„Rasse“ in medizinischen Studien
Das New England Journal of Medicine fordert Angaben zu „race“ oder Ethnizität von Proband*innen
Kann die Erfassung der sozialen Kategorie „race“ in medizinischen Studien Ungerechtigkeiten in der Gesundheitsversorgung sichtbar machen? Oder verstärkt sie den Glauben an biologische „Menschenrassen“? Die Entscheidung einer medizinischen Fachzeitschrift wirft Fragen auf.
Struktureller Rassismus schafft Unterschiede im Zugang zu Gesundheitsversorgung. Foto: Rasande Tyskar/flickr
„Journal publiziert nur Studien mit Angaben zur ‚Rasse‘“ betitelte die Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbands Forschung & Lehre Ende September einen Artikel. Er befasst sich mit dem Entschluss der renommierten Fachzeitschrift The New England Journal of Medicine (NEJM), ab 2022 nur noch Studien zu veröffentlichen, die neben anderen Informationen die „race“ oder „ethnicity“ der Proband*innen nennen. Von der Neuerung erhofft sich die NEJM-Redaktion das Wissen darüber, wie repräsentativ eine Studie für die Gesamtgesellschaft ist. Doch die Formulierung der deutschen Artikelüberschrift mit einer – nicht ganz korrekten – Übersetzung des englischen Begriffs race in „Rasse“ mit Anführungszeichen deutet es schon an: Die Debatte um rassialisierende Kategorien in der lebenswissenschaftlichen Forschung ist äußerst komplex – gerade in Deutschland.
Biologische „Rassen“ gibt es nicht
Die Entscheidung des NEJM steht scheinbar im Widerspruch zu der aktuellen Einschätzung vieler Biolog*innen, „Rasse“ sei ein soziales Konstrukt ohne biologische Basis, das erst durch Rassismus entstanden ist. Erst Ende 2019 veröffentlichten vier Professoren der Institute für Zoologie und Evolutionsforschung der Universitäten Jena und Rostock eine gemeinsame „Jenaer Erklärung“, in der sie die Existenz von menschlichen „Rassen“ deutlich zurückwiesen. Anlass für ihr Statement war der 100. Todestag des Jenaer Professors Ernst Haeckel. Der wohl bekannteste deutsche Evolutionsbiologe gilt als Wegbereiter der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Gegen die Einteilung von Menschen in Rassen argumentieren die Jenaer Wissenschaftler mit genetischen Studien, die zeigen, dass „die größten genetischen Unterschiede innerhalb einer Population zu finden sind und nicht zwischen den Populationen“. Die „vermeintlichen Rassen“, die in der Vergangenheit wissenschaftlich belegt wurden, so die Autoren, würden erst durch „Rassismus in Form von Ausgrenzung und Diskriminierung“ erschaffen.
„Rasse“ ist als Variabel obsolet
Die Erklärung schlug Wellen: So nahm z.B. das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das den Nutzen von Arzneimitteln bewertet, das Statement zum Anlass, „den obsoleten Begriff der Rasse in seinen Berichten künftig nicht mehr zu verwenden“. Bisher sei es üblich gewesen in Berichten das Wort race wortwörtlich zu übersetzen. Ab nun solle es dort, wo es relevant sei, mit „Abstammung“ übersetzt werden. Relevant ist es laut IQWiG dort, wo „eine in der Herkunftspopulation verbreitete genetische Disposition den Krankheitsverlauf oder die Therapiewirkung beeinflussen kann“.
Andere Stimmen in der Debatte gehen noch weiter als diese Begriffsvermeidung. Ebenfalls in Bezugnahme auf die Jenaer Erklärung kritisiert beispielsweise der Medizinjournalist Thomas Meißner in der Fachzeitschrift HNO Nachrichten jegliche Verwendung von race und ethnicity in klinischen Studien. Denn mit solchen Differenzierungen werde lediglich versucht „äußerliche Typologien in Übereinstimmung mit womöglich vorhandenen ‚inneren‘ Typologien zu bringen“. Nicht nur die Variabel race sondern auch die dafür verwendeten Begriffe wie „Afroamerikaner“ oder „Kaukasier“ würden laut Meißner wissenschaftlich keinen Sinn ergeben, denn „‚den Afrikaner‘“ gebe es gar nicht. Auch in Deutschland seien diese Begriffe fehl am Platz, denn es sei „längst zum Einwanderungsland geworden“ und etwa ein Viertel der Bürger*innen hätten einen Migrationshintergrund. Meißner schlägt daher vor „den ‚Kaukasier‘ endlich [zu] begraben“.
Ein bisschen „Rasse“ bleibt
Das NEJM begleitet die Ankündigung der neuen Publikationsrichtlinie mit einer Online-Diskussion zum Thema „Race in Medicine“. Auch hier stellten die fünf Mediziner*innen und Biolog*innen, darunter vier People of Color, fest, dass es keine genetische Grundlage für die Existenz von separaten „racial groups“ gebe. Und die Selbstzuordnung von Menschen in ethnische oder „race categories“, stimme oft nicht mit der Verteilung von erkrankungsrelevanten Genvarianten überein. Man könne jedoch „nicht ignorieren, dass genetische Diversität existiert“, so die Professorin für Genetik Sarah A. Tishkoff von der University of Pennsylvania. Daher formulierten einige der Diskutierenden die Notwendigkeit race zu erfassen, um diese genetische Diversität in klinischen Studien abzubilden. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt der deutsche Rechtsmediziner Peter M. Schneider. Gegenüber Forschung & Lehre argumentierte er: „Das Vorhaben, die ethnische Zugehörigkeit ('race / ethnicity') von Teilnehmern an klinischen Studien zu erfassen, ist sehr sinnvoll und kann dazu beitragen, bessere und spezifischere Therapien für Erkrankungen zu entwickeln“. Die Erfassung sei auch dann sinnvoll, wenn die Variabel nicht ganz deckungsgleich sei mit den „letztendlich ausschlaggebenden genetischen Faktoren, die einen Einfluss auf das Krankheitsrisiko haben“, so Schneider.
Sich ganz von der Vorstellung einer biologischen Komponente von race zu lösen, fällt Mediziner*innen offensichtlich schwer. Schließlich ist es tatsächlich so, dass sich in Studien immer wieder Korrelationen zwischen spezifischen Gesundheitsrisiken und dieser Kategorie beobachten lassen. Bei fast allen Erkrankungen liegt das aber an Umweltvariablen (Einkommen, Wohnsituation, Gesundheitsversorgung, Rassismuserfahrungen), statt etwa an krankheitsrelevanten Genvarianten. Lediglich bei seltenen, zumeist monogenetischen Erkrankungen findet man statistische Häufungen in bestimmten Bevölkerungsgruppen. Die Sichelzellanämie tritt z.B. öfter bei Menschen auf, deren Vorfahren aus den Malariagebieten Afrikas, des Mittelmeerraums und Asiens stammen. Demgegenüber kommt Mukoviszidose vor allem in Europa bzw. bei Menschen europäischer Abstammung vor. Doch dieses Wissen lässt weder Pauschalaussage über die jeweilige Gruppe zu, noch lässt sich daraus therapierelevantes Wissen generieren. Vielmehr kann durch einen schematischen ärztlichen Blick die Diagnose bei einer Person der vermeintlich nicht-typischen Gruppe erschweren oder gar verunmöglichen.
Rassismus als Gesundheitsfaktor
Allerdings finden sich auch bei häufigeren Erkrankungen Unterschiede entlang von rassialisierenden Kategorien. Während der Covid-19-Pandemie zeigten sich in den USA große Unterschiede in der Anzahl der Todesfälle zwischen weißen Einwohner*innen europäischer Abstammung und Afroamerikaner*innen, Lateinamerikaner*innen und Native Americans. Wie die Centers for Disease Control im September berechneten, sterben Schwarze Menschen in den USA doppelt so häufig wie weiße Menschen an Covid-19. Doch nicht etwa Genvarianten sind für diese Zahlen verantwortlich, sondern Barrieren im Zugang zum Gesundheitssystem. In Deutschland sorgen die Folgen von strukturellem Rassismus vermutlich ebenfalls dafür, dass Menschen, die von ihnen betroffen sind, eher an Covid-19 erkranken. People of Color und Menschen mit Migrationshintergrund (MH) leben häufiger in engeren Wohnverhältnissen und haben öfter „systemrelevante“ Arbeitsstellen, die nicht im Homeoffice machbar sind. Dadurch ist ihre Infektionsgefahr erhöht.
Die wenigen Studien, die es in Deutschland zum Thema Rassismus und Gesundheit gibt, zeigen, dass die alltägliche Diskriminierung große Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit von Menschen haben. Wie die Professorin für Klinische Psychiatrie Ruth Shim in der NEJM-Diskussionsrunde feststellte, spielen bei den meisten Unterschieden bezüglich Gesundheit soziale Faktoren eine Rolle. Und „dieses riesige soziale und politische Konstrukt ‚race‘ ist wahrscheinlich der mächtigste dieser sozialen Faktoren“, so Shim.
Da hierzulande im Krankenhaus oder allgemein von Covid-19-Erkrankten aber keine Angaben zur race oder MH erfasst werde, ist es in Deutschland – anders als in den USA – nicht möglich, diese gesellschaftliche Ungerechtigkeit in genaue Zahlen zu fassen. Und das Fehlen von wissenschaftlichen Daten erschwert wiederum die Auswirkungen von Rassismus auf die Gesundheit zu problematisieren und letztendlich zu bekämpfen.
Der Zwang sich mit der race oder ethnischen Identität der Proband*innen auseinander zu setzen, wenn die Publikation einer Studie in einem renommierten Journal wie dem NEJM geplant ist, könnten also Rassismus sichtbarer machen. Doch dafür muss ein Bewusstsein der Wissenschaftler*innen für den Zusammenhang zwischen Rassismus und Gesundheit vorhanden sein. Sonst besteht die Gefahr, dass messbare gesundheitliche Unterschiede zwischen races oder Ethnizitäten von Wissenschaftler*innen fälschlicherweise als genetisch begründete Unterschiede verstanden werden. Dies würde wiederum den Glauben in biologische Unterschiede bestätigen und das Konstrukt race eher stärken als es zu bekämpfen.
Es gibt bereits vielfältige internationale Richtlinien, wie mit den Variablen race und Ethnizität in medizinischen Studien umgegangen werden soll, z.B. vom International Committee of Medical Journal Editors, bei dem auch das NEJM Mitglied ist. Doch Mediziner*innen der Universität Heidelberg stellten 2019 fest, dass sich in den letzten 20 Jahren wenig getan hat: nur bei fünf Prozent der 995 untersuchten Studien hielten sich die Autor*innen an diese Richtlinien. Viele gaben z.B. nicht an, wie sie race oder Ethnizität überhaupt definieren oder wie sie Proband*innen in Kategorien einteilten – dies lässt auf eine unzureichende Sensibilisierung für die Wirkungsmacht von rassialisierenden Kategorien bei vielen Lebenswissenschaftler*innen schließen. Es wird sich zeigen, ob die neuen Richtlinien des NEJM daran etwas ändern können. Nur so kann das selbstgesetzte Ziel der Redaktion erreicht werden, durch eine verbesserte Repräsentanz von diskriminierten Minderheiten in medizinischen Studien letztendlich deren Gesundheitsversorgung zu verbessern.
Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.