Globalisierung klinischer Studien
Dass T-Shirts aus Bangladesh, Spielzeugautos aus China und Schokolade aus Lateinamerika kommen, weiß inzwischen jedes Kind. Aber wissen Sie, wo die Impfung gegen Tetanus getestet worden ist, die heutzutage fast allen Neugeborenen verabreicht wird? Oder das Mittel gegen Reisedurchfall in ihrem Urlaubshandgepäck? In der Öffentlichkeit werden Medikamente - anders als Urgroßmutters Hausmittel - meist als geschichtslose Artefakte behandelt, was gewissermaßen typisch für die Entpolitisierung medizinisch-wissenschaftlicher Bereiche ist. Im Unterschied dazu gibt es in den Sozialwissenschaften Ansätze, die medizinischen Produkten quasi ein „Eigenleben” einhauchen, mit einer bestimmten Biographie, sich wandelnden Identitäten, verschiedenen Lebensabschnitten und damit verbundenen Bedeutungsebenen.1
Neue Formen globaler Abhängigkeiten
Das Bild trägt zumindest insofern, als beispielsweise ein neues Medikament, wenn es auf den Markt kommt, bereits eine mehrjährige Entwicklungsgeschichte, am Computer, im Labor, in Tierversuchen sowie in verschiedenen Tests an Probanden und Probandinnen durchlaufen hat. Seit rund zwanzig Jahren finden praktisch alle diese unterschiedlichen Phasen an verschiedenen Orten gleichzeitig, rund um den Globus statt. Dabei ist zu beobachten, dass Pharmaunternehmen vor allem groß angelegte Arzneimitteltests, an denen mehrere tausend Versuchspersonen teilnehmen, zunehmend nach Asien, Osteuropa, Russland oder Lateinamerika verlegen. Für die Regierungen dort bedeutet dies in erster Linie willkommene Investitionen und Devisen. „Indische Versuchskaninchen zu verkaufen”, titelte die indische Journalistin Sandhya Srinivasan, die über die Expansion der klinischen Forschungsindustrie in den Armenviertel von Mumbai kritisch Bericht erstattet hat.2 Gleichzeitig ist die Globalisierung klinischer Studien von einer weiteren Entwicklung nicht zu trennen: Der rasant wachsenden Bedeutung kommerzieller Dienstleistungsunternehmen. Während sich die Global Player unter den Pharmafirmen die Absatzmärkte (noch?) mit entsprechenden Patentverhandlungen und Lizenzen weitgehend sichern können, ist die Praxis der Arzneimittelforschung und -entwicklung selbst ein äußerst heterogener Flickenteppich, auf dem sich die unterschiedlichsten Akteure und Interessengruppen tummeln. Die folgenden Beiträge untersuchen unterschiedliche Probleme und Dimensionen dieser globalen Tendenzen in der Pharmaforschung. Annelies den Boer von der niederländischen Nichtregierungsorganisation WEMOS hat gemeinsam mit lokalen Partnerorganisationen weltweit Fälle recherchiert, in denen die Rechte von Menschen, die an klinischen Studien teilnahmen, verletzt wurden. Im Interview weist sie auf die Defizite des Probandenschutzes, vor allem in ärmeren Regionen hin. (Seite 5) Die GID-Redakteurin Monika Feuerlein beschreibt in ihrem Artikel globale Entwicklungen im Bereich der klinischen Testung von Arzneimitteln und deren Regulierung. Dabei zeigt sich, dass sowohl die Verantwortlichkeiten für die Durchführung von medizinischen Versuchen, als auch deren Regulierung zunehmend privatisiert und ökonomischen Effizienzkriterien unterworfen werden. (Seite 9) Auf den ersten Blick erinnern die Abhängigkeiten und das Machtgefälle zwischen Sponsoren aus den Industrienationen und Forschern oder Probanden der Peripherie an koloniale Abhängigkeitsstrukturen, findet der US-amerikanische Biologe und Anthropologe Kaushik Sunder Rajan. Für den GID stellt der Autor des kürzlich auch auf deutsch erschienenen Buchs „Biocapital” Überlegungen zu alten und neuen Abhängigkeiten zwischen Metropolen und peripheren Regionen an. (Seite 14) Im anschließenden Interview spricht Kaushik Sunder Rajan über die Zukunft der Pharmaindustrie und äußert Kritik am vorherrschenden Modell der Bioethik. (Seite 17) Die versammelten Beiträge verbindet die These, dass sich wissenschaftliche und regulatorische Entwicklungen wechselseitig beeinflussen. Dies zeigt sich auch an der 1964 vom Weltärztebund verabschiedeten Deklaration von Helsinki. Dieses wohl bekannteste Dokument ethischer Prinzipien zur Forschung am Menschen ist in den letzten Jahren mehrmals überarbeitet und ergänzt worden. Wir dokumentieren zentrale inhaltliche Veränderungen. (Seite 21)
- 1Siehe zum Beispiel Van der Geest et al. (1996), zitiert in Simon Williams et al., Pharmaceuticals and Society. Critical Discourses and Debates, 2009.
- 2Sandhya Srinivasan, „Indian Guinea Pigs for Sale: Outsourcing Clinical Trials,” www.indiaresource.org, 8.9.2004.
GID-Redaktion
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