Klein, aber oho!
Neue Erkenntnisse zu Mutationen
Mutationen sind eine Grundlage der Evolution und der Zucht. Neue Studien zeigen, dass sie weniger zufällig im Genom auftreten als lange angenommen. Durchaus nachvollziehbar, weil auch kleinste Veränderungen auf der DNA große Wirkung haben können.

Die Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana) ist seit den 1940er Jahren der pflanzliche Modellorganismus der Genetik.
Die Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie hat die Backhefe (Saccharomyces cerevisiae) zur Mikrobe des Jahres 2022 gekürt. Fotos: gemeinfrei auf flickr.com und commons.wikimedia.org.
Genetische Variabilität ist die Basis für Evolution und Zucht. Unterschiedliche Eigenschaften zwischen den einzelnen Organismen, wenn auch noch so klein, sind der Ansatzpunkt für Selektion und Anpassung. Der Motor der genetischen Variabilität ist eine Vielzahl biochemischer Prozesse. Neben den schon lange bekannten Phänomenen wie der Rekombination – d.h. Neuverteilung von genetischem Material während der sexuellen Fortpflanzung – oder der Entstehung von Mutationen, wurden von Wissenschaftler*innen in den letzten Jahrzehnten etliche weitere Mechanismen beschrieben. So ist der sog. horizontale Gentransfer in mehrzelligen Organismen anscheinend deutlich verbreiteter als bisher angenommen. Hierbei können DNA-Fragmente in das Genom einer anderen Art oder einer anderen biologischen Einheit übertragen werden. Genetisch hoch variable Elemente wie Transposons „springen“ im Genom und ändern ihre Position.1 Dies kann zum Teil autonom erfolgen, d.h. ihre DNA-Sequenz kodiert für die „Werkzeuge zum Springen“. Zudem können Organismen durch epigenetische Regulation flexibel auf Umwelteinflüsse reagieren. Epigenetik bezeichnet reversible chemische Veränderungen von einzelnen DNA-Bausteinen, die die Aktivität von Genen beeinflussen, ohne die DNA-Sequenz selbst zu verändern. All diese Mechanismen zeigen: Das Genom ist mitnichten starr, sondern dynamisch.
Unumkehrbare Veränderungen, was Mutationen zweifelsfrei sind, haben in einem funktionierenden System meistens negative Folgen für das Individuum, auch wenn einige möglicherweise einen Vorteil für die Population bringen. Denn „Evolution ist ein Populationskonzept. Ein Individuum entwickelt sich nicht weiter; nur Populationen entwickeln sich angesichts der genetischen Veränderungen, die sich von einer Generation zur nächsten ansammeln.“2 In der Evolutionstheorie dominiert seit dem zwanzigsten Jahrhundert die Vorstellung, dass Mutationen völlig zufällig auftreten.3 In den letzten Jahrzehnten mehren sich jedoch die Hinweise auf die Existenz von Strukturen im Genom, die Einfluss auf die Mutationswahrscheinlichkeit in unterschiedlichen Bereichen der DNA haben. So ist bekannt, dass in Regionen, in denen die DNA-Basenabfolge „Cytosin-Guanin“ sich häufig wiederholt (so genannte CG-Inseln) oder andere sich wiederholenden Sequenzen, eine höhere Mutationsrate aufweisen als andersgestaltete Regionen. Die Mutationsanfälligkeit einer DNA-Sequenz kann auch durch epigenetische Marker oder unterschiedliche Ausprägungen von zelleigenen Reparaturmechanismen beeinflusst werden.
Mutationen sind gerichteter als gedacht
Diese neueren Beobachtungen haben eine Gruppe von Wissenschaftler*innen des Max-Planck-Instituts für Biologie Tübingen und der Universität von Kalifornien Davis in den USA dazu angeregt genauer hinzusehen. Ihre Studie, die Anfang des Jahres veröffentlich wurde, sorgte für Aufsehen in der Wissenschafts-Community.4 Denn den Forscher*innen zufolge ist der Einfluss der genannten Mechanismen größer als gedacht: Wo im Genom eine Veränderung entsteht, ist durch über 90 Prozent durch epigenetische und physikalische Merkmale bestimmt und nicht, wie angenommen durch nachfolgende Selektionsprozesse. „Dies ist eine völlig neue Perspektive auf die Entstehung von Mutationen und die Art und Weise, wie die Evolution funktioniert“, kommentiert Detlef Weigel, wissenschaftlicher Direktor am Max-Planck-Institut für Biologie und Hauptautor der Studie._a
In dem Versuch untersuchten die Autor*innen der Studie die DNA-Sequenz von über 500 Mutationslinien der Pflanze Arabidopsis thaliana, der Acker-Schmalwand, über mehrere Generationen hinweg. Sie verwendeten eine Methode der experimentellen Biologie bei der immer nur ein Samen die nächste Pflanzengeneration begründet. Hierdurch können Selektionsprozesse als Erklärung für die Ergebnisse zu weiten Teilen ausgeschlossen werden. Mutationen kamen statistisch gesehen seltener in den Sequenzen von Genen vor (rund 60 Prozent weniger im Vergleich zu Regionen zwischen Genen) und noch seltener traten sie in essentiellen Genen auf, also Gene die für die Pflanze überlebenswichtig sind. Die Ergebnisse bedeuten, dass die Entstehung von Mutationen in Regionen unterdrückt wird, in denen Mutationen wahrscheinlich nachteilig sind für den Organismus. Das sind Bereiche der DNA in denen Gene liegen, die lebenswichtig sind, weil sie z.B. für die Synthese von Proteinen in der Zelle benötigt werden. Im Gegensatz dazu wurden besonders viele Mutationen in Bereich der DNA gefunden, die z.B. für Anpassungen an Umwelteinflüsse wichtig sind.
Das Genom beeinflusst seine Evolution
„Die Pflanze hat einen Mechanismus entwickelt, um ihre wichtigsten Gene vor Mutationen zu schützen“, sagt J. Grey Monroe, einer der Autoren der Studie. „Das ist spannend, denn wir könnten diese Entdeckungen vielleicht nutzen, um darüber nachzudenken, wie man menschliche Gene vor Mutationen schützen kann. In Zukunft könnte man damit vorhersagen, welche Gene am besten für die Züchtung geeignet sind, weil dort neue Mutationen besonders wahrscheinlich sind oder welche Gene beim Menschen am ehesten Krankheiten verursachen._b
Das auf den ersten Blick vermeintlich unregulierte Natürliche verläuft bei näherer Beobachtung oft in überraschend kontrollierten Bahnen. Der Chemiker Martin Neukamm von der gemeinnützigen Organisation AG EvoBio schreibt im Laborjournal zu den Ergebnissen der Studie: „Es scheint immer klarer zu werden: Das in der Evolution entstandene Genom ist ein komplexes System, das seine eigene, weitere Evolution beeinflusst.“6
Auswirkungen von Mutationen
Mutationen treten also nicht so zufällig auf, wie häufig außerhalb der Fachwelt angenommen wird. Es scheint auch durchaus plausibel, dass sich in der Evolution Mechanismen durchgesetzt haben, die vulnerable Bereiche der DNA schützen. Schon kleine Mutationen, bei denen nur eine Stelle in der DNA-Sequenz abweicht, sog. Punktmutationen, können schwere Folgen für den Organismus haben – oder gar keine. Ein Beispiel aus der Humangenetik ist die genetisch bedinge Blutkrankheit Sichelzellanämie. Bei dem Krankheitsbild verformen sich die roten Blutkörperchen durch ein mutiertes Hämoglobin sichelartig. Die sichelförmigen Zellen neigen zum Verklumpen in den kleinen Blutgefäßen und begünstigen damit eine schlechtere Sauerstoffversorgung der Organe. Menschen, mit diesem Krankheitsbild sind häufig in ihrer körperlichen Leistung und Immunantwort eingeschränkt. Je nach Ausprägung und Behandlungsmöglichkeiten kann eine Sichelzellanämie auch tödlich sein.7
Die Anlagen zu einer Sichelzellanämie beruhen auf einer Punktmutation im Gen für Hämoglobin. Ein Nukleotid mit der Base Adenin wird mit der Base Thymin ausgetauscht. Dies bewirkt die Veränderung von der Aminosäure Glutaminsäure hin zu Valin. Dieser Wechsel einer Base entspricht in der Folge einer Veränderung von etwa 0,1 Prozent der Molekularmasse des Proteins.
Haben auch stille Mutationen negative Folgen?
Änderungen gleicher „Größe“ auf der DNA-Ebene stehen in sehr unterschiedlichem Verhältnis zum Ausmaß der Veränderung auf anderen Ebenen des Organismus.8 Punktmutationen können genauso gar keine Auswirkungen haben. Ein Nukleotid weiter in der Sequenz des Hämoglobin-Gens hätte eine Veränderung von einem Guanin hin zu einem Adenin wiederum keine Auswirkungen auf die entstehende Aminosäure – dieses Phänomen wird auch „stille Mutation“ genannt. Zumindest lautet so der bisherige wissenschaftliche Konsens. Doch Wissenschaft ist dynamisch, beruht auf Hypothesen und Ergebnissen, die immer nur im Kontext der technischen Möglichkeiten, der jeweiligen Zeit und den entsprechenden gesellschaftlichen Debatten zu betrachten sind.
In einer neuen Studie im Fachmagazin Nature behaupteten Wissenschaftler*innen der Abteilung Ökologie und Evolutionsbiologie der Universität von Michigan und der Stanford Universität, Kalifornien, dass auch Mutationen, die keine Veränderung der Aminosäure mit sich bringen, negative Konsequenzen für den Organismus haben können.9 Die Wissenschaftler*innen testeten die Auswirkungen von Punktmutationen in 21 Genen auf die Fitness des Modellorganismus Hefe (Saccharomyces cerevisiae) durch die Erzeugung von 8.341 verschiedenen Mutationstypen. Die von den Forscher*innen ausgewählten Gene sind nicht essentiell für das Überleben, reduzieren jedoch das Wachstum der Hefe, wenn sie nicht einwandfrei funktionieren. Das Experiment zeigte, dass drei Viertel der Mutanten mit stillen Mutationen eine reduzierte Fitness aufwiesen. Bei stillen- als auch proteinstrukturverändernden Mutationen war häufig die mRNA-Expression des mutierten Gens gestört.10 Diese erstaunlichen Ergebnisse haben in der Fachwelt für Aufmerksamkeit gesorgt. Einige Wissenschaftler*innen bezweifeln die Ergebnisse und ihre Interpretation. So scheint es Schwachstellen im Versuchsaufbau zu geben, wobei es im Konkreten versäumt wurde, die relevanten Wildtypen mit den Mutanten zu vergleichen. Somit könnten die Ergebnisse von Shen und Kolleg*innen auch nur auf „Hintergrundrauschen“ basieren.11
Die neuesten Erkenntnisse zu Mutationen verdeutlichen einmal mehr die Komplexität der Zusammenhänge und Abläufe innerhalb der DNA, die stets in Abhängigkeit von äußeren Umständen stattfinden. Damit stärken sie die Annahme, dass Eingriffe auf der DNA mit besonderer Vor- und Weitsicht behandelt werden müssen. Auch ohne menschliches Zutun passiert enorm viel auf der DNA. Problematisch wäre es allerdings, dies als Argument der Natürlichkeit anzuführen, um Anwendungen der neuen Gentechnik zu befürworten. Denn gerade der gezielte Eingriff und der Maßstab, in dem die DNA verändert werden kann, gilt es bei dieser neuen Technologie zu bewerten und unterscheidet sie von allem vorher Dagewesenen.12
- 1Fambrini, M./Usai, G./Vangelisti, A. et al. (2020): The plastic genome: The impact of transposable elements on gene functionality and genomic structural variations. In: genesis. Vol: 58, e23399. https://doi.org/10.1002/dvg.23399.
- 2Russo, C.A.M./André, T. (2019): Science and evolution. In: Genetics and Molecular Biology, Vol. 42, Nr. 1, S. 120-124. https://doi.org/10.1590/1678-4685-GMB-2018-0086.
- 3Futuyma, D. J. (1986): Evolutionary Biology 2nd edn, Sinauer.
- 4Monroe, J.G. Srikant, T./Carbonell-Bejerano, P. et al. (2022): Mutation bias reflects natural selection in Arabidopsis thaliana. In: Nature, Vol. 602, S. 101–105. https://doi.org/10.1038/s41586-021-04269-6.
- _aMax-Planck-Gesellschaft (12.01.22): Pflanzen vermeiden gefähr- liche Mutationen. Online: www.kurzelinks.de/gid262-jc [letzter Zugriff: 26.07.22].
- _bMax-Planck-Gesellschaft (12.01.22): Pflanzen vermeiden gefähr- liche Mutationen. Online: www.kurzelinks.de/gid262-jc [letzter Zugriff: 26.07.22].
- 6Martin Neukamm (11.02.22): Sind Mutationen mehr als nur Zufall? Online: www.kurzelinks.de/gid262-jd [letzter Zugriff: 26.07.22].
- 7Evan M. Braunstein (04.19): Sichelzellanämie (Hämoglobin-S-C-Krankheit). Online: www.kurzelinks.de/gid262-je [letzter Zugriff: 26.07.22].
- 8Heinemann, J.A./Paull, D.J./Walker, S./Kurenbach, B. (2021): Differentiated impacts of human interventions on nature: Scaling the conversation on regulation of gene technologies. In: Elementa: Science of the Anthropocene, Vol. 9, 00086. https://doi.org/10.1525/elementa.2021.00086.
- 9Shen, X./Song, S./Li, C. et al. (2022): Synonymous mutations in representative yeast genes are mostly strongly non-neutral. In: Nature, Vol. 606, S. 725–731. https://doi.org/10.1038/s41586-022-04823-w.
- 10Die mRNA ist eine komplementäre Kopie des Genabschnittes von der DNA. Sie wird aus dem Zellkern hinaustransportiert und dient im Zellplasma als Vorlage zur Proteinsynthese.
- 11Dhindsa, R.S./Wang, Q./Vitsios, D. et al. (2022): A minimal role for synonymous variation in human disease (Preprint). In: bioRxiv, https://doi.org/10.1101/2022.07.13.499964.
- 12Jack Heinemann (29.04.2021): Genetic technologies: safety and risk correlate with scale, not naturalness. Online: www.kurzelinks.de/gid262-jf [letzter Zugriff: 26.07.22].
Judith Düesberg ist Ökologin und Mitarbeiterin des GeN.