Kurz Notiert - Mensch & Medizin
Reproduktionsmedizin
Polygenetisches Embryo-Screening
Eine im Mai veröffentlichte Metastudie gibt – anhand der im Zeitraum von 2003 bis 2024 zum Thema erschienenen Fachartikel – einen Überblick zu polygenetischem Embryo-Screening und soll Praktiker*innen und politischen Entscheidungsträger*innen als Orientierung dienen. Anders als Screening-Verfahren, die nach bestimmten, sog. monogenetisch bedingten Abweichungen suchen, bei denen eine Genvariante Krankheitssymptome auslöst, wird hier das gesamte Genom nach Hunderten, Tausenden z. T. Millionen von Genvarianten ausgelesen. Die Methode ermöglicht theoretisch, das Risiko für polygenetisch bedingte Erkrankungen wie Brustkrebs, Bluthochdruck oder Diabetes vorauszusagen. Neben einer Sachstandsanalyse diskutiert das Papier auch mögliche Chancen und Risiken sowie ethische Fragen. (Human Reproduction Update, 28.05.24, www.doi.org/10.1093/humupd/dmae012) (jl)
UK: Studie zu Leihschwangerschaft
Britische Forschende haben die Einstellung zu Leihschwangerschaft in der Bevölkerung empirisch untersucht. In der repräsentativen Erhebung wurden 1.551 Personen befragt. Den Befragten wurden unterschiedliche Szenarien vorgelegt, d. h. verschiedene Paarkonstellationen und Ausgangslagen (z. B. Infertilität, Menschen, die bereits Kinder haben und solche ohne etc.) und unterschiedliche Arten, assistierte Reproduktion in Anspruch zu nehmen (bspw. eigene Spermien und eine fremde Eizelle, Leihschwangerschaft mit eigener Eizelle). Dabei fanden sie heraus, dass der Grad der genetischen Verwandtschaft weniger ausschlaggebend für die Akzeptanz dieser Verfahren ist, als die Sprache in der der Prozess der Familienwerdung beschrieben wurde. Und: die Inanspruchnahme von Leihschwangerschaften wird bei heterosexuellen Paaren eher akzeptiert. (Bioethical Inquiry, 29.03.24, www.doi.org/10.1007/s11673-024-10343-1) (jl)
Richtlinien zum Kinderschutz
Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) hat Richtlinien veröffentlicht, die das Kindeswohl im Bereich der Fortpflanzungsmedizin behandeln. Die Richtlinien sollen die Arbeit der Entscheidungsträger*innen erleichtern und zu einer rechtssicheren, einheitlichen und ethisch verantwortungsvollen Praxis beitragen. Zwar sei die Verwirklichung des Kinderwunsches eine höchstpersönliche Angelegenheit, sobald aber Dritte in die Zeugung und Austragung involviert sind, werden reproduktive Freiheiten und Rechte mit der öffentlichen Sphäre und damit dem Zugriff staatlicher Regulierung verknüpft. Die Kommission stellt fest, dass der Schutz des Kindeswohls innerhalb der Fortpflanzungsmedizin schwierig zu fassen ist, da er noch nicht geborene Kinder mit einschließt. Die medizinische Praxis ist mit weitreichenden Fragen konfrontiert. Wenn eine schwere Gesundheitsschädigung des Kindes droht, sehen die Richtlinien auch einen Verzicht auf eine fortpflanzungsmedizinische Behandlung als geboten, um eine unterstellte Gefährdung des Kindeswohls abzuwenden. (NEK, 19.06.24, www.nek-cne.admin.ch) (tp/gb)
IVF erhöht Leukämierisiko
Eine französische Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen In-vitro-Fertilisation (IVF) und einem leicht erhöhten Risiko, im Kindesalter an Leukämie zu erkranken. Für die Kohortenstudie wurden die Lebendgeburten der Jahre 2010 bis 2021 aus dem Mutter-Kind-Register sowie die Datensätze der nationalen Gesundheitsdatenbank herangezogen. Das allgemeine Krebsrisiko lag bei Kindern, die mithilfe assistierter Reproduktion zur Welt kamen, nicht höher als bei der Vergleichsgruppe herkömmlich gezeugter Kinder. Das Risiko für akute lymphatische Leukämie, die bei Kindern am häufigsten auftretende Krebserkrankung, war bei Kindern, die aus einem Embryotransfer hervorgegangen sind, erhöht. Aufgrund der geringen Fallzahl empfehlen die Forschenden ein weiteres Monitoring. (JAMA Network Open, 02.05.24, www.doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2024.9429; Ärzteblatt, 17.05.24, www.aerzteblatt.de) (jl)
Fortpflanzungsmedizingesetz: Verbände für Neuregelung
Nachdem die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission zu reproduktiver Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin im April ihren Bericht veröffentlichte, fordern medizinische Fachverbände auch weitere, von der Kommission nicht diskutierte Änderungen. Im Bericht wird ein grundsätzliches Verbot des Schwangerschaftsabbruchs als rechtlich nicht haltbar bewertet und auch eine Legalisierung von Eizelltransfer und Leihschwangerschaft unter bestimmten Bedingungen als möglich erachtet. Im Mittelpunkt der Verbandsforderungen steht der elektive Single-Embryo-Transfer (eSET), also die Auswahl des sich am besten entwickelnden Embryos nach In-vitro-Fertilisation. In anderen Ländern wird der eSET praktiziert, um Mehrlingsschwangerschaften zu vermeiden und trotzdem gute Schwangerschaftsraten zu erzielen. In Deutschland ist er derzeit nach dem Embryonenschutzgesetz verboten. (Ärzteblatt, 03.05.24, www.aerzteblatt.de) (jl)
Wissenschaftskritik
Wissenschaftsfreiheit angegriffen
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wollte prüfen, ob Hochschullehrenden als Reaktion auf die Unterzeichnung eines Offenen Briefs die Fördermittel gestrichen werden können. Rund 400 Dozent*innen hatten sich gegen die Räumung einer Pro-Palästina-Besetzung an der Freien Universität Berlin ausgesprochen. Der Brief sollte zudem auf strafrechtlich relevante Inhalte überprüft werden. Bereits im Mai hatte die Bundesministerin für Bildung und Forschung Stark-Watzinger in Sozialen Medien den Unterzeichnenden vorgeworfen, sie stünden nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Interne E-Mails belegen, dass BMBF-Mitarbeitende Bedenken gegen eine solche Prüfung hatten. Die Empörung der Wissenschafts-Community war groß: vielfach wurde der Rücktritt von Stark-Watzinger gefordert. Statt selber die Verantwortung zu übernehmen, reagierte sie am 16. Juni, indem sie die Entlassung ihrer Forschungsstaatssekretärin Sabine Döring ankündigte. (NDR, 11.06.24, www.ndr.de; nd, 26.06.24, www.nd-aktuell.de) (ib)
Ethische Probleme beim Humangenomprojekt
Neue Recherchen des Online-Magazins UNDARK haben vielfache Probleme im Umgang mit Proband*innen bei dem renommierten Forschungsvorhaben „Humangenomprojekt“ ans Licht gebracht. Das US-amerikanische Humangenomprojekt startete 1990 um innerhalb eines Jahrzehnts erstmalig ein komplettes menschliches Genom zu sequenzieren. Die Teilnehmenden willigten unter der Bedingung ein, dass nicht mehr als 10 Prozent ihrer DNA für die final veröffentlichte Sequenz verwendet werden würde. Diese sollte aus Datenschutzbedenken aus den Genomen verschiedener Personen zusammensetzt werden. Das fertige Genom stammt jedoch zu 75 Prozent von einer Person mit dem Pseudonym „RP11“ – unter Einverständnis der verantwortlichen Ethikkommission. Auch in anderen Aspekten brachte die Recherche von UNDARK unethisches Handeln ans Licht. Ein Grund dafür sei der große Erfolgsdruck gewesen, unter dem das Projekt durchgeführt wurde. (UNDARK, 09.07.24, www.undark.org) (lm)
Genomforschung
Gentherapie für Gehörlosigkeit
Erstmalig kann ein gehörlos geborenes Kleinkind nach einer Gentherapie hören. Das Kind wurde mit einer Genvariante für „auditorische Neuropathie“ geboren, bei der die Nervenimpulse auf ihrem Weg vom Innenohr zum Gehirn unterbrochen werden. Bei der von Regeneron Pharmaceuticals entwickelten Therapie DB-OTO wird eine funktionale Kopie des Gens OTOF mithilfe von Viren in das Innenohr eingebracht. An bis zu 18 Kindern aus den USA, GB und Spanien soll die Behandlung im Rahmen der CHORD-Studie getestet werden. Rund die Hälfte der Fälle von Gehörlosigkeit hat genetische Ursachen, Varianten im OTOF-Gen sind jedoch sehr selten. (The Guardian, 09.06.24, www.theguardian.com; CHORD-Studie, o.D., www.clinicaltrials.gov/study/NCT05788536) (ib)
„Führende Rolle“ für Deutschland
Im Juni übergab das Berlin Institute of Health (BIH) eine Nationale Strategie für gen- und zellbasierte Therapien an das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Rund 150 Expert*innen hatten laut Auftrag des BMBF an dem Papier gearbeitet und Vorschläge formuliert, um die Erforschung von Gen- und Zelltherapien (GCT) zu fördern. Deutschland hätte die Chance, eine führende Rolle in der Entwicklung von GCT zu übernehmen, so das Papier. Für die Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen sind im Zeitraum von 2023 bis 2026 Mittel des Bundes und vom Land Berlin in Höhe von 48 Millionen Euro eingeplant. Beide investieren auch in ein „Berlin Center for Gene and Cell Therapies“. Die Universitätsmedizin Charité Berlin und die Bayer AG stellten gemeinsame Pläne für eine „intensivierte Partnerschaft“ vor, die „Berlin national wie international an die Spitze dieser zukunftsweisenden Technologie“ bringen solle. (BIH, 12.06.24, www.bihealth.org; Ärzteblatt, 21.06.24, www.aerzteblatt.de) (ib)
Gesundheitssystem
Modellvorhaben Genomsequenzierung
Der Nutzen der Genomsequenzierung für die Patient*innenversorgung soll ab Juli dieses Jahres getestet werden. Durch die Genomdatenverordnung (GenDV), die ein Kernstück der Nationalen Strategie für Genommedizin ist, können über einen Zeitraum von fünf Jahren Genomsequenzierungen bei Betroffenen mit Krebs und seltenen Erkrankungen auf Kosten der gesetzlichen Krankenkassen zur Diagnose und Therapiefindung durchgeführt werden. Insgesamt 700 Millionen Euro wurden dafür veranschlagt. Vorbereitet wurde das Projekt von der Initiative genomDE. Laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) könne das Überleben von Krebsbetroffenen „damit signifikant verbessert werden“. Ob dies stimmt, soll nach fünf Jahren evaluiert werden. Die erhobenen klinischen und genetischen Daten der Patient*innen sollen öffentlich und privat beforscht werden. (genomDE, 09.07.24, www.genom.de; Bundesgesetzblatt 2024, Nr. 230 vom 11.07.24) (ib)
Behinderung
Neandertaler mit Trisomie21
Spanische Archäolog*innen haben bei einer Grabung in Cova Negra bei Valencia die Überreste eines Homo neanderthalensis mit Trisomie21 gefunden. Das Individuum soll bei seinem Tod sechs Jahre alt gewesen sein. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass die Forschung lange Zeit annahm, dass behinderte Kinder nicht von den Eltern oder der Gruppe versorgt sondern ausgesetzt wurden. Das Erreichen eines vergleichsweise hohen Alters (noch in den 1920er Jahren betrug die Lebenserwartung von Menschen mit Trisomie21 gerade einmal neun Jahre) spricht hingegen für elterliche Fürsorge und eventuelle Unterstützung durch den Rest der Gruppe. (Science Advances, 26.06.24, www.doi.org/10.1126/sciadv.adn9310; Ärzteblatt, 01.07.24, www.aerzteblatt.de) (jl)
Sonstiges
Verzögerte Nachbesetzung: Ethikrat nicht arbeitsfähig
Der Deutsche Ethikrat verfügt derzeit nur über vier Mitglieder und ist somit nicht arbeitsfähig. Eigentlich sollte der unabhängige Sachverständigenrat aus 26 Personen bestehen, bereits im April waren 20 Mitglieder turnusmäßig ausgeschieden. Die Mitglieder werden hälftig von Bundesregierung und Bundesrat vorgeschlagen und von dem*der Bundespräsident*in für vier Jahre berufen. Aktuell hakt es bei der Besetzung durch den Bundestag – der von der AfD-Fraktion vorgeschlagene Gynäkologe Ronald Weikl wurde abgelehnt, weil er während der Coronapandemie falsche Maskenbefreiungsatteste ausstellte. Die von den übrigen Fraktionen eingebrachten Vorschläge wurden angenommen, darunter die Soziologin Jutta Allmendinger, Psychologin Cornelia Betsch und Pflegewissenschaftlerin Annette Riedel sowie die Umweltethikerin Uta Eser und Genderwissenschaftlerin Ute Kalender, die auch mehrfach für den GID geschrieben hat. (Heute im Bundestag, 06.06.24, www.bundestag.de; Ärzteblatt, 12.06.24, www.aerzteblatt.de) (jl)
Xenotransplantationen
Beim erstmaligen Versuch, eine gentechnisch veränderte (gv) Schweineniere einem Diabetespatienten einzusetzen, verstarb dieser zwei Monate später im Mai dieses Jahres. Bei der Dialyse-Patientin Lisa Pisano am NYU Langone Health Krankenhaus in New York wurde gleiches probiert, doch ihre Niere musste nach 47 Tagen wieder entnommen werden. Ein 71 Jahre alter Mann in China ist der erste lebende Mensch, dem eine gv-Schweineleber transplantiert wurde – laut Berichten der Fachzeitschrift Nature bisher erfolgreich. Seit 2022 haben fünf Patient*innen Schweineorgane bekommen, von denen drei verstorben sind. In den letzten Jahren werden vermehrt riskante Experimente gewagt, nachdem die neue Gentechnologie CRISPR-Cas dem Forschungsfeld neuen Aufschwung verliehen hat. (STAT News, 31.05.24, www.statnews.com; Nature, 22.07.24, www.nature.com) (lm)
GID-Redaktion
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