Diversität statt Einheitsbrei

Agrarökologische Ansätze für eine gesunde Ernährung

Eine der wichtigsten Grundlagen der Ernährung ist das Saatgut. Besonders für Kleinbäuer*innen ist der Zugang, der Anbau und das Wissen über diverse Pflanzensorten und Arten fundamental. Das industrielle Saatgutsystem fördert hingegen Einheitlichkeit und Abhängigkeit. Interview mit Stig Tanzmann, studierter Agrarwissenschaftler und gelernter Landwirt.

Porträt Stig Tanzmann

Foto: © privat

Ein häufig genannter Aspekt im Bezug zur Ernährungssicherheit, ist neben dem Zugang zu Wasser und Land auch der Zugang zu Saatgut. Welche Eigenschaften muss Saatgut haben um die Ernährung vieler Menschen im Globalen Süden zu sichern?

Wenn wir über Welternährungsfragen sprechen und im speziellen über Saatgutzugang für die Ärmsten der Armen oder Kleinbäuer*innen, dann muss Saatgut sehr viel können. Wir sprechen hier über Betriebe von einem halben bis 20 Hektar und besonders diese Kleinstbetriebe müssen sich selbst versorgen können. Das bedeutet, sie brauchen eine Diversität auf dem Acker, mit der sie über das ganze Jahr hinweg etwas ernten und lagern können. Konkret heißt das, man braucht verschiedene Arten und Sorten mit unterschiedlichen Aussaatzeiten und eine Diversität an Nahrungsmitteln, die einen mit allen Nährstoffen versorgen kann, um nicht in eine Mangelernährung abzurutschen. Diese verschiedenen Sorten und Arten müssen dann auch noch miteinander auf einer sehr begrenzten Fläche funktionieren. Also an einander angepasst sein. Deswegen beschäftigen sich diese Kleinbäuer*innen nicht nur mit einer Pflanze, sondern mit vielen Pflanzen. Vielleicht brauchen sie 20, 30, 40 verschiedene Arten und davon dann noch viele verschiedene Sorten. Nur so haben sie die Möglichkeit auf die lokalen Bedingungen und Veränderungen – starke Trockenheit, zu viel Feuchtigkeit, Kälte usw. zu reagieren und nachsteuern zu können. Deshalb ist der uneingeschränkte Zugang zu Saatgut so wichtig, weil es nicht darum geht einfach nur das anzuwenden, was ihnen irgendein*e Pflanzenzüchter*in oder Konzern zur Verfügung gestellt hat. Sondern viel mehr benötigt wird, als diese zur Verfügung stellen können.

Wenn die Bäuer*innen ihr Saatgut nicht beim Konzern kaufen, wie kommen sie dann zu ihrem Saatgut? Welche Arten von Zugang gibt es?

In vielen Ländern des Globalen Südens ist das Bildungs- und Gesundheitssystem schwach aufgestellt und so muss für den Schulbesuch oder die Gesundheitsversorgung bezahlt werden. Diese eh schon hohe finanzielle Belastung bedeutet, dass es sehr wichtig ist, so wenig wie möglich für landwirtschaftliche Betriebsmittel und Saatgut auszugeben. Daher sind eigene Saatgutbanken extrem wichtig für die Bäuer*innen. Diese Art von Zugang, die Aufbewahrung von eigenem Saatgut, ermöglicht einen sofortigen und kostenlosen Zugang, der besonders relevant ist, wenn eine Aussaat mal nicht gut funktioniert hat.
Ein weiterer sehr wichtiger Zugang ist der Tausch. Durch das Tauschen von Saatgut erhöht man die genetische Vielfalt und Anpassung im eigenen Saatgut und verhindert somit eine Degeneration. Degeneration würde z.B. zu einer erhöhten Sensibilität der Pflanzen gegenüber Krankheiten und Schadinsekten führen. Für den Tausch ist es wichtig, dass es Einrichtungen wie Märkte gibt, wo die Menschen zusammenkommen können.
Teilweise erfolgt der Zugang auch über staatliche Saatgutbanken, die Saatgut bereitstellen, oder es werden einfach Nahrungsmittel gekauft und ein vermehrungsfähiger Teil wird wieder ausgesät. Wir sehen, der Zugang ist sehr multidimensional und das muss auch so bleiben. Leider werden diese Zugänge aber immer weiter eingeschränkt.

Es ist ein sehr anderes System als dass, was wir aus Deutschland kennen, oder?

Die meisten Menschen im Globalen Norden können sich diese Saatgutsysteme überhaupt nicht vorstellen, sie kennen vor allem die wirtschaftliche Seite. Die überwiegende Mehrheit der Bäuer*innen hier züchtet nicht mehr. Maximal vermehren sie noch Saatgut, aber das sie wirklich ihr Saatgut behalten und auch viele verschiedene Feldfrüchte anbauen, das kommt hier nur in einem extrem kleinen Maßstab vor. Auch der finanzielle Druck im Globalen Süden und die Lebensnotwendigkeit der Sparsamkeit sind für viele nicht wirklich greifbar.
Im Globalen Süden ist es absolut zentral, dass bei den geringen finanziellen Ressourcen die Pflanzen resistent gegenüber Krankheiten und Schadinsekten sind. Alles muss ohne Pestizide und letzten Endes auch ohne chemisch-synthetische Düngemittel funktionieren. Wenn man sich gute Techniken und Wissen angeeignet hat und eng mit der Natur zusammenarbeitet, kann das gut funktionieren. Leider gibt es sehr wenig Unterstützung bei der Aufrechterhaltung und Verbesserung dieser Anbausysteme.

Ein sehr anderer Ansatz als mit der Natur zusammenzuarbeiten ist die Gentechnik. Dennoch wird seit Anbeginn der Technologie die Gentechnik von Befürworter*innen als ein Mittel zur Reduzierung von Hunger und Armut genannt. Kannst du uns sagen, was die Gentechnik bisher zur Verbesserung der Welternährung beigetragen hat?

Aus unserer Sicht und Erfahrung her, nichts. Die Gentechnik setzt letzten Endes überhaupt nicht an den Problemen an, sondern wurde und wird für ein reduktionistisches Landwirtschaftssystem entwickelt. Ein einfaches System, aus dem möglichst viel Masse einer Frucht, möglichst einfach vom Feld zu holen ist. Es wird nur eine Feldfrucht angebaut und alle Schadinsekten und Beikräuter sollen durch den Einsatz von Pestiziden ausgeschaltet werden. Ganz aktuell gibt es wieder die Diskussion um den Goldenen Reis, der ein Vitamin-A-Defizit ausgleichen soll. So ein Mangel entsteht aber nur, wenn zu wenige Feldfrüchte angebaut und damit die eigene Ernährung extrem einseitig wird. Da soll die Gentechnik falsche Anbausysteme ausgleichen.
Das setzt überhaupt nicht bei den Bedürfnissen der Kleinbäuer*innen an. Aus einem intensiv und divers bewirtschafteten Hektar bekommen Bäuer*innen immer mehr Ertrag und vor allem Nährstoffe, als aus einem, auf dem nur Mais steht. Gleichzeitig wird der Energie-Input auf der Fläche deutlich geringer sein, weil man ohne die Düngemittel und Pestizide auskommt, die der Mais braucht. Wenn man 30, 40 verschiedene Feldfrüchte anbaut, gerade auch viel grünes Gemüse, das sehr viel Vitamin-A enthält, braucht man keine Gentechnik. Pestizide wird man auf einem vielfältigen Acker nicht einsetzen, weil man damit viel Nützliches im Boden und in der Umgebung zerstört.
Agrarökologisch geht es eher um die Nützlingsförderung. Das ist wissensaufwendig und muss anders gefördert werden, aber so kann es funktionieren. Es gibt viele Menschen, die das schon machen und ohne jedwede Unterstützung tun. Das ist das Beeindruckende und das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Gibt es stattdessen negative Entwicklungen auf die Ernährungssicherheit, die durch den Einsatz von gentechnisch veränderten Pflanzen noch verstärkt werden?

Ja, wir haben es bei der Welternährung mit einem Verteilungsproblem zu tun und letzten Endes sind diese gentechnisch veränderten (gv) Pflanzen Teil davon. Sie werden auf Äckern angebaut, die anderen Menschen weggenommen worden sind. Ihnen bleibt häufig zu wenig Land, um sich, ihre Familie und die Nachbarschaft zu ernähren. Stattdessen wächst auf zehntausenden von Hektar die gv-Soja oder der gv-Mais, weil diese Pflanzen gerade im großen Maßstab und mit vielen Inputs gut funktionieren. Die Ernte landet dann im Bio-Diesel, in den Futtermitteln oder in anderen agrarindustriellen Produkten, die nicht für die direkte menschliche Ernährung genutzt werden. Diese gv-Pflanzen nehmen also Fläche weg, die fehlt, um die Welternährung zu sichern. In der Konsequenz müssen die Menschen dann ihre Nahrungsmittel kaufen, statt sie selbst anzubauen, ohne dass sie feste Arbeit und Einkommen haben.

Das, was heutzutage an gv-Pflanzen auf den Äckern wächst, ist sehr überschaubar. Im Endeffekt sind das vier Pflanzen: Soja, Mais, Raps und Baumwolle. Diskutiert werden gerade die neuen Gentechniken wie CRISPR-Cas, Zinc Finger und Co. – damit sollen neue Pflanzensorten und -arten verändert werden, aber auch neue Eigenschaften entstehen, was mit den vorherigen Techniken so nicht möglich war. Siehst du bei diesen Techniken das Potenzial etwas zur Welternährung beizutragen?

Aus meiner Sicht hat man es bei CRISPR-Cas und Co. mit einer häufig vollkommen abgekoppelten technischen Entwicklung zu tun, die mit der Realität sehr wenig Berührungspunkte hat. Es werden ganz viele Luftschlösser gebaut und man muss sich immer fragen: Was ist hier geschicktes Marketing oder Werbung, um ein Produkt, eine Technik einzuführen und durchzusetzen und was ist eine realistische Angabe von dem, was passiert. Wenn man sieht, was sich in der Pipeline befindet, dann sind es wieder Herbizid-resistente Pflanzen sowie Pflanzen, die irgendeinen Nährstoff beinhalten, den man auch ganz einfach in der Natur produzieren könnte, wenn man diverser und ökologischer produzieren würde. Daher sehe ich nicht die Notwendigkeit so eine Risikotechnologie in die Anwendung zu bringen. Wir haben aus der ersten Gentechnik gelernt, es ist eine Risikotechnologie: Es kontaminiert Saatgut, es kontaminiert Wildpflanzen, es führt zur Erhöhung des Pestizideinsatzes. All diese Pflanzen sind auf den Einsatz von chemisch-synthetischen Düngemitteln getrimmt, die extrem klimaschädlich sind.
Die Ansätze, die aus unserer Sicht Lösungen versprechen, sind welche, die dort ansetzen, wo die Menschen sind und wie die Menschen leben. Man muss sich doch fragen: Wo ist eigentlich das Problem, das ich jetzt lösen möchte? Brauchen wir zur Lösung diese neuen Techniken aus dem Labor oder gibt es schon praktische Lösungen in der Anwendung? Gibt es schon Wege und Praktiken, die gerade funktionieren aber keine oder kaum Forschungsunterstützung oder wissenschaftliche Begleitung haben, die sie weiter verbessern und verbreiten könnten. Zum Beispiel Berater*innen auf Wochenmärkten, die Saatgut testen oder Techniker*innen, die über eine passende Fruchtfolge oder Saatgutmischungen informieren können. Die Bäuer*innen brauchen keine total homogenen Pflanzen, sondern wollen Vielfalt, aus der sie dann passende Pflanzen für ihre weitere Zucht, für ihren Standort auswählen können.

Es scheint so als gäbe es eine große Diskrepanz zwischen dem was gebraucht wird und dem an dem was geforscht wird. Wie ist es denn im Globalen Süden, ist der Fokus der Forschungs- und Saatgutunternehmen ein anderer?

Die Staatseinnahmen im Globalen Süden sind extrem niedrig. Häufig werden die Agrargelder schlecht verteilt und der Großteil geht in Subventionen für industrielles Saatgut, synthetische Düngemittel und Pestizide. Das stabilisiert das konventionelle und kommerzielle Saatgutsystem und hält es aufrecht, anstatt die Menschen zu unterstützen, damit sie unabhängig davon werden können. Viele Beamt*innen und Politiker*innen im Globalen Süden setzen auf die gleichen Systeme wie hier im Norden, weil sie dieses koloniale Erbe an Universitäten gelernt oder sie gleich im Globalen Norden studiert haben. Die Diversität an Ansätzen in der Saatgutarbeit ist über Jahrhunderte massiv bekämpft worden, auch im Globalen Süden. Viele Saatgutunternehmen und kommerzielle Züchter*innen setzen auch hier auf Gentechnik oder auf Hybrid-Saatgut, weil sie den Markt erobern wollen. Sie wollen genauso erfolgreich werden, wie Bayer/Monsanto, Syngenta, KWS. Die glauben an ihr Geschäftsmodell und dass sie etwas Gutes verkaufen können. Wenn wir von züchterischen homogenen Einheitssorten sprechen, funktionieren diese auf verschiedenen Flächen und mit genügend Inputs ja auch gut. Das will ich nicht bestreiten, aber man muss einen Ausgleich zwischen den Systemen finden. Leider ist es momentan aber so, dass Wissen um Diversität und kleinbäuerliche Betriebe verdrängt wird – und das ist fatal.
Es braucht deutlich mehr Austausch und Wertschätzung zwischen den Systemen, abseits der Gentechnik. Die offizielle Saatgutzüchtung braucht den Zugang zu den bäuerlichen Ressourcen, ihren Sorten und Varianten und die Kleinbäuer*innen brauchen den Zugang zu den optimierten Sorten der offiziellen Züchtung, die sie weiterverwerten und an ihre Gegebenheiten anpassen können. Das ist eine Wechselwirkung und die müsste deutlich zugunsten der bäuerlichen Betriebe und des bäuerlichen Saatguts verbessert werden.

Klimawandel, Corona-Pandemie, Krieg in der Ukraine – die Welternährung steht vor großen Herausforderungen. Was sind aus deiner Sicht sinnvolle landwirtschaftliche Ansätze um diesen Krisen entgegenzutreten?

Aus unserer Sicht braucht es den Schwenk zu Agrarökologie und ähnlichen Ansätzen, die auf den Grundlagen des Ökolandbaus aufbauen. Es braucht auf allen Ebenen mehr Diversität. Es geht um die Frage, wie ich Landwirtschaft resilient gestalten kann. Die Einbeziehung von Agroforstsystemen bietet Ansätze – hier geht es darum Bäume, Hecken und Sträucher in die Landwirtschaft zu integrieren. Sie beschatten den Boden und verbessern damit das Mikroklima. Mit ihren Wurzeln holen sie Wasser und Nährstoffe aus tiefen Bodenschichten und fördern die Biodiversität über und unter der Erde. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Wurzelmasse der Gewächse, die bei Überschwemmungen den Boden stabilisiert. Wir hören immer mehr über die krasse Trockenheit in unterschiedlichen Regionen, aber richtig dramatisch wird es, wenn auf diese völlig ausgetrockneten Böden, in die versucht wurde was einzusäen, der Regen kommt und alles wegwäscht. Es braucht, wo möglich, eine ständige Bodenbedeckung, vernünftige Wasserkreisläufe und Wissen über verschiedene Pflanzen. Es gibt Bäume, die extrem tief wurzeln und in ihren Wurzelballen große Mengen an Wasser speichern. Es geht darum diese Diversität und Funktionalität zu verstehen und sinnvoll in die Landwirtschaft einzufügen. Es ist durchaus eine Herausforderung, aber die Menschen im Globalen Süden und viele Bäuer*innen zeigen, es kann funktionieren und es funktioniert auch schon seit Jahren.

Was bräuchte es für konkrete politische oder gesellschaftliche Ansätze und Veränderungen, um diese Systeme zu unterstützen und zu fördern?

Was es braucht sind finanzielle Ressourcen. In Afrika gibt es schon die Verpflichtung, dass zehn Prozent des Staatshaushaltes in die Landwirtschaft fließen muss. Wichtig ist aber, wofür das Geld ausgegeben wird. In Deutschland gibt es eine gut ausgebaute Agrarberatung und das ist sehr positiv zu bewerten. Sie verfolgt nicht immer die Ansätze, die ich für sinnvoll erachte, aber es gibt sie. Es wäre sehr zu begrüßen, würde es in der Beratung in Zukunft nicht um Masse und Optimierung von Stickstoffeinsatz gehen, sondern vor allem um die Förderung der Agrarökologie. Gerade im Globalen Süden brauchen wir eine flächendeckende agrarökologische Agrarberatung, die auf einen gemeinsamen Austausch und Partizipation setzt, wo sich die Bäuer*innen und Agrarberatenden, aber auch Wissenschaftler*innen auf Augenhöhe begegnen. Dafür braucht es Geld und eine andere Infrastruktur. Eine der wichtigsten Fragen ist, wie kann der Transport zwischen Betrieb, Markt und anderen Orten vernünftig funktionieren. Das ist eines der größten Probleme, welches sich durch die Folgen der Pandemie und des Ukrainekrieges noch verschärft hat. Treibstoff ist in vielen Ländern so teuer geworden, dass die agrarökologischen Partner*innen von Brot für die Welt, die teilweise wirklich massive Überschüsse produzieren, diese gar nicht auf den Markt bringen können, weil es gar keine nicht-fossile Transportmöglichkeit gibt.

Wirklich eine vielschichtige und komplexe Problemlage.

Ja, es ist wirklich komplex. Das ist auch eine wichtige Kritik an dem einseitigen Ansatz der Gentechnik, der nur auf eine, vielleicht mal zwei oder drei Veränderungen abzielt, aber wir haben es mit einem System zu tun, wo wir multiple Probleme haben, wo sich ganz, ganz viel verändern muss. Aber gerade sehen wir traurigerweise genau das Gegenteil. Jetzt fängt man an auf das völlig falsche Narrativ der Industrie von klimaneutralem Stickstoffdünger zu setzen, der – nur weil er aus angeblich grünem Wasserstoff produziert ist – klimaneutral sein soll. Es gibt keinen klimaneutralen, chemisch-synthetischen Dünger! Es sollten endlich Systeme gefördert werden, die nachhaltig sind, die die Ärmsten erreichen, die alle Fragen wie Klimawandel, Biodiversitätskrise, Energiekrise, Mangelernährung und sozialkulturelle Vergleiche gleichzeitig angehen. Aber jetzt setzt man wieder auf eine Maßnahme, mit der man kurz viel Aufmerksamkeit erreichen kann. Wo man mit viel Geld an großen Rädern drehen kann, nur die großen Räder drehen sich halt allein und ohne die Menschen.

Apropos große Räder: Besonders der Markt für gentechnisch verändertes Saatgut ist extrem konzentriert und wird von sehr wenigen Konzernen dominiert. In den letzten Jahren ist es zu weiteren Konzentrationsprozessen gekommen: mit der Fusion von Bayer und Monsanto, aber auch von Chemchina und Syngenta. Was sind die Folgen dieser Konzentrationsprozesse?

Es ist so, dass es dabei um den offiziellen Saatgutmarkt geht und das worüber ich gesprochen habe, ist der Saatgutmarkt, der gar nicht erfasst wird, also der informelle Saatgutmarkt. Aber die Machtkonzentration dieser Konzerne führt dazu, dass dieser formelle Markt immer weiter ausgeweitet wird und das schränkt die bäuerlichen Saatgutsysteme im Gegenzug weiter ein. Dann konzentriert sich alle Macht bei den Konzernen, die aber gar nicht mehr die genetischen Ressourcen haben oder das Verständnis, um irgendwas Sinnvolles für diese alternativen Systeme zu produzieren. Das ist sehr gefährlich.
Gerade haben wir es geopolitisch mit einer massiven neuen Blockkonfrontation zu tun. Das hat auch Auswirkungen auf die Landwirtschaft: auf der einen Seite steht das kapitalistische Saatgutsystem mit Bayer/Monsanto, BASF und Co., die das System grüne Revolution plus Gentechnik durchdrücken wollen, um damit Gelder zu verdienen. Was aber viele vergessen, ist das auch das chinesische und das russische Agrarsystem extrem industriell geworden sind und dieselben Ziele mit den gleichen Mitteln umsetzen wollen. Syngenta ist aus strategischen Gründen von einem chinesischen Konzern gekauft worden. So werden die Hungernden, die agrarökologisch arbeitenden Betriebe oder die, die etwas Anderes wollen, die für mehr Nachhaltigkeit, für eine sozialökologische Transformation stehen, zunehmend zwischen zwei geopolitischen Blöcken zerrieben, die doch für das gleiche Agrarsystem stehen. Ich glaube diese Situation wird noch nicht ausreichend verstanden. Gerade ist man in einer unglaublich misslichen und konfrontativen Lage, wenn man eine andere oder nachhaltige Landwirtschaft will.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Judith Düesberg.
Danke an Lilly Presser für die Transkription.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
265
vom Mai 2023
Seite 9 - 12

Stig Tanzmann ist Landwirt und Agrarwissenschaftler. Seit 2010 arbeitet er als Referent für Landwirtschaft bei Brot für die Welt - Evangelischer Entwicklungsdienst.

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