Tracken, Checken, Sharen

Krankenkassen interessieren sich für das Verhalten ihrer Mitglieder

Unternehmen und Krankenkassen interessieren sich für die Möglichkeiten der digitalen Körpervermessung mithilfe von Smartphone-Apps. Dabei geht es ihnen um die Kontrolle ihrer Beschäftigten und um die Auswahl ihrer Versicherten.

„Die Apple Watch ist die persönlichste Technologie, die wir je entwickelt haben!“ Wilde Werbepoesie, sicher, aber doch ein wahrer Kern: Das ebenso elegante wie kostspielige Gerät am Handgelenk kann einiges über seine Besitzer verraten.1 Der eingebaute Gyrometer und ein Beschleunigungssensor erfassen jede Bewegung, und mithilfe der Positionsbestimmung durch GPS kann die Apple Watch sogar feststellen, welche Strecke ihr Träger zurückgelegt hat, beispielsweise beim morgendlichen Dauerlauf.2 Zusammengenommen erlauben diese Messungen Rückschlüsse auf Puls, Kalorienverbrauch oder auch auf Schlafphasen, weil sich Menschen im Tiefschlaf weniger bewegen.

Entschlossen setzt Apple mit seinem neuen Produkt auf Health Tracking - die Überwachung von körperlichen Parametern rund um die Uhr. Den eigenen Körper besser verstehen, seine Funktionen verbessern, „das Beste rausholen“ - Selbstvermessung liegt im Trend. „Die Apple Watch misst all deine Bewegungen“, verspricht die Werbung. „Egal, ob du mit dem Hund rausgehst, Treppen steigst oder mit deinen Kindern spielst. Sie merkt sich sogar, wenn du aufstehst. Und motiviert dich weiterzumachen.“ Denn gerade das schätzen viele Nutzer: Wer schwarz auf weiß und in allen Details sieht, wie weit er gelaufen ist und wie viele Kalorien er dabei verbrannt hat - oder im Gegenteil, wie selten er sich vom Sofa erhoben hat - der ist motivierter und überwindet eher den sprichwörtlichen inneren Schweinehund.

Im Mediziner-Jargon gesprochen: Tracking erhöht die Compliance. Aber was, wenn das Gerät nicht nur an die eigenen guten Vorsätzen erinnert und die Ermahnung zum Joggen vom Chef stammt? Was, wenn die Höhe des Krankenversicherungsbeitrags davon abhängt, ob der Versicherte eifrig Ausdauersport getrieben hat oder nicht?

Wenn der Chef zum Frühsport ruft

Das ist nicht so weit hergeholt, wie es klingt. In den USA nutzen bereits einige Unternehmen Smartphone-Apps, um ihre Angestellten zu gesundheitsbewusstem Verhalten anzuhalten. Sie verteilen kostenlos Programme wie Fitbit und erhalten im Gegenzug Zugang zu einem Teil der anfallenden Daten.3 Die Betriebskrankenkasse der Ölfirma BP beispielsweise gewährt ihren Angestellten eine Prämie, wenn sie täglich eine bestimmte Anzahl Schritte gehen. So will die Firmenleitung den Gesundheitszustand der Beschäftigten verbessern und den Krankenstand senken. Die Software-Firma Medgate wiederum verkauft ein Programm, mit dem Betriebsärzte und Manager auf einen Blick den Impfstatus, bisher durchgeführte Vorsorge-Untersuchungen und Fehlzeiten einsehen können. So ließe sich die Produktivität des Unternehmens steigern, verspricht Medgate.

Gesündere Beschäftigte, weniger Krankheitstage - ist das etwa kein Geschäft auf Gegenseitigkeit, eine Win-Win-Situation? Immer mehr Arbeitgeber in den USA bestehen auf der Teilnahme an ihren Vorsorgemaßnahmen, wozu oft Früherkennungsuntersuchungen gehören. Ziel sind geringere Behandlungskosten in der Zukunft. Wer sich weigert, verliert unter Umständen seinen Zuschuss zur Krankenversicherung - der Übergang vom Zuckerbrot zur Peitsche ist fließend.

Amerikanische Bürgerrechtler warnen mit deutlichen Worten. „Die Leute sollten sich schon fragen, welche Zusammenhänge sich aus den Gesundheitsdaten ableiten lassen. Wenn dein Gerät zur Selbstvermessung belegt, dass du einem bewegungsarmen Lebensstil anhängst, kann es durchaus sein, dass deine Krankenversicherung demnächst teurer wird“, befürchtet Pam Dixon, Leiterin des Datenschutz-Vereins World Privacy Forum. Durch automatisierte Datenanalyse könnten Manager erkennen, welche Muster auf spätere gesundheitliche Probleme hindeuten und frühzeitig gegensteuern - am sichersten dadurch, dass sie den Mitarbeiter feuern.

Gesundes Verhalten wird belohnt

Das klingt zynisch, aber es entspricht dem Prinzip der Risikoselektion. Anfang 2015 sorgte der italienische Versicherungskonzern Generali in Deutschland für Schlagzeiten, als er ankündigte, seinen Kunden günstigere Krankenversicherungen anzubieten, wenn diese im Gegenzug regelmäßig Sport treiben und dies über ein kleines Smartphone-Programm nachweisen.

Auch deutsche Krankenversicherungen - und zwar nicht nur private, sondern auch die gesetzlichen - nutzen die neuen Möglichkeiten der Gesundheitsüberwachung. Die Versicherten installieren ein Computerprogramm auf ihrem internetfähigen Mobiltelefon und dokumentieren so, dass sie an bestimmten medizinischen Untersuchungen teilnehmen, Sport treiben oder sich auf eine bestimmte Weise ernähren. Dafür erhalten sie dann einen Teil ihrer Beiträge zurück. Im Rahmen ihrer Bonusprogramme belohnen beispielsweise die Barmer Ersatzkasse oder die Daimler Betriebskasse gesundes Verhalten mit Prämien bis zu 150 Euro im Jahr. Die DAK hat vor kurzem ein Bonusprogramm mit der App Fitcheck eingestellt, und die AOK prüft gegenwärtig, ob sie Smartphone Apps einsetzen wird, um Bonus-Berechtigungen zu ermitteln.

Umfragen zeigen eine hohe Bereitschaft in der Bevölkerung, Körperdaten gegen Geld zu tauschen. „Etwa jeder Dritte kann sich grundsätzlich vorstellen, gesundheits- und fitnessbezogene Daten zu messen und mit der Krankenversicherung zu teilen, um dadurch Vorteile zu erhalten“, berichtete das Meinungsforschungsinstitut Yougov Anfang 2015. Diese verbreitete Haltung darf aber nicht mit Sorglosigkeit oder Naivität verwechselt werden: „Dennoch haben viele Bundesbürger hinsichtlich dieser Tarifierung Befürchtungen“, schreiben die Autoren. „Die Mehrheit (73 Prozent) hätte Sorge, dass bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes plötzlich mehr als vorher für die Krankenversicherung bezahlt werden müsste.“4

Die Krankenkassen betonen, sie interessierten sich gar nicht für die Einzelheiten des Verhaltens. Tatsächlich erfassen die kleinen Programme nur, ob bestimmte Bedingungen erfüllt werden, zum Beispiel ob eine Mindestdauer körperlicher Bewegung erreicht wurde. Mehr Daten zu speichern und zu verarbeiten, wäre auch kaum mit den Datenschutz-Gesetzen vereinbar.

Von guten und schlechten Risiken

Verständlich wird der Trend zum Health Tracking erst vor dem Hintergrund der zunehmenden Kommerzialisierung der Krankenversorgung. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen die gesetzlichen Krankenkassen unternehmerisch denken und handeln. Anders als private Versicherungen dürfen sie aber nicht über den Preis miteinander konkurrieren. Als Ausweg bleiben die sogenannten monetären Wahltarife: Selbstbehalt, Beitragsrückerstattung und Kostenerstattung. Deshalb spielen Bonusprogramme eine immer wichtigere Rolle im deutschen Gesundheitssystem.

Seit 2004 dürfen die Kassen gesundes Verhalten mit Geldzahlungen belohnen. In den vergangenen Jahren hat sich die zurückgezahlte Summe mehr als verdoppelt (von 140. 000 Euro im Jahr 2008 auf 300. 000 Euro im Jahr 2013). Laut einer Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK von 2013 nimmt mittlerweile jeder fünfte Versicherte an einem solchen Programm teil. Je jünger die Befragten und je höher ihr Einkommen und ihr Schulabschluss sind, umso aufgeschlossener sind sie der Idee gegenüber.5 Eine etwas ältere Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung zeichnete ein ähnliches Bild: Gesunde, wohlhabende und gebildete Menschen waren eher geneigt, an Bonusprogrammen teilzunehmen.6

Dieser letzte Punkt ist entscheidend: Die Bonusprogramme dienen nämlich gar nicht in erster Linie dazu, die Versicherten gesünder zu machen! Ob sie dazu taugen, ist fraglich; wissenschaftliche Belege fehlen jedenfalls. Die Programme dienen vielmehr dem Zweck, gesunde Versicherte anzuziehen.

Wie das geht? In der Versicherungswirtschaft dreht sich alles um „gute Risiken“ oder „schlechte Risiken“. Gemeint sind damit einerseits profitable Kunden und andererseits jene, die Kosten verursachen und Probleme machen. „Gute Risiken“ im Sinne der Krankenkassen sind jung, gesund und wohlhabend. Sie sind außerdem häufig gesundheitsbewusst und verfügen auch über die Ressourcen, um sich entsprechend zu verhalten. Weil sie überdurchschnittlich verdienen, zahlen sie mehr ein, ohne wesentlich mehr Kosten zu verursachen.

Umgekehrt sind für solche Musterkunden die Bonusprogramme attraktiv, weil sie deren Bedingungen ohnehin erfüllen. Für jene Versicherte, die aufgrund ihrer Lebensumstände den größten gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind - kurz gesagt Alleinerziehende, Arme, Erwerbslose und Menschen ohne soziale Bezüge - sind die Anreize zu gering und die Hürden zu hoch, um ihr Verhalten zu verändern.

Zunehmende Individualisierung und Entsolidarisierung?

Bisher kreist die Debatte um Health Tracking fast ausschließlich um die Folgen, die es für individuelle Versicherte haben könnte. Lassen sich chronische Krankheiten vorhersehen, bevor sie ausgebrochen sind? Werden sich Versicherungen dann weigern, die Betroffenen als Mitglieder aufzunehmen? Kommt eine Pflicht zur Gesundheit?

So wichtig diese Fragen sind, sie verfehlen die eigentliche Gefahr. Individuelle Biomarker machen individuelle Tarife möglich - mit tiefgreifenden sozialen und politischen Folgen. Krankenversicherungen im Verbund mit staatlichen Zuschüssen vergesellschaften das Risiko, krank und arbeitsunfähig zu werden. Indem sie die Behandlungskosten unter den Versicherten verteilen, federn sie die Folgen ab. Dass sie nun immer stärker bestimmte Verhaltensweisen mit günstigeren Tarifen belohnen, ist mit diesem Prinzip völlig unvereinbar. Mehr noch: Solche Strukturen züchten geradezu Gerechtigkeitsvorstellungen, die jede „unverdiente Hilfe“ ablehnen - weil angeblich jeder die Gesundheit bekommt, die er sich verdient hat.

 

Der Text ist eine leicht bearbeitete Version des Artikels „Die Vermessung des Menschen“, erschienen in Publik-Forum, Ausgabe 18/2015; www.publik-forum.de.

  • 1Zu Wearables und Health Trackern siehe auch den Text von Ulrike Baureithel im GID 229, April 2015, S. 19-21.
  • 2Ein Gyrometer misst Drehbewegungen.
  • 3Die App Fitbit dient laut Apple-Werbung der „Erfassung und Aufzeichnung von Alltagsaktivitäten, Sport und Gesundheit“.
  • 4YouGov: Quantified Health. Die vernetzte Gesundheit: Chancen und Barrieren 2015.
  • 5Klaus Zok: Wahrnehmung von Leistungs- und Tarifangeboten in der gesetzlichen Krankenversicherung. Ergebnisse aus zwei Umfragen unter GKV-Versicherten. WIdOmonitor 1/2013.
  • 6Jan Böcken, Bernard Braun, Juliane Landmann (Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2010. Bürgerorientierung im Gesundheitswesen. Bertelsmann Stiftung 2011.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
234
vom Februar 2016
Seite 35 - 37

Matthias Martin Becker ist Journalist und Autor. Über Sinn und Unsinn der Prävention hat er 2014 ein Buch mit dem Titel „Mythos Vorbeugung - Warum Gesundheit sich nicht verordnen lässt und Ungleichheit krank macht“ im Promedia Verlag veröffentlicht.

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Gesundheits-Apps: Einige Studienergebnisse

Einer Marktanalyse des auf den Gesundheitsmarkt spezialisierten Berliner Marktforschungsinstituts Research2Guidance vom November 2015 zufolge sind in diesem Jahr rund 103.000 Gesundheits-Apps publiziert worden. Die Zahlen steigen rapide: Wurden 2013 weltweit noch 1,7 Milliarden Gesundheits-Apps heruntergeladen, waren es 2014 schon 2,3 Milliarden. Über die tatsächliche Verwendung der Programme sagen diese Zahlen allerdings noch nicht viel aus. Auch der Verbreitungsgrad der meisten Apps ist eher gering, wie die Untersuchung zeigt. So erreichten 62 Prozent der Anbieter von Gesundheits-Apps im vergangenen Jahr gerade einmal bis zu 5.000 Downloads, 21 Prozent kamen auf bis zu 10.000 Nutzer, und nur sechs Prozent der Anwendungen fanden eine Resonanz bei bis zu 100.000 Anwendern.1

In der Anfang Oktober 2015 veröffentlichten repräsentativen Studie „Zukunft Gesundheit 2015 - Jungen Bundesbürgern auf den Puls gefühlt“ der Schwenninger Krankenkasse und der Stiftung Die Gesundarbeiter stimmten 91 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Jeder Mensch ist selbst für ein gesundheitsbewusstes Leben verantwortlich“. Jeder zweite der Befragten, die ihre Fitness- und Gesundheitsdaten bereits digital erfassen, hätte keine Einwände dagegen, diese Daten auch seiner Krankenkasse zur Verfügung zu stellen. 66 Prozent forderten in der Umfrage stärkere finanzielle Vorteile für Versicherte, die „nachweislich ein gesundes Leben führen“.2

Einer anderen im selben Monat veröffentlichten Umfrage zufolge, die das Marktforschungsinstitut TNS Emnid im Auftrag des Verbraucherzentrale Bundesverband durchführte, denken 62 Prozent der Befragten, dass Versicherungsunternehmen und Krankenkassen zu viele Daten sammeln. Als Maßnahmen zur Verhinderung der Datenerfassung empfehlen 75 Prozent einen vorsichtigeren Umgang mit den eigenen Daten, jeweils 65 Prozent fordern aber auch strengere gesetzliche Regelungen und Klagemöglichkeiten gegen Datenschutzverstöße.3

(ka)