Pathos und Pathologie der Molekularen Medizin

Seit Anfang der 1990er Jahre werden für immer mehr Krankheiten genetische Faktoren verantwortlich gemacht. Diesem Krankheitskonzept liegt die Annahme zugrunde, dass ein oder mehrere "defekte" Gene zum Verlust oder der Beeinträchtigung einer Stoffwechselfunktion führen, die schließlich für eine Krankheit kausal verantwortlich ist oder den Organismus für bestimmte Krankheiten stärker disponiert.

Immer häufiger wird heute von einer „Ära der molekularen Medizin“ (Ganten/Ruckpaul 2001: 3) gesprochen und genetischen Erklärungsmodellen eine große Bedeutung für Diagnose, Prävention und Therapie vieler Zivilisationskrankheiten zugebilligt. So erklärt etwa die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn, dass die „Anwendung moderner molekularbiologischer Methoden und Erkenntnisse die tägliche medizinische Praxis revolutionieren“ werde (Bulmahn 2003: 6).

Genetifizierung der Medizin

Die Entwicklung hin zu einer „Genetisierung der Medizin“ lässt sich anhand von zwei wichtigen Indikatoren illustrieren. Seit dreißig Jahren werden Krankheiten, von deren Erblichkeit ausgegangen wird, durch den sog. McKusick-Katalog erfasst. Dieser Katalog, der Mendelian Inheritance in Man (MIM) ist die entscheidende medizinische Standarddatenbank, die Auskunft gibt über die Anzahl erblicher Erkrankungen. Sie wird jede Woche auf den neuesten Stand gebracht. Die Zahl der im McKusick-Katalog verzeichneten Krankheitsbilder, für die genetische Ursachen bekannt sind, betrug im Jahr 1992 5.000, stieg auf 10.000 Ende 1998 und liegt heute bei über 14.000 Einträgen.(1) Ebenso beeindruckend ist der Aufstieg des Konzepts des genetischen Risikos in der Medizin. Eine Recherche in der Literaturdatenbank MEDLINE (2), in der alle wichtigen medizinischen Fachzeitschriften indexiert sind, dokumentiert einen fast unglaublichen Anstieg von Artikeln, die sich in den letzten dreißig Jahren mit genetischen Risiken beschäftigten. Während im Zeitraum zwischen 1967 und 1971 nur vier Artikel aufgeführt sind, die genetic risk im Titel und/oder Abstract enthalten, waren es zehn Jahre später schon 67 (1977-1981); in den fünf Jahren zwischen 1987 und 1991 wuchs die Zahl auf 211 an, um dann nochmals zu steigen: auf 1082 (1997-2001). Mit anderen Worten: In den letzten 20 Jahren ist die Zahl der Beiträge in medizinischen Zeitschriften, die sich auf die Analyse genetischer Risiken konzentrierten, um den Faktor 15 angestiegen. Die angeführten Indikatoren dokumentieren, dass innerhalb der medizinischen Forschung offenbar immer mehr Krankheitsursachen auf genetische Mechanismen zurückgeführt werden. Dabei sind zwei Entwicklungstrends zu beobachten. Zum einen findet eine Ausweitung des Begriffs der genetischen Krankheit statt. Genetische Faktoren sollen nicht nur für „monogenetische“ Krankheiten (die so genannten Erbkrankheiten), sondern auch multifaktorielle Erkrankungen wie Krebs, Alzheimer, Diabetes und viele andere Bevölkerungskrankheiten verantwortlich sein. Zum anderen kommt es zu einer Neudefinition des Begriff der genetischen Krankheit. Krankheiten werden heute zunehmend als genetische Normabweichungen begriffen. Dabei wird die Kategorie „genetisch bedingt“ so weit ausgedehnt, dass sie heute keineswegs nur Verhaltensauffälligkeiten und Krankheitsformen umfasst, die durch die Keimbahn weitergeben werden, also „genetisch bedingt“ sind im herkömmlichen Sinn des Wortes. Der Begriff der genetischen Krankheit bezieht sich heute nicht nur auf vererbte Genveränderungen, sondern umfasst auch so genannte somatische Mutationen, das heißt Mutationen, die spontan auftreten und erworben werden. Zudem erlaubt es der „genetische Standpunkt“, den Krankheitsbegriff auf Zustände und Normvariationen auszudehnen, die bislang nicht als „krank“ angesehen wurden. Wenn genetische Abweichungen die Grundlage für die Bestimmung von Krankheiten liefern, so können auch genetische Anlagen, Dispositionen, Risiken etc. in den medizinischen Blick genommen werden, die sich (noch) nicht klinisch manifestiert haben. Damit ist das Modell einer präventiven oder prädiktiven Medizin skizziert, die sich von einer konkret beschreibbaren oder empirisch feststellbaren Krankheitssymptomatik abzukoppeln vermag. Auf der Ebene des Genotyps muss sich eine Krankheit nicht notwendig in einem bestimmbaren Krankheitsbild „zeigen“; im Gegenteil ist es das Ziel der molekularen Medizin, das Auftreten der konkreten Symptomatiken zu verhindern (s. dazu bereits Yoxen 1984).

Virtualisierung von Krankheit

Es ist also eine doppelte epistemologische Grundlage für die Ausweitung des Begriffs der „genetischen Krankheit“ zu konstatieren: Die qualitative Redefinition von Krankheiten unter genetischen Vorzeichen wird ergänzt durch deren kognitive Virtualisierung, durch die Entkoppelung der Krankheit von „ihren“ Symptomen, ja dieser Prozess der analytischen Abtrennung und Aufspaltung gilt sogar als Ausweis der Wissenschaftlichkeit. Die „unklaren“ Symptomatiken auf der Ebene des Phänotyps verstellen – so die zugrunde liegende Annahme – den Blick auf die „wirklichen“ genetischen Mechanismen, deren Verständnis erst eine genaue Differenzierung und Systematisierung der Krankheitsursachen erlaubt. Auf diese Weise können jedoch auch Menschen als „krank“ betrachtet und behandelt werden, die völlig symptomfrei sind, da ihre „Krankheit“ allein auf molekulargenetischer Ebene zu diagnostizieren ist. Das Versprechen einer molekularen Medizin ist es, Krankheiten einer wissenschaftlichen (nämlich: genetischen) Klassifikation unterziehen zu können. Die detaillierte Beschreibung molekularer Krankheitsursachen – so die erkenntnisleitende Prämisse – werde es der medizinischen Forschung erlauben, bessere und präzisere (da am Gentyp orientierte) präventive Maßnahmen und therapeutische Techniken zu entwickeln. Diese Präsentation und Vision einer molekularen Medizin vermischt jedoch zwei prinzipiell zu trennende analytische Ebenen. Auf der Ebene des Genoms gibt es keine Krankheiten, naturwissenschaftlich feststellbar sind nur individuelle Variationen. Selbst wenn in molekularbiologischen Lehrbüchern immer wieder über „Krankheitsgene“ geschrieben wird (z.B. Strachan/Read 1996: 453), so ist dieser Ausdruck doch irreführend und letztlich falsch, denn krank sein können nur Menschen oder andere Lebewesen. Von „kranken“ Genen lässt sich wissenschaftlich nicht reden. Die Charakterisierung von bestimmten Zuständen als „krank“ oder „abnorm“ ist eine soziale und moralische Definition, die „Handlungsbedarf“ signalisiert und Interventionen initiieren und legitimieren soll. Die Identifikation von Krankheiten ist daher kein deskriptiv-wissenschaftlicher Vorgang, sondern impliziert immer ein normatives Urteil über die Veränderungsbedürftigkeit von Zuständen. Die Bestimmung von Krankheiten basiert auf dem Vergleich mit Merkmalen oder Bedingungen, die als normal, ideal oder gesund angesehen werden. Mit anderen Worten: Entgegen dem eigenen Anspruch kann es die Molekulargenetik durch die Kennzeichnung genetischer Krankheiten nicht vermeiden, fundamentale Werturteile in Bezug auf Gesundheit und Krankheit zu fällen (vgl. Wiesing 1998).

Gesellschaftliche Selektionsmechanismen

Wenn das, was als Krankheit anzusehen und wie diese zu behandeln sein soll, Gegenstand von sozialen Konflikten und politischen Auseinandersetzungen ist, dann stellt die Konzentration auf genetische Krankheitsursachen (und die gleichzeitige Vernachlässigung anderer Krankheitsfaktoren) mehr als ein innerwissenschaftliches Phänomen oder ein Resultat medizinisch-technischen Fortschritts dar. Die Karriere bestimmter Krankheitsdeutungen hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie in allgemeinere gesundheits- und gesellschaftspolitische Strategien „passen“. Ob konkrete Gesundheits- bzw. Krankheitskonzepte politische Berücksichtigung finden, als sozial akzeptabel und wissenschaftlich respektabel erscheinen, ist von gesellschaftlichen Selektionsmechanismen ebenso wie von politischen Interessen abhängig (vgl. Kühn 2000). Zu fragen ist daher weniger nach den Irrtümern eines „genetisierten Krankheitsverständnisses“ als nach den Interventionsformen, die diese neue Konfiguration medizinischen Wissens produziert. In dieser Perspektive erfüllt ein genetisiertes Krankheitsverständnis zwei wichtige Funktionen, die entscheidend zur gesellschaftlichen Etablierung einer „Gen-Medizin“ (Raem et al. 2001) beitragen dürften. Erstens ermöglicht sie die Lokalisierung pathogener Faktoren im Individuum selbst, ohne den umfassenden sozialen und physischen Kontext der Pathogenese systematisch einzubeziehen. Statt etwa Krebs durch eine Verringerung von Schadstoffen in Luft, Wasser und Ernährung oder die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu bekämpfen, wird er im Rahmen dieses genetischen Krankheitskonzepts zu einer individuellen Angelegenheit, deren Wurzel in persönlichen genetischen Anfälligkeiten ("Suszeptibilitäten") und Dispositionen zu suchen sei. Zweitens erlaubt das Modell genetischer Krankheiten die Vision einer „individualisierten“, das heißt auf das individuelle Genom abgestimmten Medizin, zu verfolgen. Die Gen-Medizin verspricht also eine „Bewältigung“ von Krankheitsproblemen, die es nicht nur scheinbar überflüssig macht, pathogene gesellschaftliche Verhältnisse zu ändern, sondern bietet auch marktförmige „Problemlösungen“ in Form von neuen Medikamenten, Diagnostika und Präventionsoptionen an (vgl. Lemke 2002). Innerhalb der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungstrends könnte die Gen-Medizin nicht nur die Tendenz verstärken, Krankheitsursachen im individuellen Körper zu lokalisieren; darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Verantwortung und Kosten für Krankheiten vermehrt den direkt Betroffenen subjektiv zugerechnet werden.

Fußnoten:

  1. 24. April 2003: 14.372; http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/Stats/mimstats.h…
  2. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/entrez/query.fcgi

Literatur:

  • Bulmahn, Edelgard (2003): Vorwort, in: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.) Krankheitsbekämpfung durch Genomforschung. Das Nationale Genomforschungsnetz, Bonn: BMBF, 6-7.
  • Ganten, Detlev/Ruckpaul, Klaus (2001): Molekulare Medizin, in: Raem, A. M. et al., Gen-Medizin. Eine Bestandsaufnahme, Berlin u. a.: Springer, 3-19.
  • Kühn, Hagen (2000): Normative Ätiologie. Zur Herrschaftlichkeit des gesellschaftlichen Krankheitsverständnisses, Jahrbuch für Kritische Medizin, Nr. 34, 11-18.
  • Lemke, Thomas (2002): Mutationen des Gendiskurses. Der genetische Determinismus nach dem Humangenomprojekt, Leviathan, 30. Jg., Heft 3, 400-425.
  • Raem, Arnold Maria et al. (2001): Gen-Medizin. Eine Bestandsaufnahme, Berlin/Heidelberg u. a.: Springer.
  • Strachan, Tom/Read, Andrew P. (1996): Molekulare Humangenetik, Heidelberg u.a.: Spektrum Akademischer Verlag.
  • Wiesing, Urban (1998): Gene, Krankheit und Moral, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Gen-Welten, Köln: Dumont, 95-99.
  • Yoxen, Edward J. (1984): Constructing Genetic Diseases, in: Duster, Troy/Garrett, Karen (Hg.), Cultural Perspectives on Biological Knowledge, Norwood/NJ: Ablex Publishing Corporation, 41-62.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
164
vom Juni 2004
Seite 39 - 41

Thomas Lemke ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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