Gegen binäre Kategorien

Interview mit Karin Behrens und Lotte Harms

Sie standen vor dem Bundestag, verteilten Flyer auf einer Anti-Papst-Demo und organisierten Podiumsdiskussionen und Workshops. Eine feministische Gruppe aus Berlin erklärt, warum sie zum Thema Präimplantationsdiagnostik letztes Jahr auf die Straße gegangen ist.

Wie seid ihr auf das Thema Präimplantationsdiagnostik gekommen?

Lotte Harms (LH): Unsere Gruppe hat sich viel damit beschäftigt, wie strukturelle Gewalt mit Geschlechterzuschreibungen zusammenhängt. Und wir wollten verstehen, wie es sein kann, dass das Argument der Selbstbestimmung von Frauen teilweise gegen andere emanzipatorische Ziele ausgespielt wird. Wir haben zu Gesundheitspolitik und eigenen Vorstellungen von Gesundheit und Fitness, zu Abtreibungspolitik und Fortpflanzungsthemen gearbeitet. Als uns das GeN gefragt hat, ob wir uns für euer GID-Jubiläumsheft eine Aktion zum Thema vorgeburtliche Geschlechtsauswahl ausdenken wollen, sind wir auf das Thema PID aufmerksam geworden. Das war zufälligerweise dann genau in der Zeit, bevor das Gesetz verabschiedet wurde. Und da haben wir unsere Chance gesehen, dazu Politik zu machen. Wir waren an dem Tag der Gesetzesverabschiedung auf der Straße, vor dem Bundestag, um noch einmal ein Zeichen zu setzen.

Welche Aktionen gab es noch?

Karin Behrens (KB): Als erstes haben wir eine Aufkleber-Kampagne gemacht, um auf das Problem der Geschlechtsauswahl durch Präimplantationsdiagnostik, wie es zum Beispiel Repro-Kliniken in den USA anbieten, aufmerksam zu machen. Wir haben uns bunt verkleidet, die Aufkleber in einem Stadtteil verklebt und dazu eine Fotodokumentation gemacht (siehe GID 200, S. 29). Außerdem organisierten wir verschiedene Veranstaltungen rund um die Themen Pränataldiagnostik, Eugenik und Frauenrechte, um unterschiedliche Positionen zum Thema zusammenzubringen: So haben wir etwa mit dem AK Mob, der sich für Behindertenrechte stark macht, mit Pro Familia und mit dem Pro-Choice Network kooperiert.

Ihr nennt euch queer-feministische Gruppe. Was verbindet ihr mit dieser Selbstdefinition und inwiefern ist das wichtig für die Kritik an der PID?

KB: Zunächst einmal sind wir eine feministische Gruppe; der Begriff queer macht unsere Vorstellung von Feminismus kenntlich. Wir wollen nicht einfach die Gleichheit zwischen Männern und Frauen als feststehende gesellschaftliche Gruppen einfordern oder eine positive Differenz von Frauen behaupten. Sondern wir kritisieren Geschlecht grundsätzlich als nicht biologisch festgelegte, sondern gesellschaftlich konstruierte Kategorie. Wir behaupten aber nicht, dass Geschlecht einfach so dekonstruiert werden kann, sondern dass es eine sehr wirkmächtige Kategorie ist, die mit unserer Sozialisation in uns eingeschrieben wird. Das ist wichtig für unsere Kritik an der Geschlechtsauswahl via PID. Denn wenn Kinder geboren werden und die nächste Generation sozialisiert wird, ist uns sehr daran gelegen, dass Jungen und Mädchen nicht einfach schon als biologisch gegeben vorausgesetzt werden; sondern wir kritisieren, dass sie dazu „gemacht“ werden. Auch wollen wir, dass der Familienbegriff erweitert wird und queere Familien, Regenbogenfamilien, Wahlfamilien dazugehören. LH: Reproduktionstechnologien haben wir daher auch immer als Möglichkeit diskutiert, Fortpflanzung von Hetero-Sex zu lösen. Schließlich nutzen Lesben und Frauen, die nicht die klassischen Beziehungsmodelle leben, teilweise begeistert die Angebote von Samenbanken und Reproduktionskliniken. Unser Wunsch wäre aber ein kritischerer Umgang damit und auch, dass nichtkommerzielle und selbstorganisierte Fortpflanzungspraktiken ausprobiert und weiterentwickelt werden.

Und wenn es um die Selektion von Behinderung via PID geht, hängt das für euch auch mit diesem queer-feministischen Zugang zusammen?

LH: Ja, ganz eindeutig, denn Queer-Feminismus bedeutet für uns auch, sich damit zu befassen, wie verschiedene gesellschaftliche Kategorien miteinander verschränkt sind. Letztlich ist mit Queer-Feminismus auch die Utopie verbunden, dass es eine große Vielfalt von Menschen gibt und es nicht mehr relevant ist, wer Mann und wer Frau, wer gesund und wer krank ist, wer deutsch und wer nicht deutsch, wer homo und wer hetero ist. Die Utopie ist also, dass klassische binäre Diskriminierungsformen, also Diskriminierungen, die auf der Frage beruhen „gehörst du zur Norm oder gehörst du nicht dazu?“, irgendwann unwichtig werden. Auf die PID bezogen ist uns wichtig zu thematisieren, dass hier die Unterscheidung in krank und gesund weiter fortgeschrieben wird, was wir klar ablehnen. Wir sehen dies auch in der deutschen Tradition des Nationalsozialismus und der Eugenik und finden es sehr wichtig, da wachsam zu sein. Wir wurden dafür kritisiert, dass unsere Position dem Recht von Frauen entgegensteht, zu wählen, ob sie ein Kind austragen möchten oder nicht. Diese Kritik war auch wichtig für uns, um unsere Position zu schärfen. Wir sind ganz klar für ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch aus welchen Gründen der Schwangeren auch immer und ohne Fristenregelung und Beratungszwang. Trotzdem finden wir es wichtig, uns gegen das Aussortieren von vermeintlich krankem oder vermeintlich weniger wertvollem Leben auszusprechen. Uns geht es nicht um Schuldzuweisungen auf der Ebene der einzelnen Frau, sondern darum eine gesellschaftliche Entwicklung sichtbar zu machen. Frauen werden dabei in wenig selbstbestimmte Situationen gezwungen, anstatt in ihren Entscheidungen unterstützt zu werden. Wenn Frauen beispielsweise als unverantwortlich hingestellt werden, weil sie eine Pränataldiagnostik ablehnen, oder auf dem Spielplatz beschimpft werden, weil sie ein behindertes Kind bekommen haben, entsteht ein Klima, in dem Selbstbestimmung nicht mehr möglich ist.

Als ihr die Aktion zum Thema vorgeburtliche Geschlechtsauswahl gemacht habt, war euer Slogan „Kinder überraschen“. Ihr habt das Logo der „Kinderüberraschung“ verfremdet. Später habt ihr diese Aktion kritisch überdacht und eingewandt, dass der Slogan ein Einfallstor für lebensschützerische Positionen sein könnte.1 Was waren die Bedenken?

KB: Wir haben uns ja dem Themenfeld allmählich angenähert und gemerkt, dass das überhaupt kein einfaches Terrain ist. Wir haben zwar auch „pro choice“ und „contra selection“ auf die Aufkleber geschrieben. Dennoch kann dieses „Kinder überraschen“ auch so verstanden werden, dass Kinder zu bekommen etwas Natürliches und Biologisches ist, in das der Mensch nicht eingreifen soll. In diesem Sinne könnten sich auch Lebensschützer, die sich in diesem Themenfeld ja sehr stark tummeln, auf unsere Aufkleber beziehen und sie völlig falsch auslegen.

Das Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik ist zwar jetzt beschlossen, aber derzeit ist noch offen, wie es in einer Rechtsverordnung umgesetzt wird. Haltet ihr es weiter für wichtig, politisch zum Thema PID aktiv zu sein?

KB: Wir finden das sehr wichtig. Auch wenn das Gesetz verabschiedet ist, müssen wir beobachten, wie es gesellschaftlich umgesetzt wird. Wird es Listen geben, für welche vermeintlichen Krankheiten PID möglich sein wird? Wer wird die PID in Anspruch nehmen? Wir finden es wichtig, diese Umsetzung öffentlich zu machen und das Themenfeld weiter zu begleiten. Es ist ja überhaupt nicht klar, was in Zukunft noch ausgedacht werden wird. Und die Tendenz, dass eine neoliberale Gesellschaft das Phantasma immer fitter und gesunder Menschen weiter fördert und alle ausgrenzt, die dem nicht gerecht werden, bleibt ja bestehen.
Das Interview führte Susanne Schultz.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
211
vom Mai 2012
Seite 24 - 25

Die Kategorie „schwerwiegend“ - ein schwerwiegendes Dilemma

Mit dem Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik wurde auch in Deutschland das Kriterium einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ als Grenzziehung zwischen erlaubt und verboten eingeführt. Dieses Kriterium definiert letztendlich, welches Leben als „lebenswert“ und welches als „nicht lebenswert“ gelten soll. Die Dilemmata, die aus einem solchen Kriterium entstehen, sind im angelsächsischen Raum bereits mit der Definition einer „serious genetic condition“ hinreichend bekannt: Selbst professionelle HumangenetikerInnen sind sich überhaupt nicht einig, welche Diagnosen überhaupt als „tödlich“, als „schwerwiegend“ oder als „nicht schwerwiegend“ einzustufen sind. Deutlich machte dies bereits 2002 eine umfangreiche internationale Studie.(1) 1.264 HumangenetikerInnen ordneten damals verschiedene Diagnosen diesen drei Kriterien zu. Es stellte sich heraus, dass beispielsweise 46 Prozent der chromosomalen oder genetischen Besonderheiten, die insgesamt von den Befragten als „schwerwiegend“ bezeichnet wurden, von anderen Befragten als „nicht schwerwiegend“ eingeordnet wurden. Bei 41 Prozent solcher als „schwerwiegend“ bezeichneten Diagnosen kamen andere zu dem Ergebnis, es handele sich um eine „tödliche“ Eigenschaft. Bei sehr vielen Eigenschaften kamen alle drei Zuschreibungen in den Antworten vor - so etwa auch bei Trisomie 21 (Down-Syndrom) oder Spina Bifida (Offener Rücken). Dass es in Deutschland höchstwahrscheinlich keine Liste geben wird, für welche Diagnosen die PID nun angewandt werden darf, hat also weniger mit dem Anliegen zu tun, bestimmte Eigenschaften nicht prinzipiell diskriminieren zu wollen. (Dann wäre das Gesetz nicht erlassen worden.) Vielmehr geht es ganz simpel darum, dass es eben nicht möglich ist, hellseherisch von abstrakten Diagnosen auf die konkreten Erfahrungen des Lebens mit bestimmten Genvarianten oder Chromosomen zu schlussfolgern. Die höchstwahrscheinlich kommende „Lösung“, nämlich bei der Entscheidung, ob etwas „schwerwiegend“ ist oder nicht, stärker die Wertungen der Paare selbst einzubeziehen, ändert allerdings gar nichts an dieser Situation. Aller Voraussicht nach führt dies einfach dazu - so etwa die Erfahrung in Großbritannien - dass nach und nach immer mehr genetische Eigenschaften von Bioethikkommissionen als „schwerwiegend“ zugelassen werden.(2)
(Susanne Schultz)
Fußnoten: (1) Dorothy Wertz/Bartha M.Knoppers (2002): Serious Genetic Disorders: Can or should they be defined? In: American Journal of Medical Genetics, 108:29-35. (2) Vgl. Susanne Schultz, Kathrin Braun, Erich Grießler (2007): The Governance of Genetic Testing. A non-antagonistic setting, „authentic publics” and moments of unease, EU-Forschungsbericht online: www.univie.ac.at/LSG/paganini/finals_pdf/WP3_FinalReport.pdf.

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