Chemischer Kolonialismus
Interview über die Auswirkungen von Pestiziden in Brasilien
Viele Pestizide werden zwar in der EU produziert, ihr Einsatz ist aber
innerhalb der EU verboten, und so werden diese in Länder des Globalen
Südens exportiert. Unter anderem nach Brasilien, wo sie zu enormen
gesundheitlichen Schäden in der Bevölkerung führen.
Foto: privat
Liebe Larissa Bombardi, zunächst einmal vielen Dank, dass Sie hier sind. Könnten Sie sich kurz vorstellen und erläutern, an welchen Themen Sie arbeiten und mit welchen Schwierigkeiten Sie dabei konfrontiert sind?
Ich bin seit 2007 Professorin für Geographie am Institut für Geographie der Universität Sao Paolo. Das bedeutet, dass ich mich mit sozialen und ökologischen Themen beschäftige, hauptsächlich mit Aspekten der Landwirtschaft, der Landreform und eben auch mit Pestiziden. Pestizide sind seit 2012 mein Hauptforschungsthema. Ich habe einen Atlas über die Auswirkungen von Pestiziden in Brasilien und deren Zusammenhang mit der Europäischen Union erstellt.1 Dieser Atlas zeigt die Auswirkungen von Pestiziden in Brasilien – die Anzahl der durch Pestizide vergifteten Menschen, wie viele Kinder, Babys, Frauen und indigene Völker durch Pestizide vergiftet wurden. Er zeigt auch die Menge an exportierten brasilianischen Agrarprodukten und die importierten Pestizide, die wiederum in der Europäischen Union nicht erlaubt sind.
Danach begann ich, einige Drohungen gegen meine Forschung, aber auch gegen mein Leben in Brasilien zu erhalten. Daraufhin stellte mir der Rektor meiner Universität das Sicherheitspersonal unseres Campus zur Verfügung. Aber das war für meine und die Sicherheit meiner beiden Kinder nicht ausreichend. Zu dem Zeitpunkt hatte die COVID-Pandemie schon begonnen und ich konnte das Land nicht verlassen. Daher bewarb ich mich um eine Stelle an der Freien Universität Brüssel, die bewilligt wurde. Mit dieser Genehmigung ging ich zur belgischen Botschaft in Brasilien, um das Visum zu erhalten und das Land zu verlassen. Es war ein langer Prozess mit enormen Herausforderungen.
Vor nicht allzu langer Zeit haben Sie auch ein Buch zu ihrer Forschung veröffentlicht.2 In diesem Buch erwähnen Sie Rachel Carlson, Autorin von Silent Spring.3 Sehen Sie Parallelen zwischen Ihren Arbeiten als Frauen, Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen?
Ja, irgendwie gibt es viele Parallelen. Eine davon ist das Geschlecht. Als sie ihr Buch veröffentlichte, wurde sie als verrückte Hysterikerin bezeichnet, was als ein Ausdruck zur Diskriminierung von Frauen verwendet wurde. Als ich Brasilien verließ, gab es einen Professor, der mit der Agrarindustrie in Verbindungen steht, der sagte, dass ich nach Europa gegangen sei, um Vagonçadas zu machen – dieses Wort bezieht sich auf jemanden, der faul ist, wird aber in Brasilien auch zur Beschreibung von Prostituierten verwendet. Allein weil wir Frauen sind, stehen wir vor anderen Herausforderungen, als Männer, die sich in der gleichen Situation befinden.
Ihr Buch heißt „Colonialismo quimico e Agrotoxicos“, was „Chemischer Kolonialismus und Pestizide“ bedeutet. Wo sehen Sie den Zusammenhang zwischen Pestiziden und Kolonialismus?
Während des historischen Kolonialismus sahen wir, wie die Natur und die Ressourcen verwüstet wurden, um sie zu kommerzialisieren. Die Aneignung unserer natürlichen Ressourcen erfolgte auf gewalttätige Weise. Wir waren mit Völkermorden und verschiedenen Formen der Gewalt konfrontiert, beispielsweise mit der Abholzung der Wälder. Heutzutage haben die größten Unternehmen, die Pestizide herstellen, ihren Hauptsitz hier in der Europäischen Union. Die EU kontrolliert etwa ein Drittel des weltweiten Exports und der Produktion von Pestiziden und verkauft diese nach Brasilien und in andere Länder. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, wie ernst die Lage ist: Von den zehn am häufigsten verkauften Pestiziden in Brasilien sind fünf in der EU nicht erlaubt. Es geht hier also nicht um Kleinigkeiten. Wir sprechen von einer wirklich tragischen Situation. Zu diesen fünf Pestiziden gehört beispielsweise Atrazin. Atrazin ist ein vor 20 Jahren in der EU verbotenes Herbizid, das mit Eierstockkrebs, Parkinson und körperlichen Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht wird.
Die Europäische Union hat das restriktivste Pestizidrecht weltweit, denn hier gibt es die REACH-Verordnung [die Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe], nach der die EU 269 Pestizide bereits verboten bzw. nie zugelassen hat. Die Asymmetrie besteht aber nicht nur zwischen den Substanzen, sondern auch bei den Richtwerten für Pestizidrückstände. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: In Brasilien erlauben wir 5.000-mal höhere Glyphosat-Rückstände in unserem Trinkwasser als in der EU.
Wir haben eine riesige Wirtschaftsmacht in Europa und gleichzeitig supermächtige Oligarchien in Lateinamerika. Gemeinsam ermöglichen sie diese Art der Ausbeutung und Verwüstung, die irgendwie immer noch andauert. Deshalb können wir über Kolonialismus sprechen – es ist, als wären wir Menschen zweiter Klasse, als sei unser Wert geringer als der von Menschen aus der EU.
Sie forschen seit 2012 zu Pestiziden in Brasilien. Können Sie uns ein Bild von der Entwicklung des Pestizideinsatzes in den letzten Jahren geben?
Unter Bolsonaros Regierung ist die Zahl der in Brasilien zugelassenen Pestizide sprunghaft angestiegen. Während die durchschnittlich zulässige Menge an Pestiziden pro Jahr um 2005 bei etwa 100 lag, erreichten wir in der Legislaturperiode von Bolsonaro mehr als 600 Pestizide pro Jahr. Die derzeitige Regierung von Lula weist im Vergleich dazu deutlich weniger Zulassungen auf. Das Landwirtschaftsministerium arbeitet an einigen Richtlinien zur Bio-Lebensmittelproduktion und hat diese bereits genehmigt. Darüber hinaus schließen sie einige Vereinbarungen mit Krankenhäusern und öffentlichen Schulen ab, um Bio- und Agrarprodukte von Kleinbäuer*innen zu erhalten.
Wie hängen Pestizide und gentechnisch veränderte Organismen (GVO) zusammen?
Das ist eine wichtige Frage und die Antwort hilft dabei, zu verstehen, warum Brasilien einer der Hauptverbraucher von Pestiziden ist. Heutzutage sind mehr als 90 Prozent des Sojaanbaus, mehr als 82 Prozent des Maisanbaus und 78 Prozent des Kakaoanbaus in Brasilien gentechnisch verändert. Wenn wir über die Gesamtmenge an Pestiziden in Brasilien reden, geht es hauptsächlich um fünf Kulturpflanzen. Mehr als 50 Prozent der eingesetzten Pestizide sind für den Sojaanbau bestimmt. An zweiter Stelle haben wir Mais, dann Zuckerrohr, Baumwolle und Weideland. Insgesamt ist der Anbau dieser Sorten für 89 Prozent des Pestizideinsatzes in Brasilien verantwortlich.
Hier ist es wichtig, klarzustellen, dass es sich nicht um die Lebensmittelproduktion handelt. Es handelt sich um Rohstoffe, die das Hungerproblem nicht lösen. Brasilien ist ein Land, das unter Hunger leidet: Ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung leidet an Mangelernährung, die in den ländlichen Gebieten noch schlimmer ist, als in den städtischen Gebieten. Das zeigt, dass der Anbau von Kulturpflanzen nicht zur lokalen Ernährungssicherheit beiträgt.
Sie sprechen in Ihrem Buch oft von chemischer Gewalt. Was meinen sie damit?
Im letzten Jahr wurden in Brasilien mehr als 50.000 Menschen durch Pestizide vergiftet. Hier spreche ich von offiziellen Daten. Das brasilianische Gesundheitsministerium schätzt, dass für jeden dokumentierten Fall etwa 50 weitere nicht gemeldet werden. Das bedeutet, dass wir wahrscheinlich mehr als zwei Millionen Menschen haben, die durch Pestizide vergiftet wurden. Dazu gehören Kinder und Jugendliche zwischen null und neunzehn Jahren, inklusive Babys. Konkret wurden in den letzten zehn Jahren mehr als 500 Babys durch Pestizide vergiftet. Das bedeutet, dass insgesamt mehr als 25.000 Babys vergiftet wurden. In den letzten Jahren wurden außerdem mehr als 300, genauer gesagt 393 schwangere Frauen durch Pestizide vergiftet. Und in Regionen mit intensivem Einsatz von Pestiziden wurden Fälle einer frühen Pubertät festgestellt. Mädchen im Alter von etwa zwei Jahren entwickelten Brüste und Intimbehaarung.
Und natürlich gibt es viele Auswirkungen auf die Umwelt. Zwei Beispiele sind die beiden gefährdetsten Arten in Brasilien der Arara azul [Hyazinth-Ara] und der brasilianische Jaguar, die aufgrund des Einsatzes von Pestiziden aussterben. Dies alles zeigt die unterschiedlichen Auswirkungen von Pestiziden: auf die Umwelt, die menschliche Gesundheit und die sozialen Aspekte insgesamt.
Sie erwähnen häufig, dass Ihre Arbeit ein feministischer Kampf ist. Könnten Sie den Zusammenhang zwischen Pestiziden, Landwirtschaft und Feminismus näher erläutern?
Frauen sind wahrscheinlich am stärksten von Pestiziden betroffen. Einerseits aus körperlichen Gründen, weil wir mehr Fett in unserem Körper haben als Männer, was bedeutet, dass sich einige Arten von Pestiziden leichter in unserem Körper ansammeln. Wenn wir stillen, besteht die Gefahr, dass diese Milch Pestizide enthält. Wenn wir schwanger sind, passieren Pestizide auch die Plazenta, was zu Beeinträchtigungen bei Kindern führen kann. Es gibt Aspekte, die sich auf unseren Körper beziehen, und dann gibt es noch unser emotionales und psychologisches Universum. Frauen beschäftigen sich mit den Schwangerschaften, mit den Babys und zusätzlich mit den Auswirkungen der Pestizide.
Es gibt auch eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Frauen sind für die Pflege verantwortlich: Sie kümmern sich um die Kinder, kümmern sich um ihre Partner und kümmern sich um die Menschen, die aufgrund einer Pestizidvergiftung krank werden. Es gibt also enorme Auswirkungen, die durch die Asymmetrie zwischen Frauen und Männern innerhalb dieser patriarchalen Gesellschaft noch verstärkt werden. Gleichzeitig leisten Frauen Widerstand. Sie stehen zusammen und entwickeln unterschiedliche Bewegungen. Sie tauschen ihr Wissen aus, stärken ihre eigene Macht, ihre Rechte und üben Druck auf die Regierungen aus, Maßnahmen zu ergreifen, um die Auswirkungen von Pestiziden zu verringern.
Welche Perspektive sehen Sie hinsichtlich der weltweiten Pestizidanwendung?
Es handelt sich um eine Herausforderung für die gesamte Menschheit. Ich glaube, dass wir eine internationale Regelung für Pestizide brauchen, um diese Stoffe auslaufen zu lassen. Bis dahin müssen wir die äußerst gefährlichen Pestizide überall beseitigen, nicht nur in Europa. Ich nehme wahr, dass die Pestizidlobby sehr mächtig ist. Aufgrund der Schwäche unserer Gesetzgebung ist Brasilien ein Paradebeispiel. Die anfangs erwähnten Unternehmen betreiben in Brasilien Lobbyarbeit, aber auch in den USA und der EU, wie wir gerade bei der Wiederzulassung von Glyphosat sehen. Ich denke, es ist die Aufgabe unserer Generation, diesen Kampf gegen die Interessen der Unternehmen und für unsere Menschen- und Umweltrechte fortzusetzen.
Vielen Dank, Larissa, für diesen interessanten Beitrag.
Das Interview führte Pascal Segura Kliesow.
- 1Bombardi, L. (2019): A Geography of Agrotoxins use in Brazil and its Relations to the European Union. In: Universidade de São Paulo. ISBN: 978-8-57506-359-0.
- 2Bombardi, L. (2023): Agrotoxicos e colonialismo quimico. In: Editora Elefante. ISBN: 9-786-56008-022-5. Siehe Rezension "Chemischer Kolonialismus" S.32 in diesem Heft.
- 3Silent Spring (dt. der Stumme Frühling) handelt von dem exzessiven Pestizideinsatz während und nach dem zweiten Weltkrieg. Das Buch wird häufig als Ausgangspunkt der weltweiten Umweltbewegung bezeichnet. Carlson, R. (1962): Silent Spring. ISBN: 978-0-61824-906-0.
Larissa Bombardi ist Geographin an der Universität von Sao Paulo. Sie forscht seit über zehn Jahren an den gesundheitlichen und sozioökonomischen Auswirkungen von Pestiziden in Brasilien.
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