztlicher Verbände gibt es Kritik an dem Entwurf. Er würde personelle Kapazitäten missachten und Ärzt*innen hätten bei Entscheidungen Sorgen um die rechtliche Sicherheit, was zu einer Zusatzbelastung führen könne. Kritisiert wurde zudem, dass Menschen mit Behinderung nur unzureichend in die Ausarbeitung des Gesetzes einbezogen wurden. Gerade vor dem Hintergrund, dass eine Verfassungsbeschwerde von Betroffenen der Auslöser für die Gesetzesreform war und dass Menschen mit Behinderung strukturellen Benachteiligungen im Gesundheitssystem ausgesetzt sind, sei dieses Versäumnis enttäuschend. Über die Anpassung des IfSG diskutiert und entscheidet der Deutsche Bundestag am 10.11.2022. (Siehe auch „Gesetzentwurf zur Triage“ unter Kurz notiert, GID 261, S.30; Ärzteblatt, 12.09.22, www.aerzteblatt.de; Bundestag, 19.10.22, www.bundestag.de) (lp)
Corona-Impfschäden
Die meisten Anträge auf staatlicher Anerkennung eines Corona-Impfschadens wurden abgelehnt. Von bundesweit 4.835 gestellten Anträgen seien 963 abgelehnt und 134 anerkannt worden, wie der MDR mitteilte. Journalist*innen hatten eine Umfrage bei den zuständigen Versorgungsämtern der Bundesländer gemacht. Die Ablehnungsgründe wurden nicht immer kommuniziert, in Sachsen habe es vor allem an fehlender Kausalität gelegen, so das Kommunalamt. Deutschlandweit haben Betroffene bereits mindestens 20 Klagen gegen Impfstoffhersteller eingereicht. Sie fordern Schadenersatz und Schmerzensgeld wegen schwerer Impfnebenwirkungen. Aufgrund einer 2020 vom damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn erlassenen Verordnung stehen ihre Chancen jedoch schlecht. Diese setzte die im Arzneimittelgesetz geregelte Gefährdungshaftung außer Kraft und Betroffenen müssen bei dem Hersteller Vorsatz oder Fahrlässigkeit nachweisen. (MDR, 05.10.22, www.mdr.de) (ib)
Psychische Belastung und Armut
Laut einer Analyse des AOK-Bundesverbandes haben Kinder aus ärmeren Familien psychisch stärker unter der Pandemie gelitten. Die AOK hatte zusammen mit dem Deutschen Jugendinstitut 3.000 Mütter von drei- bis zwölfjährigen Kindern nach deren gesundheitlichen Wohlbefinden befragt. 16 Prozent hatten von einer Verschlechterung der körperlichen Gesundheit und rund ein Drittel von einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit ihrer Kinder währen der Corona-Pandemie berichtet. Letzteres kam besonders häufig in Familien mit alleinerziehenden Müttern (44 Prozent) und geringem Haushaltseinkommen (51 Prozent) vor. (Ärzteblatt, 28.07.22, www.aerzteblatt.de) (ib)
Gesundheitssystem
Frühgeburten für Profite?
Deutschland hat eine der höchsten Frühgeburtsraten Europas. Erhebungen zu Beginn der Pandemie zeigten, dass fast neun Prozent aller Neugeborenen vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kamen. Neben gesundheitlichen Ursachen spielen aus Sicht der Krankenhäuser auch ökonomische Aspekte eine Rolle. Lange Liegezeiten von Schwangeren rentieren sich nicht. Darüber hinaus ist die medizinische Versorgung von Frühchen besser vergütet, als die von reif Geborenen. Daraus können finanzielle Anreize entstehen. Je früher die Geburt, je leichter das Neugeborene, je mehr Eingriffe nötig sind, desto mehr Geld bekommt die Klinik. Ärzt*innen kritisieren, der Wirtschaftlichkeitsdruck beeinflusse an vielen Kliniken inzwischen medizinische Entscheidungen. Es sei Praxis, dass Geburten aus finanziellen Gründen früher eingeleitet werden. Damit ist die Geburtshilfe und Neonatologie ein drastisches Beispiel für die negativen Auswirkungen des Fallpauschalensystems, dass seit seiner Einführung 2004 Klinikleitungen und damit auch das medizinische Personal unter Druck setzt. Eine Expert*innenkommission soll nun Vorschläge für eine Krankenhausreform erarbeiten, so hat es Gesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigt. Ob und wenn ja welche Alternativen zum aktuellen, viel kritisierten Fallpauschalensystem kommen werden, ist noch unklar. (Süddeutsche Zeitung, 05.09.22, www.sueddeutsche.de; ARD, 05.09.22, www.ard.de) (ts)
Sonstiges
Schweiz: Gentests – Revidiertes Gesetz tritt in Kraft
Das Gesetz über Genetische Untersuchungen am Menschen (GUMG) wurde in den letzten Jahren einer Revision unterzogen. Der Bundesrat hat am 23. September die zur Umsetzung nötigen Verordnungen verabschiedet. Somit tritt das revidierte Bundesgesetz zum 1. Dezember 2022 in Kraft. Mit dem neuen Gesetz werden auch Gentests außerhalb des medizinischen Bereiches erfasst. Damit sind alle sogenannten Direct-To-Consumer-Gentests, die im Internet oder in Drogerien, Fitnesszentren oder Apotheken angeboten werden, legalisiert. Die Gentests werden in verschiedene Kategorien eingeordnet und sollen je nach Eingriffstiefe oder Auswirkung unterschiedlich streng reguliert werden. Die Vernehmlassung (eine Phase im Gesetzgebungsverfahren der Schweiz; Anm. der Redaktion) hat gezeigt, dass es noch viele offene Fragen gibt und auch mit der Revision des Gesetzes viele kritische Punkte ungeklärt bleiben. So wird der Arztvorbehalt für die Veranlassung von Gentests aufgeweicht. Der Zugang zu einer unabhängigen Beratung bleibt weiter unzulänglich und der Datenschutz bei leicht verfügbaren Gentests wird auch mit der neuen Regulierung nicht gewährleistet. (Bundesamt für Gesundheit (BAG), 26.09.22, www.bag.admin.ch) (gp)
GID-Redaktion
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