Fortschritt mit Rückschlägen
Zum aktuellen Stand viraler Gentherapien
Gentherapien zielen häufig auf die Heilung schwerer, kaum behandelbarer, genetischer Erkrankungen – entsprechend groß sind die Hoffnungen in die weitreichenden Erbguteingriffe. Doch Todesfälle und unerwartete Spätfolgen begleiten die klinische Entwicklung nach wie vor.
Trotz vieler Fortschritte bleiben die Auswirkungen experimenteller Gentherapien ungewiss. Foto: gemeinfrei auf pexels.com
Ein zukünftiger, klinischer Einsatz des vererbbaren Genome Editing – also der gentechnischen Veränderung humaner Keimzellen und Embryonen – ist ethisch hochumstritten. Anders verhält es sich mit der somatischen Gentherapie (siehe Kasten), die weltweit mittlerweile über 3.000 klinische Studien zählt. Die Sicherheitsprobleme der Vergangenheit scheinen auf den ersten Blick überwunden: Aktuell besitzen sieben Gentherapeutika eine europäische Marktzulassung. Doch der Anschein, Gentherapien wären inzwischen ungefährliche medizinische Routine, trügt.
Historische Fehlversuche
Erste erfolgreiche Erprobungen der humanen Gentherapie kamen in den 1990ern auf. Der plötzliche Tod des Probanden Jesse Gelsinger im Jahr 1999 war jedoch ein herber Rückschlag für das neue Therapiekonzept. Nachdem der vergleichsweise wenig von seiner Stoffwechselstörung betroffene 18-Jährige eine recht hoch dosierte Gentherapie per Infusion erhielt, verstarb er binnen vier Tagen. Sein Immunsystem richtete sich in einer bis heute ungeklärten Intensität gegen die manipulierten Körperzellen. Die übrigen 17 Teilnehmer*innen hatten größtenteils geringere Dosen des eingesetzten Adenovirus-Vektors erhalten und keine vergleichbare Reaktion gezeigt.1
Auch in der Folgedekade zeigten weitere experimentelle Gentherapien nicht hinnehmbare Nebenwirkungen. Versuche, schwere vererbbare Erkrankungen wie die Immunschwäche X-SCID oder das Wiskott-Aldrich-Syndrom mit Hilfe von Vektoren aus der Gruppe der Retroviren zu behandeln, erbrachten zwar klinische Erfolge, jedoch entwickelten 5 der 20 und 7 der 10 kindlichen Proband*innen in den Jahren der Nachbeobachtung Leukämien – teils mit tödlichem Ausgang. DNA-Analysen der betroffenen Zellen offenbarten, dass die verwendeten Vektoren denkbar ungünstige Stellen bevorzugten, um ihre therapeutische Genfracht in das Genom der Proband*innen zu integrieren. Die dort auffindbaren Gene erzeugen Proteine, die maßgeblich an der Kontrolle der Zellteilung beteiligt sind. Ihre Funktion oder Menge kann durch eine nahe Integration verändert werden.2, 3
Gefährliche Immunreaktionen und die ungewollte Veränderungen der DNA der Zellen der behandelten Person stellen nach wie vor zentrale Probleme der viralen Gentherapie dar. Ihnen soll mit der Entwicklung immer neuer Vektoren begegnet werden. Neben den Gruppen der Retro- und Adenoviren werden Adeno-assoziierte Viren (AAV) am häufigsten zu gentherapeutischen Vektoren umfunktioniert.4
Adeno-assoziierte Viren als Vektoren
Beginnend im Jahr 1965 wurden bisher über 1.000 natürliche AAV-Varianten entdeckt und klassifiziert. Zur zellulären Vermehrung sind diese nicht erkrankungsrelevanten Viren von einer zeitgleichen Infektion mit sog. Helferviren, z.B. aus der Gruppe der Adenoviren, abhängig. Das minimalistische AAV-Genom in seiner – selbst für Viren – winzigen Proteinkapsel enthält nicht alle nötigen Gene. AAV-Vektoren wurden seit 1995 in über 250 klinischen Studien zur Behandlung diverser Erkrankungen erprobt, es kam zur Zulassung dreier AAV-Präparate. Die Nutzung von AAV-Vektoren verspricht eine erhöhte Sicherheit.
Im Vergleich zu adenoviralen Vektoren gelten sie als schwächere Stimulatoren des Immunsystems. Ein Grund wird in ihrer geringen Bereitschaft, antigenpräsentierende Zellen zu verändern, vermutet. Diese „Wächter des Immunsystems“ schlagen Alarm, wenn sie fremde Molekülfragmente – z.B. aus einer viralen Proteinkapsel – entdecken. Für den Einsatz in der Gentherapie werden die Viren so verändert, dass sie keine ursprüngliche virale DNA enthalten. Nach einer AAV-basierten Therapie entstehen also keine viralen Proteine, die immunologische Reaktionen weiter befeuern könnten. Anders als beim Einsatz von Retroviren wird das transportierte Erbgut meistens nicht in die DNA der Wirtszelle eingebaut. Das Risiko, dass sich eine therapierte Zelle in Richtung einer wuchernden Krebszelle entwickelt, ist also geschmälert. Episomale, also außerhalb des Erbguts der Wirtszelle vorliegende, DNA wird vor der Zellteilung allerdings nicht mit dem chromosomalen Erbgut verdoppelt. Nach einer AAV-basierten Gentherapie nimmt der Anteil der veränderten Zellen mit der Zeit also durch Zellteilungen und Zelltode ab – und mit ihm die im Körper herstellbare Menge der therapeutischen Protein-Version. Einmal erzielte Behandlungseffekte sind womöglich nicht von Dauer.5
AAV-Vektoren als immunologische Todesfalle
Die Sicherheit der AVV-Vektoren kann jedoch spätestens seit Sommer 2020 nicht mehr als etabliert angesehen werden. Grund ist eine gentherapeutische Studie zur Behandlung der X-chromosomalen, myotubulären Myopathie – einer angeborenen Muskelschwäche, die das selbständige Saugen, Schlucken und Atmen für betroffene Kinder unmöglich machen kann. Einige versterben bereits im frühen Kleinkindalter, während andere Verbesserungen ihrer Gesundheit und sogar das Erwachsenenalter erreichen können. Die Symptome entstehen durch eine genetische Veränderung, die eine Fehlfunktion des Proteins Myotubularin erzeugt. Dessen vielseitige, zelluläre Funktionen sind in Teilen verstanden – für die strukturierte Entwicklung und den Erhalt des Muskelgewebes ist es unabdingbar.
Um Patient*innen ein neues Myotubularin-Gen bereitzustellen, entwickelt der Pharmakonzern Audentes – seit Kurzem Teil des Konzerns Astellas – die AAV8-basierte Gentherapie AT132. Für die kombinierte Phase I/II Studie wurden 23 Jungen unter sechs Jahren ausgewählt und intravenös behandelt. Da Gentherapien oft auf seltene Erkrankungen zielen und prinzipiell permanente (Neben-)Wirkungen haben, finden klinische Studien i.d.R. in Kleingruppen unter Ausschluss gesunder Testpersonen statt. Oft sind jahrelange Nachbeobachtungszeiten erforderlich. 2019 gab Audentes noch mehrere Erfolgsmeldungen bekannt. Die zehn bis dahin behandelten Kinder konnten innerhalb eines Jahres bedeutende motorische Entwicklungsschritte wie das freie Sitzen oder Stehen erreichen. Ein Großteil war nicht mehr auf eine Beatmung angewiesen. Im Sommer 2020 entwickelten sich die Ereignisse jedoch anders. Drei der nunmehr 23 behandelten Kinder begannen drei bis vier Wochen nach ihrer AT132-Infusion zunehmende Leberfehlfunktionen zu entwickeln und starben letztlich an inneren Blutungen bzw. Sepsis. Sie hatten eine bisher kaum erprobte Hochdosis von 300 Billionen AAV-Partikeln je Kilogramm Körpergewicht erhalten.6
Gentherapie-Forscher James Wilson, unter dessen Studien-Leitung Gelsinger 1999 verstarb, sieht in diesen Todesfällen Parallelen zu seinen 2018 publizierten Primaten-Versuchen. Einer von drei Affen wurde vier Tage nach einer hoch dosierten, intravenösen, AAV9-basierten Infusion mit einem systemischen Schock und schweren Leberschäden eingeschläfert. Die Blutplättchen-Zahlen und Leberwerte der beiden anderen Versuchstiere normalisierten sich nach 14 Tagen. Wilson warnte daraufhin vor einer bisher unerkannten, immunologischen Gefahr durch hoch dosierte AAV-Infusionen.
Weitere Hinweise dazu zeigten sich bereits 2019, als einzelne Proband*innen während klinischer AAV9-Studien – z.B. zur Therapie der Duchenne-Erkrankung – immunassoziierte Störungen der Blutgerinnung und Schäden an Leber oder Nieren zeigten. Die drei Todesfälle um AT132 unterstreichen die Toxizität nun allzu deutlich. Vermutet wird, dass gegen AAV-Kapseln gerichtete Antikörper an verabreichte AAV-Vektoren binden und komplexe, immunologische Abwehrreaktionen auslösen, die – wenn außer Kontrolle – zu lebensbedrohlichen Gewebeschäden, Entzündungs- und Schockzuständen führen. Jüngste Forschungen ergaben, dass auch Gelsingers Tod mit einem solchen Mechanismus einherging.7
Die Frage nach der Krebsgefahr
Auch die genotoxische Sicherheit der AAV-Vektoren geriet 2020 erneut in Zweifel. Im Dezember stoppte die US-Aufsichtsbehörde FDA die Phase III Studie der AAV5-Gentherapie AMT-061 der Pharmafirma uniQure. Sie soll die Gerinnungsstörung Hämophilie B (Bluterkrankheit) durch Bereitstellen einer funktionalen Version des Faktors IX behandeln – ein am Auslösen der Blutgerinnung beteiligtes Kontrollprotein. Bei einem der 54 Proband*innen wurde ein Jahr nach der Behandlung ein primäres Leberzellkarzinom festgestellt. Die von uniQure beauftragte Analyse von 220.000 entnommenen Tumorzellen ergab 60 Zellen, deren Chromosomen an verschiedenen Stellen AMT-061-Integrationen aufwiesen.8
Überraschend ist das nicht: Schätzungen zufolge verbleibt jedes tausendste AAV-Vektor-Genom nicht episomal im Zellkern, sondern integriert sich eben doch ins zelluläre Erbgut. Da es keine eigene Virus-DNA enthält, die den Einbau ins Wirtsgenom erleichtern könnte, wird vermutet, dass zelleigene DNA-Reparatur-Prozesse verantwortlich sind. Aus diversen Studien ist bekannt, dass AAV-Vektor-Integrationen bevorzugt in instabilen, z.B. in stark genutzten DNA-Bereichen auftreten.9 Laut uniQure fanden sich keine Beweise für bevorzugte AMT-061-Integrationsstellen oder die beschleunigte Teilung betroffener Zellen. Da die jeweils benachbarten Gene bisher nicht mit der Krebsform in Verbindung standen, sieht uniQure der Fortsetzung der fast beendeten Studie entgegen. Vier weitere AAV-basierte Hämophilie-Therapien von anderen Firmen konkurrieren aktuell um die erste Zulassung.
Der Beigeschmack aber bleibt: Eine kurz zuvor erschienene Langzeitstudie schürt ganz ähnliche Bedenken. Neun an Hämophilie A erkrankte Hunde wurden mit AAV8/9-basierten Gentherapien behandelt und bis zu zehn Jahre beobachtet. Ihre Blutproben zeigten eine relevante Langzeit-Produktion des betroffenen Proteins. Im vierten Jahr stieg die Produktion bei zwei Tieren jedoch allmählich an und erreichte innerhalb der Folgejahre das zwei- bis dreifache Ausmaß. Bei zwei weiteren Hunden deute sich dieses überraschende Phänomen ebenfalls an – eine Erklärung fehlt. DNA-Analysen der Leberzellen ergaben zahlreiche Vektor-Integrationen. Bei den meisten Hunden wurden gleich mehrere der betroffenen Zellen in erhöhter Stückzahl gefunden – sie hatten sich häufiger geteilt. Unter ihnen tauchten einige Integrationsstellen immer wieder auf – insgesamt konnten sieben betroffene Gene gefunden werden, die besonders häufig oder besonders stark in eine beschleunigte Zellteilung involviert waren. Sie alle wurden bereits mit der Entstehung von Krebszellen in Verbindung gebracht.10
Einige Forschende halten die von der FDA vorgegebene, fünfjährige Nachbeobachtungszeit ob dieser Ergebnisse für zu kurz bemessen, um das Krebsrisiko humaner AAV-Gentherapien ausreichend einzuschätzen. Auch eine vorsichtige Dosierung wurde immer wieder angemahnt. Das vergangene Jahr dürfte den eigentlich guten Ruf der AAV-Vektoren nachhaltig beschädigt haben.
- 1Raper, S. et al. (2003): Fatal systemic inflammatory response syndrome in a ornithinetranscarbamylase deficient patient following adenoviral gene transfer. In: Molecular Genetics and Metabolism, 80, S.148-158.
- 2Cavazzana, M. et al. (2016): Gene Therapy for X-Linked Severe Combined Immunodeficiency: Where Do We Stand? In: Human Gene Therapy, 27, 2, S.108-116.
- 3Braun, C. et al. (2014): Gene therapy for Wiskott-Aldrich syndrom – long-term efficacy and genotoxicity. In: Science Translational Medicine, 6, 227ra33.
- 4Bulcha, J. et al. (2021): Viral vector platforms within the gene therapy landscape. In: Signal Transduction Targeted Therapy, 6, 53.
- 5Naso, M. et al. (2017): Adeno-Associated Virus (AAV) as a Vector for Gene Therapy. In: BioDrugs, 31, 4, S.317-334.
- 6Vinluan, F. (21.08.20): Astellas Reports Third Patient Death in Audentes Gene Therapy Study. Online: www.xconomy.com [letzter Zugriff: 08.04.21].
- 7Wilson, J. / Flotte, T. (2020): Moving Forward After Two Deaths in a Gene Therapy Trial of Myotubular Myopathy. In: Human Gene Therapy, 31, 13-14, S.695-696.
- 8aiser, J. (22.12.2020): Liver tumor in gene therapy recipient raises concerns about virus widely used in treatment. Online: www.sciencemag.org [letzter Zugriff: 08.04.21].
- 9Deyle, D. / Russell, D. (2009): Adeno-associated virus vector integration. In: Current Opinion in Molecular Therapeutics, 11, 4, S.442-447.
- 10Venditti, C. (2021): Safety questions for AAV gene therapy. In: Nature Biotechnology, 39, 1, S.24-26.
Theresa Roy war von Oktober 2020 bis April 2021 Redakteurin des GID und Mitarbeiterin im GeN.
Somatische Gentherapie mit viralen Vektoren
Durch die nicht vererbbare, gentechnische Veränderung von Körperzellen bieten somatische Gentherapien eine Möglichkeit, genetische Erkrankungen zu behandeln. Solche Erkrankungen gehen meist auf eine einzige Genvariante zurück, die an Nachkommen vererbt werden kann. Betroffene Gene beherbergen veränderte Protein-Baupläne oder sind der Zelle erschwert bzw. erleichtert zugänglich. Das von der Genvariante codierte Protein entsteht so in einer veränderten Version, mit veränderter Funktion bzw. in einer ungünstigen Menge und erfüllt seine Aufgabe im Körper nicht oder nicht richtig. Resultierende Symptome können schwerwiegend sein und die Lebenserwartung deutlich reduzieren.
Eine Gentherapie kann den Zellen des*r Patient*in eine alternative Genvariante zur Verfügung stellen und ihnen so die Herstellung einer günstigeren Version des betroffenen Proteins ermöglichen. Oft soll bereits eine einmalige Anwendung genügen, um eine jahrzehntelange Produktion in angemessenen Mengen zu erreichen.
Um das therapeutische Gen über die Zellmembran hinweg ins Zellinnere zu schleusen, werden verschiedene Techniken angewendet. Vor allem Viren kommen zum Einsatz, schließlich entspricht diese Aufgabe ihrem natürlichen Verhalten. Als künstlich modifizierte Vektor-Viren werden sie zum gentechnischen Werkzeug. Bepackt mit therapeutischem Genmaterial kontaktieren und überwinden sie die Membran der Patient*innen-Zellen. Je nach Behandlungsziel und verwendetem Vektor soll die mitgeführte Erbsubstanz in den chromosomalen DNA-Strängen der therapierten Zellen Platz finden (Integration) oder episomal – also als zusätzliches DNA-Molekül – neben dem ursprünglichen Erbgut im Zellkern vorliegen. Die Fähigkeit zur zellulären Vermehrung wurde den vektorisierten Viren durch teilweises Entfernen ihrer ursprünglichen Gene genommen, sodass nach der Therapie keine neuen Vektor-Viren im Körper entstehen.
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