Freifahrtschein oder Regulierung?
Überblick über die wichtigsten Argumente, Kritikpunkte und offenen Fragen
In der Debatte um neue Gentechnik-Verfahren wie CRISPR-Cas wird auf verschiedenen Ebenen kontrovers diskutiert. Nun hat die EU-Kommission die Türen für eine Deregulierung geöffnet. Warum sollte man dennoch an der Regulierung festhalten? Die wichtigsten Argumente, Kritikpunkte und offenen Fragen.

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Ende April 2021 bestätigte die EU-Kommission, dass auch Verfahren der neuen Gentechnik, wie z.B. CRISPR-Cas, Gentechnik sind und dem EU-Gentechnik-Recht unterliegen. Das Schutzniveau für Mensch, Tier und Umwelt sei auch bei diesen Techniken aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig sieht die EU-Kommission aber große Chancen darin, dass Produkte aus neuer Gentechnik zu einem nachhaltigen EU-Agrar- und Ernährungssystem beitragen und schnell klimaanpassungsfähige Sorten liefern könnten. Vor diesem Hintergrund sei das derzeit geltende EU-Gentechnik-Recht „nicht zweckmäßig“ und müsse angepasst werden.
Worum geht’s?
Die EU-Kommission schlägt nun vor, zukünftig nur noch transgene Organismen nach dem geltenden EU-Gentechnik-Recht zu regulieren. Alle weiteren Anwendungen der neuen Gentechnik, bei denen keine zusätzlichen Gene eingefügt werden, wären folglich unreguliert. Aktuell bezieht sich der Kommissions-Vorschlag nur auf Pflanzen – bei Tieren und Mikroorganismen gibt es noch zu wenige Erfahrungen. Praktisch wären damit 90 bis 95 Prozent der Pflanzen aus neuen Gentechnik-Verfahren, an denen aktuell geforscht wird, von der derzeitigen Regulierung ausgenommen. Diese gentechnisch veränderten (gv) Pflanzen würden keiner verpflichtenden Risikoprüfung und -bewertung unterliegen, sie würden kein Zulassungsverfahren durchlaufen. Es gäbe keine Rückverfolgbarkeit, keine Kennzeichnungspflichten und kein Monitoring mehr. Transparenz, Koexistenz- und Haftungsregelungen sowie Wahlfreiheit für Bäuer*innen und Konsument*innen wären passé. Das in der EU verankerte Vorsorgeprinzip würde so ausgehebelt. Während die Zivilgesellschaft und große Teile der Lebensmittelerzeugung eine starke Regulierung einfordern, gibt es auch aus wissenschaftlicher und juristischer Sicht gute Argumente für eine Regulierung.
Genauso sicher wie konventionell gezüchtete Pflanzen?
Die EU-Kommission behauptet, dass von Pflanzen, die mit bestimmten Anwendungen neuer Gentechniken erzeugt wurden, „keine neuen Gefahren“ gegenüber konventionellen Züchtungen oder den alten Gentechniken ausgingen und sie ein ähnliches „Risikoprofil“ hätten. Belege dafür führt sie nicht an. Diese Annahme ist strittig, vereinfacht und entspricht nicht dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Auch kleine Veränderungen, d.h. solche, bei denen keine zusätzlichen Gene eingefügt werden, könnten große Auswirkungen haben – auf Ebene des Stoffwechsels, der Organismen und der aufnehmenden Umwelt. Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) kommt in einer Stellungnahme zu dem Schluss, dass „Pflanzen, die sowohl durch gerichtete Mutagenese als auch durch Cisgenese erzeugt wurden, ein ähnliches, wenn nicht sogar größeres Risikopotenzial aufweisen als die bisher durch Gentechnik erzeugten Pflanzen.“1
Mit konventioneller Züchtung vergleichbar?
Pflanzen, die mit Hilfe der neuen Gentechniken erzeugt werden, sind nicht mit der konventionellen Züchtung (einschließlich Zufallsmutagenese) vergleichbar. Studien zeigen, dass die neuen Gentechniken Veränderungen in besonders geschützten Regionen des Erbguts erzeugen, die für bisherige Techniken nicht zugänglich waren. Mit ihnen können auch mehrere Gene gleichzeitig und auf allen Genkopien einer Pflanze verändert werden. Deshalb können die neuen Gentechnik-Verfahren die Eingriffstiefe in den Organismus erhöhen und tiefgreifendere Veränderungen im Erbgut ermöglichen als bisherige Verfahren.2 Zudem kann es durch die Verwendung der neuen Techniken, also durch den Prozess, zu unerwünschten Effekten kommen, und zwar sowohl am Zielort als auch an anderen Orten des Genoms (On- und Off-Target-Effekte).3 Die Techniken sind neu, es gibt bislang keine systematischen Risikountersuchungen. Zu behaupten, sie seien sicher, ist daher wissenschaftlich falsch und widerspricht dem Vorsorgeprinzip. Pauschal einzelne Anwendungen zukünftiger gv-Pflanzen aus der Regulierung auszunehmen oder deren Prüfanforderungen herabzusenken, ist nach aktuellem Wissensstand nicht gerechtfertigt.
Nicht nachweisbar – stimmt das?
Die Kommission schreibt, das Hauptproblem bei der Umsetzung des Gentechnik-Rechts seien fehlende Nachweisverfahren. Antragstellende Firmen könnten die Zulassungsvoraussetzung der Entwicklung eines Nachweisverfahrens nicht stemmen. Diese Pauschalisierung stimmt so nicht. Generell müssen zwei Ebenen unterschieden werden: Sofern die veränderte Gensequenz bekannt ist, ist es möglich, mit Hilfe etablierter Testmethoden, spezifische Nachweisverfahren zu entwickeln. Für den Raps aus neuen Gentechniken (NGT) von CIBUS hat der Antragsteller ein Nachweisverfahren bei den kanadischen Behörden eingereicht. Zudem haben verschiedene Organisationen in Europa eine spezifische Nachweismethode zur Identifizierung und Quantifizierung von CIBUS-Raps entwickelt. Dies zeigt, dass es den Entwickler*innen von Pflanzen aus neuer Gentechnik möglich ist, ein geeignetes Nachweisverfahren zur Verfügung zu stellen. Ein solches Testverfahren weist nicht nach, welche Technik zur gentechnischen Veränderung angewendet wurde. Dies verlangen die geltenden EU-Regeln jedoch auch gar nicht für einen rechtssicheren Nachweis eines GVO, so Rechtsanwalt Georg Buchholz.4
Anders ist es (noch), wenn die veränderten Gensequenzen nicht bekannt sind. Routineuntersuchungen z.B. bei Importen suchen in einem Screening-Verfahren nach Elementen, die häufig bei mehreren Gentechnikeigenschaften vorkommen. Nach einer solchen „Voruntersuchung“ wird dann das spezifische Event ermittelt. Gentechnik-Pflanzen, die diese „allgemeinen“ Elemente nicht haben, fallen bei einem Screening durch, wie z.B. die gv-Petunie, die jahrelang unentdeckt blieb. Dies ist also ein generelles Problem, was nicht speziell bei den NGT auftaucht. Da aber die neuen Verfahren auch spezifische Spuren bzw. Muster der Veränderung hinterlassen, ist es eine Frage der Zeit und des Willens, auch hier Methoden zu entwickeln. Vollzugsprobleme wie die Nachweisproblematik dürfen nicht instrumentalisiert werden, um damit eine Deregulierung der NGT zu begründen – sondern sie sind anzugehen. Bislang wurden laut EU-Kommission lediglich 1,6 Prozent der Forschungsgelder in Risikoforschung und Nachweisforschung investiert. Hier muss wesentlich mehr Geld investiert werden.
Zudem müssen internationale und europäische Register ausgebaut werden, in denen alle nötigen Informationen zur Entwicklung von Nachweisverfahren zur Verfügung stehen. Forschende und Anwender*innen von Gentechnik sollten verpflichtet werden, spätestens wenn sie NGT freisetzen, diese Daten zu veröffentlichen.
Schnell widerstandsfähige Pflanzen?
Ob mit CRISPR-Cas u.a. schnell Pflanzen erzeugt werden können, die anpassungsfähig an die Folgen des Klimawandels sind und ob diese dann auch auf dem Acker und in der Umwelt so funktionieren wie geplant, ist im Moment noch spekulativ.5 Es gibt kein „Klimaanpassungs-Gen“, das Zusammenspiel der Gene ist hochkomplex und Pflanzen haben sehr unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten auf die verschiedenen Klimabedingungen.6 Aktuell werden Funktionen einzelner Gene in der Grundlagenforschung erforscht, eine Entwicklung von NGT-Sorten ist noch nicht abzusehen. Sollten durch CRISPR-Cas z.B. trockentolerante Pflanzen erzeugt werden können, dann sind dies höchstwahrscheinlich gv-Pflanzen mit Veränderungen mehrerer Gene und einem Eingriff in komplexe Netzwerke. Wie diese auf Stressbedingungen auf dem Acker reagieren, ist unklar. In jedem Fall müssten diese reguliert werden. Vielversprechender ist es, Vielfalt in den Kulturen und in den Sorten zu entwickeln: Sortenmischungen oder heterogene Populationen, die aus einer breiten Vielfalt von Pflanzen mit unterschiedlichen Eigenschaften bestehen, verfügen über das Potenzial, biotische und abiotische Stressfaktoren besser abfedern zu können als homogene Sorten. Vielfältige und resiliente Ackerbausysteme können Humus aufbauen und Wasser halten. Solche konventionellen und ökologischen Züchtungen und Anbausysteme sind zu stärken und zu fördern.
Kann der Nutzen höher sein als das Risiko?
Die EU-Kommission will der Risikobewertung von NGT eine Bewertung des Nutzens „an die Seite stellen", um die Nachhaltigkeitspotenziale im Zulassungsverfahren zu berücksichtigen. Parallel erarbeitet sie einen Rechtsrahmen für nachhaltige Lebensmittelsysteme. Prinzipiell ist es ein richtiges Ansinnen, die Nachhaltigkeit von Produkten zu erforschen. Allerdings müssen dazu überprüfbare wissenschaftliche Kriterien und Bewertungsschemata entwickelt werden. Erforderlich sind systemische Ansätze unter Berücksichtigung des gesamten ökologischen, sozialen und ökonomischen Fußabdrucks. Eingereichte Daten müssen offen zugänglich sein, unabhängige wissenschaftliche Bewertungen eingeholt und berücksichtigt werden. In jedem Fall müssen die Nachhaltigkeits- und die Risikoprüfung voneinander getrennte Prüfvorgänge von unabhängigen Stellen sein. In keinem Fall kann mit einem angeblichen Nutzen von Produkten begründet werden, Risikoprüfungen abzuschwächen und pauschal Gruppen auszunehmen.
Zugang für alle vs. neue Patentierungswelle?
Recherchen zeigen, dass die neuen Gentechniken zu noch mehr Patenten führen. Einerseits gibt es immer mehr Patente auf die Verwendung der neuen Techniken. Hier dominiert Corteva (die Agrarsparte von Dow/DuPont). Sie haben einen Patent-Pool etabliert, der 2018 bereits rund 50 Patente umfasste. Wollen andere CRISPR-Cas-9 nutzen, kommen sie um Corteva nicht herum, so der Konzern. Dass die Technik „frei zugänglich“ sei, und auch kleinere Züchter*innen sie einfach nutzen könnten, ist also schon jetzt – knapp 10 Jahre nach der Entdeckung von CRISPR-Cas – nicht mehr der Fall. Zudem steigt die Anzahl angemeldeter Patente auf Nahrungsmittelpflanzen, die durch verschiedene neue Gentechnik-Verfahren erzeugt wurden.7 Auch hier dominieren die Konzerne wie Corteva und Bayer. Das ist höchst problematisch, weil durch Patente der Zugang zu genetischen Ressourcen – die Grundlage für weitere Züchtungen – eingeschränkt oder unmöglich gemacht wird. Dieser ist aber notwendig für die Herausforderungen der Zukunft.
Ausblick
Die Auseinandersetzung um die Gentechnik bleibt wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft – aber auch innerhalb der Bäuer*innenschaft. Denn eine Voraussetzung, um in Zukunft konventionelle und ökologische gentechnikfreie Landwirtschaft betreiben zu können, ist, dass die Techniken auch weiterhin streng reguliert werden. Den Erfolg der gentechnikfreien Bewegung, dass es in Europa und in vielen anderen Regionen der Welt fast gar keinen Gentechnik-Anbau gibt, gilt es zu sichern. Um wirksamen Klimaschutz und eine echte Nachhaltigkeit zu erreichen, gibt es Lösungen aus der konventionellen und ökologischen Züchtung und aus der Praxis von Bäuer*innen. Diese risikoärmeren und effizienten Lösungen müssen stärker gefördert und ausgebaut werden.
- 1BfN (15.10.2021): Zusammenfassung und Kernaussagen des Positionspapiers „New developments and regulatory issues in plant genetic engineering“. Online: www.kurzelinks.de/gid261-pz.
- 2Testbiotech (14.02.2022): Neue Erkenntnisse über Evolution bei Pflanzen. Online: www.kurzelinks.de/gid261-paa.
- 3Kawall, K. (2021): Neue Gentechnik – neue Risiken. In: CRISPR & CO. Neue Regulierung oder Freifahrtschein. Online: www.kurzelinks.de/gid261-pab.
- 4Hissting, A. (2021): Neue Gentechnik-Produkte sind nachweisbar. Illegale Importe stoppen. In: CRISPR & CO. Neue Gentechnik – Regulierung oder Freifahrtschein? Online: www.kurzelinks.de/gid261-pac.
- 5Gelinsky, E. (2022): Blutdrucksenkende Tomaten & ballaststoffreicher Weizen? Seite 26 in dieser Ausgabe.
- 6Kawall, K. (2021): Mit den neuen Gentechnikverfahren dem Klimawandel trotzen? In Kritischer Agrarbericht 2021. Online: www.kurzelinks.de/gid261-pad.
- 7Testbiotech (2021): Neue Gentechnik und Nutzpflanzen: Disruptive Einflüsse von Patenten auf Zuchtunternehmen, Lebensmittelproduktion und die politische Debatte. Online: www.kurzelinks.de/gid261-pae. [Letzter Zugriff Onlinequellen: 20.04.22]
Annemarie Volling ist Mitarbeiterin der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) und dort zuständig für die Sicherung der gentechnikfreien Landwirtschaft sowie Saatgut und Patente.
CRISPR-Cas
Die Verfahren der CRISPR-Cas-Technik können in SDN-1 (site directed nuclease 1), SDN-2 und SDN-3 untergliedert werden. Mit SDN-1 und SDN-2 werden jene Verfahren bezeichnet, bei denen keine zusätzlichen Gene eingefügt werden. Mehr dazu unter: www.fachstellegentechnik-umwelt.de.