Das gläserne Baby
Pilotprojekt zur Genomsequenzierung von Neugeborenen in Großbritannien
Angeborene Erkrankungen behandeln, bevor sie ausbrechen – mit diesem Versprechen will ein britisches Projekt die Genome von gesunden Neugeborenen sequenzieren und beforschen. Für viele Expert*innen stehen der mögliche Nutzen und die Risiken nicht im Verhältnis.

Ein Teil des Projektes soll es sein, herauszufinden, welche Konsequenzen die lebenslange Speicherung von DNA-Daten für die jungen Proband*innen hat. Foto: Glasskulptur "Potential" von Nancy Qin Yu
Dieses Jahr soll das britische Newborn Genomes Programm (NGP) starten – ein Pilotprojekt das vorsieht, das Erbgut von über 100.000 Babys direkt nach der Geburt zu sequenzieren. Das Forschungsvorhaben des staatlichen Unternehmens Genomics England ist in das britische öffentliche Gesundheitssystem National Health Service (NHS) eingebunden. Neben einem therapeutischen Nutzen für die wenige Tage alten Proband*innen versprechen sich die Projektverantwortlichen die Möglichkeit, die generierten Daten für die Forschung nutzen zu können.
Kein reguläres Neugeborenen-Screening
Derzeit werden Neugeborene in Großbritannien – vorausgesetzt die Eltern geben ihre Einwilligung – routinemäßig auf neun verschiedene Erkrankungen getestet. Dafür wird in die Ferse des Neugeborenen gestochen, einige Blutstropfen werden auf einer Filterpapierkarte getrocknet und untersucht. In Deutschland werden Babys mit der gleichen Methode aktuell auf 16 Erkrankungen gescreent. Das Panel wird mit der Entwicklung des wissenschaftlichen Stands immer wieder ausgeweitet. Zuletzt kamen im Oktober 2021 Tests auf Spinale Muskelatrophie (SMA) und Sichelzellanämie dazu, wobei mit der Untersuchung auf SMA erstmals ein Gentest in das Routinescreening mit aufgenommen wurde. Bei den bisherigen Fersenbluttests handelte es sich um biochemische Nachweise von bestimmten Stoffwechselprodukten im Blut. Das Screening soll dazu dienen, möglichst schnell eine präventive Behandlung beginnen zu können, um das betroffene Kind vor Folgeschäden zu bewahren. Ungefähr eins von 1.300 Neugeborenen ist von den in Deutschland ausgewählten Erkrankungen betroffen, die unbehandelt zu Organschäden, körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen oder sogar zum Tod führen können. Bei der Galaktosämie z.B. wird der Einfachzucker Galaktose nicht vom Körper des Neugeborenen verarbeitet. Die entstehenden giftigen Stoffwechselprodukte können im schlimmsten Fall zu einem Leberversagen in den ersten Tagen nach der Geburt führen. Dies kann durch eine laktosefreie und galaktosearme Diät verhindert werden – bei früher Diagnose kann sofort auf Stillen oder kuhmilchhaltige Premilch verzichtet werden.
Viele der angeborenen Erkrankungen werden durch kleine genetische Abweichungen im Genom der Neugeborenen ausgelöst. Mit der fortschreitenden technologischen Entwicklung und den immer geringeren Kosten erscheint einigen Expert*innen daher die Möglichkeit, das gesamte Genom von Neugeborenen routinemäßig zu sequenzieren, statt nur gezielt nach einigen Erkrankungen zu suchen, als nächster logischer Schritt. Laut Richard Scott, Chief Medical Office von Genomics England, befände man sich durch die niedrig gewordenen Kosten momentan an einem „Kipppunkt“, „an dem es falsch wäre, es nicht zu tun“. Doch eine Gesamtgenomsequenzierung kann nicht als eine einfache Erweiterung des konventionellen Neugeborenenscreenings verstanden werden. Die Generierung und Speicherung von großen Mengen genetischen Daten bringen ganz neue Problemfelder mit sich. Sie eröffnen Fragen bezüglich Datenschutz, informierter Einwilligung, des Umgangs mit Nebenbefunden und des Rechts auf Nicht-Wissen. Zudem ist unklar ob genetische Analysen die gleiche Treffsicherheit wie biochemische Tests und ggf. eine erhöhte Rate falscher Ergebnisse haben.
Was ist wissenswert?
Die Schwierigkeit beginnt mit der Auswahl aus der potenziell endlosen Liste an genetischen Erkrankungen, über die Eltern Auskunft erhalten sollen. Sog. monogenetische Erkrankungen, bei denen eine kleine Abweichung im Genom zu Symptomen führen kann, sind selten, aber es gibt sehr viele verschiedene. Bevor den ersten frischen Eltern die NGP-Teilnahme angeboten werden kann, wollen die Verantwortlichen des Projektes für sie entscheiden, welche Erkrankungen relevant sind. Denn es wird zwar eine Sequenzierung des gesamten Genoms der Babys durchgeführt und ihre genetischen Daten werden dauerhaft gespeichert, aber es sollen im ersten Schritt nur die Veranlagungen für bestimmte Erkrankungen gezielt untersucht und kommuniziert werden. Laut der Webseite des Forschungsvorhabens steht die Liste der eingeschlossenen Erkrankungen noch nicht fest. Sie soll im Dialog mit Mediziner*innen, Genetiker*innen, genetischen Berater*innen und Behindertenvertretungen ausgearbeitet werden. Vier Prinzipien zur Auswahl der Genvarianten wurden im Oktober 2022 beschlossen: (A) Es muss sehr wahrscheinlich sein, dass die untersuchte Genvariante tatsächlich die betreffende Erkrankung auslöst. (B) Es sollen Erkrankungen sein, bei denen ein großer Anteil von Betroffenen Symptome hat, die undiagnostiziert eine „beeinträchtigte Lebensqualität“ bedeuten. (C) Es muss belegt sein, dass eine frühe Intervention zu einer erheblichen Besserung der Gesundheit der betroffenen Kinder führt. (D) Zudem sollen nur solche Erkrankungen untersucht werden, bei denen eine Behandlung im Rahmen des NHS für alle verfügbar ist. Allerdings könnten im Zweifelsfall auch Erkrankungen eingeschlossen werden, bei denen nicht alle vier Prinzipien erfüllt seien, so die Webseite. Schon die Formulierungen „ein großer Anteil“ und „beeinträchtigte Lebensqualität“ zeigen wie schwierig und subjektiv das Unterfangen ist. Angus Clarke, Professor für Genetik an der Cardiff University, befürchtet, dass die Projektverantwortlichen das Kriterium der Behandelbarkeit sehr dehnbar benutzen werden. Möglicherweise könne auch die Möglichkeit durch die frühe Diagnose an einer klinischen Studie teilnehmen zu können, oder die Möglichkeit, einen pränatalen Test auf die jeweilige Erkrankung in zukünftigen Schwangerschaften durchführen zu können, als ausreichend ausgelegt werden, so Clarke. Aber keiner dieser Wege würde einen Zugang zu etablierten und sicheren Therapien für das betroffene Kind bieten.
Mehrbelastung für das Gesundheitssystem
Clarke sorgt sich wie andere Kritiker*innen auch um die zusätzliche Belastung für das britische Gesundheitssystem, dass sich durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen am Rande der Belastungsgrenze befindet. Das NHS würde derzeit mit 90 Prozent des notwendigen Personals operieren, so Clarke. Noch weniger wären es bei den Berufsgruppen, wie Hebammen und Hausärzt*innen, die eine gute Aufklärung der Eltern, sowie eine anschließende Beratung und Behandlung sicherstellen würden. Auch Frances Flinter, emeritierte Professorin für klinische Genetik, sieht den Zeitpunkt des Projektstarts in Anbetracht der langen Wartelisten von Kinderkliniken kritisch . Durch die zu erwartenden zusätzlichen Diagnosen von asymptomatischen genetischen Abweichungen und den entsprechenden Beratungsbedarf der Eltern, würde eine zusätzliche und möglicherweise unnötige Belastung entstehen. Das Mitglied des britischen Ethikrates, dem Nuffield Council on Bioethics, betont daher, es sei wichtig, nichts zu überstürzen. Gesamtgenomsequenzierung für Neugeborenenscreenings zu verwenden, sei ein „Schritt ins Unbekannte“, so Flinter, es sei entscheidend „das richtige Verhältnis zwischen Nutzen und Schaden“ zu finden.
Ethische Schwierigkeiten
Wie Flinter in einem Statement für das britische Science Media Centre ausführt, trägt jeder Mensch rund 100 bis 300 Varianten in seinem Genom, die mit monogenetischen Erkrankungen in Verbindung stehen. Bis zu 50 davon können beide Kopien des Genoms betreffen – in diesem Fall wären Symptome der entsprechenden Erkrankung erwartbar. Doch immer wieder zeigen Studien, dass dies nicht der Fall sein muss. Viele Menschen mit vermeintlich pathogenen Genvarianten sind gesund, bei vielen tritt die prognostizierte Erkrankung nie auf. Sie zeigen auch, dass die Sequenzierung des gesamten oder von Teilen des Genoms rund 12 Prozent der Erkrankungen nicht entdeckt, die durch reguläre biochemische Neugeborenscreenings entdeckt werden.
In den USA startete 2015 ein ähnliches Projekt unter dem Namen „Babyseq“, dessen Ergebnis das Problem vermeintlicher Diagnosen verdeutlicht. Bei dieser Studie wurde den Eltern von sowohl gesunden als auch kranken Neugeborenen angeboten, eine Gesamtgenomsequenzierung durchzuführen. Rund acht Prozent der gesunden Neugeborenen hatten vermeintlich pathogene Genvarianten. Bei zwei gesunden Neugeborenen fanden die Forschenden Genabweichungen, die Herzerkrankungen auslösen sollen – doch sowohl die Kinder als auch deren Eltern waren gesund. Wie die Zeitschrift Science berichtete, hatte lediglich ein gesundes Kind eine genetische Veranlagung für eine milde Form einer Stoffwechselerkrankung, die behandelbar war. Der entsprechende biochemische Test war unauffällig. Cora, so der Name des Kindes, nimmt nun täglich Biotin-Tabletten, um einer Abweichung im Biotinidase-Gen entgegenzuwirken. Ob die frühzeitige Diagnose Folgeschäden einer Erkrankung verhindern konnte oder ob das Kind nie Symptome entwickelt hätte, ist im Nachhinein nicht festzustellen.
Basierend auf diesen Erkenntnissen bewertet der Ethikbeirat des öffentlich geförderten Forschungsprogramms, in dessen Rahmen die Babyseq-Studie durchgeführt wurde, die Gesamtgenomsequenzierung als Methode zum Neugeborenenscreening für unausgereift – wenn sie überhaupt dafür geeignet ist. Die Autor*innen des Berichts weisen auf die hohe Komplexität und Unsicherheiten in der Analyse von großen Mengen genetischer Daten hin. Während diese Schwierigkeiten bei kranken Neugeborenen durch das Potenzial des therapeutischen Nutzens ausgeglichen werden könnten, sei dieser Nutzen bei gesunden Babys nicht gegeben. Denn hier gäbe es keine Symptome, die die Mediziner*innen bei der Genomanalyse leiten könnten. Die Autor*innen warnen davor, dass besonders uneindeutige Ergebnisse bei Eltern nachweislich erheblichen Stress und Sorgen auslösen können. Ohne Symptome, würden gesunde Säuglinge durch die Identifizierung von pathogenen, wahrscheinlich pathogenen und uneindeutigen Varianten in „Pre-Erkrankte“ verwandelt und unangemessen medikalisiert werden.
Lebenslange Konsequenzen
Auch die Bioethikerin Lainie Friedman Ross von der University of Chicago äußerte sich in einem Artikel der Fachzeitschrift Nature skeptisch gegenüber dem Nutzen von Gesamtgenomsequenzierungen für asymptomatische Neugeborene. Sie kritisiert neben der Erschaffung von „besorgten Gesunden “ auch, dass die betroffenen Babys nicht einwilligungsfähig bezüglich der medizinischen Entscheidungen sind, die auf potenziell unsicherer Datenbasis getroffen werden. Provakant fragt der Genetik-Professor David Curtis vom University College London, warum in dem britischen Projekt die Genome von nicht-einwilligungsfähige Babys sequenziert werden, wenn „wir als Gesellschaft Erwachsene, für die der Gesundheitsnutzen viel größer erscheint, nicht diesem Prozess unterziehen wollen“. Wenn man die Sequenzierung aller Menschen ablehne, und das tue er, dann sollte sich auch das Neugeborenenscreening auf ein paar gut behandelbare Erkrankungen beschränken, so Curtis.
Die Frage der Einwilligungsfähigkeit von Eltern für ihre Kinder für die Teilnahme an einem so langfristigen und potenziell konsequenzenreichen Forschungsprojekt erscheint auch vor dem Hintergrund zentral, dass die Daten nicht nur für einen individuellen medizinischen Nutzen generiert werden. Die Genome der Kinder werden de-identifiziert – soweit es möglich ist bei hoch-individuellen DNA-Daten von De-Identifizierung zu sprechen – und zusammen mit Gesundheitsdaten in die National Genomic Research Library wandern. Dort sollen sie von Wissenschaftler*innen „angemessen verwendet“ werden und als Forschungsressource dienen. Es ist jedoch unklar, ob diese Forschung tatsächlich auf die Entwicklung von Therapien und Diagnosen limitiert bleibt, wie die Projekt-Webseite verspricht. Auch die britische UK-Biobank warb einst Proband*innen damit an, ein Beitrag zum medizinischen Fortschritt leisten zu können. Inzwischen werden die Daten aber für alle möglichen Forschungsprojekte verwendet, deren gesellschaftlicher Nutzen zweifelhaft ist. Es soll auch ein Teil des Projektes sein, herauszufinden, welche Konsequenzen die lebenslange Speicherung von DNA-Daten für die jungen Proband*innen hat. Schließlich ist das britische Vorhaben ein Pilotprojekt, das die Möglichkeit einer Ausweitung in die Routinebehandlung testen soll. Durch die Erfassung von Neugeborenen würde nach und nach die DNA der gesamten Bevölkerung digital gespeichert werden. In Kombination mit einer zentralisierten elektronischen Patient*innenenakte könnte dies unvorhersehbare Gefahren für den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aller Menschen bedeuten.
Es wird sich zeigen wie viele Eltern bereit sind, ihren Kindern dieses Experiment zuzumuten. Die US-amerikanische BabySeq-Studie hatte Probleme, überhaupt Proband*innen zu rekrutieren. Ein halbes Jahr nach Projektstart berichteten die Verantwortlichen, dass nur rund sieben Prozent der Eltern – sowohl von gesunden, als auch erkrankten Babys – mit einer Sequenzierung einverstanden waren. Die Eltern gaben als Grund unter anderem an, Angst vor zukünftiger Diskriminierung durch Versicherungen und Lücken im Datenschutz zu haben.
Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.