Organmodelle in der Petrischale

Möglichkeiten und Herausforderungen der Forschung mit Organoiden

Organoide sind 3-D-Zellstrukturen in der Petrischale, deren Zelltyp, Funktion und räumliche Anordnung bestimmten Organen ähneln. Dabei sind sie aber deutlich weniger komplex. Die mit ihnen verbundenen Herausforderungen werden bislang in Deutschland wenig diskutiert.

In den letzten Jahren wurden Techniken entwickelt, die die Herstellung sog. Organoide ermöglichen. Diese dreidimensionalen Zellstrukturen auf Basis von Stammzellen dienen der Forschung als Modellsysteme für unterschiedliche Organe, zu denen sie Ähnlichkeiten in Hinblick auf wesentliche Zelltypen, deren räumliche Anordnung und spezifische Funktionen aufweisen. Humane Organoide gibt es bereits für so unterschiedliche Organe wie Magen, Darm, Pankreas, Nieren, Lunge und Gehirn. Forschende gehen davon aus, dass grundsätzlich für alle Organe Organoide hergestellt werden können. Dabei repräsentiert ein Organoid häufig kein ganzes Organ, sondern nur bestimmte Aspekte – wie einzelne Regionen, Strukturen oder Funktionen –, sodass für ein Organ verschiedene Organoide mit unterschiedlichen Eigenschaften erzeugt werden können. Organoide des menschlichen Gehirns können bspw. dessen unterschiedliche Regionen in frühen Entwicklungsstadien nachbilden.1

Zur Gewinnung von Organoiden

Organoide können mit jeweils unterschiedlichen Techniken aus zwei verschiedenen Arten von Stammzellen gewonnen werden: aus gewebespezifischen (adulten) Stammzellen oder aus pluripotenten Stammzellen. Gewebsspezifische Stammzellen dienen der Regeneration von Geweben im Körper und sind auf die Bildung der dort vorkommenden Zelltypen festgelegt. Pluripotente Stammzellen können hingegen alle der über 200 verschiedenen Zelltypen des menschlichen Körpers bilden. Sie werden entweder aus Embryonen gewonnen (embryonale Stammzellen) oder durch die sog. Reprogrammierung entnommener Körperzellen erzeugt (induzierte pluripotente Stammzellen). Bereits auf einen Typ festgelegte Zellen werden hierbei im Labor in einen stammzellartigen Zustand zurückversetzt. Bei adulten Stammzellen wird die Bildung von Organoiden durch ein Nährmedium angeregt, das die zelluläre Umgebung des Ursprungsgewebes nachahmt. Bei pluripotenten Stammzellen hingegen werden zunächst die Schritte der Organentstehung während der Embryonalentwicklung nachgestellt, wobei sie gezielt zur Selbstorganisation und Bildung organspezifischer Zelltypen angeregt werden. Beide Arten der Organoidherstellung bieten außerdem die Möglichkeit, gentechnische Veränderungen vorzunehmen.

Wissenschaftliche Herausforderungen

Die Herstellung von Organoiden ist inzwischen gut etabliert, stellt Forschende aber weiterhin vor große Herausforderungen. Organoide aus pluripotenten Stammzellen sind zwar komplexer aufgebaut als solche aus adulten – im Vergleich zu vollständigen Organen sind beide aber deutlich einfacher beschaffen. Trotz einiger Weiterentwicklungen werden Organoide die Komplexität ihnen entsprechender Organe auch auf absehbare Zeit nicht erreichen, da fundamentale Prozesse der biologischen Entwicklung nach wie vor unzureichend verstanden sind. Organoide enthalten i.d.R. nicht alle Zelltypen eines Organs – funktionsfähige Blutgefäße, Immunzellen oder Nervengewebe fehlen. Die Validität der Forschungsergebnisse, d.h. ihre Übertragbarkeit auf die Organsysteme des Menschen, ist daher fraglich. Allerdings trägt die reduzierte Komplexität auch dazu bei, dass bestimmte Forschungsfragen überhaupt erst experimentell überprüft und standardisiert beantwortet werden können. Des Weiteren können Organoide Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Geweben und Organen schlecht oder gar nicht nachbilden. Um dennoch Interaktionsstudien zu ermöglichen, arbeitet man an sog. Multiorgan-Chips, die mehrere Organoide auf einem gemeinsamen Träger miteinander verbinden. Eine weitere, aktuelle Herausforderung ist die Automatisierung des Herstellungsprozesses, um genug Organoide für groß angelegte Studien oder den medizinischen Einsatz zu gewinnen.

Anwendungspotenziale

Die Organoidforschung steht somit vor hohen technischen Hürden und offenen wissenschaftlichen Fragen. Gleichwohl wird Organoiden ein großes medizinisches Potenzial zugeschrieben. Dieses reicht von der Grundlagenforschung, bspw. zu Erkrankungen oder zur Organentstehung, über ihre Nutzung als Testsysteme für die Medikamentenentwicklung und Toxizitätsprüfung, bis hin zu Zukunftsvisionen der regenerativen Medizin in Form von Zell, Gewebe- und Organersatz. Als Krankheitsmodelle können Organoide der Erforschung von genetischen, aber auch von Krebs- und Infektionskrankheiten dienen. So kommen gegenwärtig Organoide in Studien zu Covid-19 zum Einsatz, um den Ablauf der Erkrankung zu modellieren oder bereits etablierte Medikamente hinsichtlich einer Wirksamkeit gegen SARS-Cov-2 zu testen. Da sie direkt aus den Zellen von Patient*innen gewonnen werden, könnten patient*innenspezifische Organoide als individuelle Modellsysteme neue Perspektiven für die personalisierte Medizin eröffnen. Bereits jetzt werden in den Niederlanden, finanziert durch das dortige Gesundheitssystem, Organoide von Mukoviszidosepatient*innen hergestellt, um an ihnen verschiedene Medikamente zu testen und so das für die Person am besten geeignete auszuwählen. Die Vorstellung, dass personalisierte Organoide beim Mangel transplantierbarer Organe Abhilfe schaffen könnten, liegt allerdings noch weit jenseits des Machbaren. Zwar gibt es vielversprechende Versuche mit Organoiden der Netzhaut und des Pankreas. Es handelt sich jedoch nach wie vor in erster Linie um reduktionistische Modellsysteme. Das Fehlen von Blutgefäßen limitiert zudem die Größe von Organoiden und führt dazu, dass Zellen in ihrem Inneren nicht mit Nährstoffen versorgt werden und absterben. Ein Lösungsansatz besteht in sog. Chimärenversuchen, bei denen humane Organoide in Tiere transplantiert werden. So zeigten menschliche Hirnorganoide nach Transplantation in Nagetier-Gehirne bereits eine erhöhte Größe und Komplexität. Eine weitere Hoffnung ist, dass Organoide die Evidenzlücke zwischen Tiermodellen und dem Menschen schließen. Organoidbasierte Medikamentenstudien und Toxizitätstests könnten eine bessere Übertragbarkeit auf den Menschen bieten als solche am Tiermodell oder in zweidimensionaler Zellkultur. Der Einsatz von Organoiden könnte hier langfristig eine Reduktion von Tierversuchen ermöglichen, sofern es im Rahmen der Organoidforschung, etwa bei Chimärenversuchen, nicht zu einer Erhöhung der Tierversuchszahlen kommt.

Ethische und rechtliche Fragen

Gesellschaftliche Fragen im Zusammenhang mit Organoiden werden in Deutschland bislang wenig diskutiert. Zu den bereits aus anderen biomedizinischen Kontexten bekannten Herausforderungen gehören neben der Erzeugung von Mensch-Tier-Chimären und anderen Tierversuchen die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen, der Einsatz des Genome Editings, der Umgang mit Biobanken und Datenschutz sowie die Verteilung von Forschungsgeldern und medizinischen Ressourcen, sowohl national als auch global betrachtet. Ethische Fragen, die für die Organoid­forschung spezifisch und neu sind, werden insbesondere mit Hirnorganoiden und Embryoiden (embryoähnlichen Gebilden, s.u.) verbunden, deren ontologische Einordnung und moralische Bewertung international diskutiert werden. Bei Hirnorganoiden betrifft dies die Frage nach künftig möglicherweise auftretenden Bewusstseinszuständen und den ggf. damit zu verbindenden Schutzansprüchen. Auf absehbare Zeit sind jedoch sämtliche Hirnorganoide weit von einem funktionierenden Gehirn(-teil) entfernt, sodass ein „Bewusstsein in der Petrischale“ gegenwärtig in den Bereich des Gedankenexperiments fällt.2 Daher sehen die Mitglieder der IAG Gentechnologiebericht in Bezug auf Hirnorganoide keinen akuten Handlungsbedarf.3
Humane Embryoide werden, wie Hirnorganoide, aus pluripotenten Stammzellen gewonnen und bilden Stadien der frühen Embryonalentwicklung nach. Der Umgang mit menschlichen Embryonen ist ethisch umstritten und international unterschiedlich geregelt. Da es jedoch fast überall mehr oder weniger strenge Regelungen zum Schutz von Embryonen gibt, wird diskutiert, ob Embryoide wie Embryonen zu behandeln sind oder nicht. Derzeit dominiert aufgrund der mangelnden Entwicklungsfähigkeit menschlicher Embryoide die Ansicht, dass keine vergleichbare Schutzwürdigkeit vorliegt. Allerdings ist die Entwicklung von Embryoiden im Mausmodell weit fortgeschritten, sodass in naher Zukunft möglicherweise auch humane Embryoide hergestellt werden könnten, die das volle Entwicklungspotenzial hin zu einem geborenen Menschen besitzen. Dies dürfte die Diskussion um ihre ethische Einordnung neu entfachen.
Da sich die Debatte um den moralischen Status des menschlichen Embryos seit langem in einer Sackgasse befindet und bioethische Diskurse seit ihrem Bestehen teils grundsätzlicher Kritik ausgesetzt sind, erscheint es ratsam, nicht lediglich die etablierten bioethischen Konzepte, Methoden und Themen am Gegenstand der Organoide erneut aufzugreifen. Vielmehr sollten auch ethische Thematisierungsweisen biomedizinischer Entwicklungen selbst sowie Formen und Instrumente gesellschaftlicher Deliberation und Partizipation weiterentwickelt werden. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die wissenschaftliche und öffentliche Debatte über Organoide in Deutschland gerade erst beginnt. Sowohl ihre weitere wissenschaftliche Entwicklung als auch die ethischen und öffentlichen Diskurse über Organoide versprechen spannend zu werden und bedürfen der Mitgestaltung.

  • 1Dieser Beitrag basiert auf der Einleitung von S. Bartfeld, H. Schickl, A. Pichl, A. Osterheider und L. Marx-Stölting in Bartfeld, S. et al. (2020): Organoide. Ihre Bedeutung für Forschung, Medizin und Gesellschaft. Baden-Baden: Nomos, S.44-64. Online: www.gentechnologiebericht.de/themen/organoide [letzter Zugriff: 21.01.2021]. Die ersten beiden Abschnitte zu ethischen und rechtlichen Fragen basieren insbesondere auf dem von Hannah Schickl verfassten Unterkapitel 2.1.5 der Einleitung, ohne deren Argumentation zu übernehmen.
  • 2Siehe hierzu die Podiumsdiskussion „Brain in a dish? Was genau sind Organoide?“ in der Mediathek der BBAW: www.bbaw.de/mediathek [letzter Zugriff: 21.01.2021].
  • 3Zu Kernaussagen und Handlungsempfehlungen der IAG Gentechnologiebericht siehe Bartfeld, S. et al. (2020), S.13-28.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
256
vom Februar 2021
Seite 35 - 36

Anja Pichl ist Mitarbeiterin der IAG Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeberin des Buches „Organoide. Ihre Bedeutung für Forschung, Medizin und Gesellschaft“.

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Dr. Lilian Marx-Stölting ist wissenschaftliche Referentin in der Geschäftsstelle des Deutschen Ethikrates.

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