Allround klassifiziert?!
WHO und Behinderung
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zieht zum Zweck der Klassifizierung von Behinderung nicht nur körperliche Merkmale, sondern auch biografische und lebensweltliche Informationen heran. Der dahinter stehende Versuch, neben dem medizinischen Modell auch eine gesellschaftliche Konzeption von Beeinträchtigung einzubeziehen, mündet in einer weit reichenden Erfassung.
Wir diskutieren ständig über Datenschutz und das Recht auf Privatheit“, hieß es kürzlich im Feuilleton, „aber dann gehen wir ins Internet, zu Facebook oder Flickr, und entblößen uns freiwillig.“1 Tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der Menschen immer mehr persönliche Informationen preisgeben: Ob im Internet, in Fernsehshows oder auf eigenen Homepages, die öffentliche Selbst-Präsentation ist an der Tagesordnung. Dabei verschränken sich soziale mit ökonomischen Interessen: Je nach dem Nutzen für soziale Beziehungen, gesellschaftliches Ansehen, Karriere oder Arbeitsmarkt entscheidet das Subjekt - ganz unternehmerisches Selbst - wann, wie und wo es welche Informationen über seine Lebensgeschichte einer Öffentlichkeit mitteilt.2 Interessanterweise - wenn auch aus einer ganz anderen historischen Entwicklung heraus - sind solche Angaben bei der Klassifizierung von Behinderung heute entscheidend und in gewissem Sinne obligatorisch. Denn das individuelle Umfeld und die Lebenserfahrungen des Individuums sind wichtige Kategorien bei der Beurteilung einer Behinderung im Klassifikationssystem der WHO und dadurch auch entscheidend für einen behinderten Menschen. Indem diese Faktoren bei der Beurteilung der Lebenssituation eines Menschen berücksichtigt werden, wird die Erkenntnis umgesetzt, dass eine Beeinträchtigung mit der gesellschaftlichen Situation und anderen Umweltbedingungen zusammenhängt. Andererseits berührt die Erfassung biografischer Eigenheiten die Sphäre der Privatheit.
Wozu klassifizieren?
Klassifikationen strukturieren und ordnen Gruppen oder Dinge nach bestimmten Kriterien. Sie erschaffen dadurch ein Ordnungssystem, mit dem - unter anderem - Krankheiten und Behinderungen einer Bevölkerung entlang ihrer Entstehung und Wirkung geordnet werden können. Klassifikationen von Krankheiten gibt es bereits seit Jahrhunderten und in allen Heiltraditionen, so unter anderem in Indien, Mexiko oder auch in der Vier-Säfte-Lehre vor der Neuzeit in Europa.3 Mit Klassifikationen wurden innere und äußerlich sichtbare Krankheiten, Verletzungen, Brüche sowie Krankheiten des Körpers und des Geistes unterschieden. Heute bilden Krankheitsklassifikationen die Grundlage gesundheitsfördernder und rehabilitativer Maßnahmen. So sollen auf ihrer Basis Erfassungsinstrumente der Pflegebedürftigkeit oder des Assistenzbedarfs entwickelt werden. Eingesetzt werden Klassifikationen auch bei jeder Einzelfallbegutachtung, ob es sich um ergotherapeutische Maßnahmen, medizinische Verordnungen oder die Bestimmung der Schulfähigkeit oder Sonderschulbedürftigkeit handelt. Auch Versicherungen setzen bei der Rehabilitation von Menschen mit Unfallschäden oder physisch-psychischen Beeinträchtigungen Klassifikationen ein. Klassifikationen haben also eine sehr praktische, existenzielle Funktion. Weil sie die Grundlage von Selbstbeschreibungen sein oder die Identitätspolitik gesellschaftlicher Gruppen begründen können, sind Klassifikationen aber auch ein wichtiges Element sozialer Typisierung.4 Zudem haben sie insofern eine performative Funktion, als eine Ordnung von Gruppen oder Dingen erst durch Klassifizierung entsteht. Und nicht zuletzt erfordern Klassifikationen die Anwendung von Untersuchungsverfahren und Tests, mit denen erhoben wird, welche Kriterien jemand erfüllt und welche nicht. Sie sind also außerdem mit Bewertungsstandards verknüpft - die sich als Teil eines kulturellen Erbes allerdings durchaus im Fluss befinden - und fungieren als „Eigenschaften des Selbst“.5 Eine genauere Betrachtung aktueller Klassifikationssysteme kann daher Aufschluss darüber geben, welche Bewertungen dem Begriff der Behinderung heute innewohnen.
Von der Krankheit zur Behinderung ...
Seit ihrer Gründung 1946 verantwortet die WHO die Klassifikation von Krankheiten. Mit ihr können Ausmaß und Häufigkeit von Krankheit oder Behinderung weltweit erfasst und für unterschiedliche Belange genutzt werden, zum Beispiel, um Daten für den (inter-)nationalen Vergleich zu erheben oder Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zu entwickeln. Nachdem WissenschaftlerInnen und die erstarkende internationale Behindertenbewegung in den späten 1960er und den 1970er Jahren die Gleichsetzung von Behinderung und Krankheit kritisiert hatten, entwickelte die WHO 1980 die Internationale Klassifikation von Schädigungen, Beeinträchtigungen und Behinderungen, die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH). Mit ihr wurden Behinderung und Krankheit erstmals klar unterschieden. Schon der Entwicklungsprozess dieser ersten behinderungsspezifischen Klassifikation zeigt, dass es von Seiten mehrerer Akteure beabsichtigt und sogar gefordert war, sich in der Bestimmung einer Behinderung nicht nur auf die körperliche Dimension zu beschränken. Einbezogen werden sollten auch Auswirkungen auf den betreffenden Menschen sowie auf dessen gesellschaftliche Situation. Aufgrund verschiedener Mängel leitete die WHO Anfang der 1990er Jahre einen Revisionsprozess ein, an dessen Ende 2001 die Verabschiedung der zweiten internationalen Klassifikation von Behinderung stand, der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Sie adressiert im Gegensatz zur ersten WHO-Behinderungsklassifikation alle Menschen, auch wenn nur Behinderungen und nicht zugleich besondere Fähigkeiten eines Menschen klassifiziert werden.6 Primär relevant ist sie aber nach wie vor für behinderte Menschen, da deren Beeinträchtigung beurteilt und ihnen auf Basis dieser Klassifizierung Unterstützungsleistungen zugewiesen werden. Die ICF stellt die Basis für rehabilitationsbezogene Maßnahmen dar. So fungiert sie beispielsweise in den Hilfsmittel-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses als Grundlage für Entscheidungen darüber, welche Hilfsmittel als Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden.7
... und von der kausalen Folge zur Interaktion
In der ICF wird erstmals das Umfeld des Individuums in den Blick genommen. Behinderung ist nicht mehr - wie noch in der ICIDH - kausale Folge einer Krankheit oder Schädigung, sondern das Ergebnis einer Interaktion verschiedener Einflussfaktoren. Behinderung wird als Ergebnis des Zusammenwirkens folgender Komponenten konstruiert: Körperfunktionen und -strukturen, Aktivität, Teilhabe, Umweltfaktoren und personbezogene Faktoren eines Menschen (siehe Abb.).8 Es werden also nicht nur körperliche, individuelle und gesellschaftliche Komponenten von Behinderung, sondern auch das private Umfeld und persönliche Lebenserfahrungen sowie die für einen Menschen spezifischen Barrieren beziehungsweise Unterstützungsfaktoren einbezogen. Erhoben werden also auch individuelle Ausgleichsmöglichkeiten. Diese konzeptionellen Veränderungen des Begriffs der Beeinträchtigung gehen auf die Forderung der Behindertenbewegung zurück, Barrieren und gesellschaftliche Hindernisse (wie etwa negative Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung) zu entfernen und Behinderung als gesellschaftlich produziert zu begreifen, statt sie - wie im medizinischen Modell - ausschließlich als individuelles Problem zu konstruieren. Die WHO will mit der ICF diese unterschiedlichen Konzepte erklärtermaßen vereinen, und zwar in einem „biopsychosozialen Ansatz“.9Dieser Ansatz bleibt jedoch ein Papiertiger: Nach wie vor findet das medizinische Modell stärkere Berücksichtigung als soziale Konzepte von Behinderung.
Ein detaillierter Blick auf den Menschen?
Denn der Integration des sozialen Modells von Behinderung in Klassifikationssysteme, denen die medizinische Bewertung entlang von Krankheitswert und Behandlungsbedürftigkeit - zumindest historisch - eingeschrieben ist, sind Grenzen gesetzt. Das Problem wird bei näherer Betrachtung der Umweltfaktoren sichtbar: Klassifiziert werden sollen hier beispielsweise „Unterstützung und Beziehungen“ oder „Verhaltensweisen“. Wie können solche ‚Faktoren’ ohne Einschränkung oder zusätzliche Erläuterung klassifiziert werden? Auch die Kategorie „Freunde“ mutet seltsam an. Laut Definition der WHO handelt es sich dabei um „Individuen, die nahe und andauernde Partner in von Vertrauen und gegenseitiger Unterstützung geprägten Beziehungen“ sind.10 Abgesehen von der recht spröden Beschreibung: Auf welcher Basis, anhand welchen Maßstabs soll die Bedeutung von Freundschaften für einen Menschen als „leichter“, „gemäßigter“, „erheblicher“ oder „vollständiger“ Unterstützungsfaktor beurteilt werden? Soziale Beziehungen haben unzweifelhaft unterstützende Bedeutung. Zweifelhaft ist, ob sie einheitlich und international vergleichbar zu klassifizieren sind. Vage wird es auch bei den „personbezogenen Faktoren“, die „Merkmale des Individuums umfassen, die nicht zum Gesundheitszustand gehören“. Aufgezählt werden unter anderem die Kategorien Geschlecht, Alter, Bildung oder Beruf. Während diese „Faktoren“ noch relativ leicht zu bestimmen sein mögen, gehören zu der Aufzählung aber auch Kategorien wie „Lebensstil“, „Gewohnheiten“, „allgemeine Verhaltensmuster“ oder „individuelle psychologische Faktoren“.11 Die personbezogenen Faktoren werden in der ICF ausdrücklich nicht klassifiziert. Die zur ICF gehörende Checkliste, die GutachterInnen bei der Überprüfung beziehungsweise Klassifizierung benutzen sollen, empfiehlt das Anfertigen einer „kurzen Skizze des Individuums und jeglicher sonstiger relevanter Information“, die Einfluss „auf die Funktionsfähigkeit eines Menschen“ hat.12
Die Beurteilung des Lebens
Persönliche Erfahrungen lassen sich eben nicht im gleichen Maße klassifizieren wie Abweichungen des Körpers.13 Letztere lassen sich in viele einzelne Kategorien und somit differenzierter unterteilen als so weite Begriffe wie „Aktivität“ oder „Teilhabe“. Folglich ist der Fokus bei der Klassifizierung und Bestimmung von Behinderung auf die körperliche Erscheinung gerichtet, die traditionelle Perspektive bleibt also bestehen. Es ist entscheidend, das gesellschaftliche Modell von Behinderung weiter auszubauen und soziale Hindernisse detaillierter zu kategorisieren. Die umfangreiche Klassifizierung bleibt jedoch ein ambivalentes Unterfangen. Eine ausführliche Beurteilung der Lebenssituation mag vermeiden, einen Menschen auf seine Beeinträchtigung zu reduzieren. Zugleich werden aber persönliche vergangene oder gegenwärtige Lebenserfahrungen, Eigenschaften und Lebensstile erfasst und beurteilt. Diese Ambivalenz wird durch den Bezug zum Konzept des Wohlbefindens noch verstärkt (siehe Abb.). Tests und Profile sagen uns, wer wir sind. Aber sind wir das wirklich? Die Frage stellt sich bei Abbildungen in Facebook genauso wie im Kontext der Rehabilitation. Was sagt eine Überprüfung meiner gesamten Lebenssituation zum Zweck der Klassifizierung über mich aus? Die Vor- und Nachteile abwägend wird das Subjekt, der behinderte Mensch, die umfangreiche Kategorisierung nutzen, um möglichst adäquate Ausgleichsleistungen zu erhalten. Hierbei muss das Individuum entscheiden, welche Angaben über die eigene Privatsphäre dafür notwendig sind und welche nicht. Neben diesen neuen Herausforderungen, die das eingangs erwähnte unternehmerische Selbst voraussetzen und zugleich hervorbringen, geht es für beeinträchtigte Menschen außerdem darum - nach wie vor, wenn auch in einer anderen Dimension - die negative Beurteilung der eigenen Situation nicht zu verinnerlichen.
- 1SZ- Magazin, 17. 7. 2009, S. 20.
- 2Vgl. Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst, Frankfurt am Main 2007.
- 3Vgl. Ackerknecht, Erwin: Geschichte der Medizin, 7. Aufl., Stuttgart 1993.
- 4Keller, Rainer: Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen, Opladen 2004, S. 98.
- 5Bowker, Geoffrey/Leigh Star, Susan: Sorting Things Out. Classification and its consequences, Massachussetts 2000, S.39. Gesprochen wird hier von „properties of mind”; in diesem Sinne seien Klassifikationen „floating cultural inheritances”.
- 6World Health Organization: International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), Genf 2001a, S. 7.
- 7Vgl. Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, in Kraft getreten am 20.3.2008. www.g-ba.de/downloads/62-492-249/RL-Reha-2007-12-…
- 8Personbezogen heißen die Faktoren, weil sie sich nur auf die jeweilige einzelne Person beziehen.
- 9World Health Organization: Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), Neu-Isenburg 2005: 24
- 10Vgl. WHO 2001a, S.187.
- 11Ebd. S.17.
- 12World Health Organization: ICF Checklist. Version 2.1a, Clinician Form for International Classification of Functioning, Disability and Health (ICIDH-2), Genf 2001b, S.7.
- 13Die Frage, wie biographische Informationen klassifiziert werden können, beschäftigt derzeit eine deutsche WHO-Arbeitsgruppe, die ethische Richtlinien zur Klassifizierung und Kategorisierung dieser Informationen entwickeln soll. Interessanterweise sollen den personbezogenen zukünftig auch genetische Faktoren zugeordnet werden. Vgl. Geyh, Szilvia et al.: Developing the ICF Classification of Personal Factors, D057/D057p, 2007, www.who.int/classifications/network/meeting2007/e….
[img_assist|nid=1539|title=Abb.2|desc=|link=none|align=left|width=300|height=134] Das Universum des Wohlbefindens. Quelle: WHO 2001, S.212
Marianne Hirschberg war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft (IMEW) und ist seit 1. September 2009 sozialwissenschaftliche Referentin am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin, wo sie mit dem Monitoring der UN-Behindertenrechtskonvention befasst ist. In Kürze erscheint ihre Dissertation „Behinderung im internationalen Diskurs. Die flexible Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation“ bei Campus, Frankfurt/Main.
[img_assist|nid=1538|title=Abb.1|desc=|link=none|align=left|width=300|height=164] Interaktionen zwischen den Komponenten von Behinderung. Quelle: WHO 2001, S.18