Die chromosomale Störung sozialer Ordnung

Geschlecht im Fadenkreuz vorgeburtlicher Bluttests

Nicht-invasive Pränataltests (NIPT) können lange vor der Geburt Wahrscheinlichkeiten für das Vorliegen sogenannter geschlechtschromosomaler Störungen eines Fötus ermitteln. Während anbietende Unternehmen von Erkrankungen sprechen, wehren sich Aktive gegen eine fortschreitende Pathologisierung diverser Körper.

Am 14.12.2018 hat das zuständige Bundesministerium eine Pressemitteilung veröffentlicht, in der bekannt gemacht wurde, dass mit der Änderung des Personenstandgesetztes nicht mehr nur die Eintragung einer Person als männlich oder weiblich im Geburtenregister möglich ist, sondern auch die Eintragung als divers.1 Diese offizielle Anerkennung des sog. dritten Geschlechts bedeutet einen historischen Erfolg im jahrzehntelangen Kampf queerer und intersexueller Bewegungen.
Aber auch eine andere Entwicklung hat stattgefunden: Bereits vor etwa zehn Jahren sind die NIPT auf den Markt gekommen.

Versprechen nicht-invasiver pränataler genetischer Testprodukte

Die NIPT beruhen auf einem Verfahren, das bereits ab der zehnten Schwangerschaftswoche genetische Eigenschaften der Föten untersuchen kann. Da lediglich eine Blutentnahme der Schwangeren notwendig ist, verspricht es, eingriffsbedingte Risiken für die werdende Mutter und den Fötus zu minimieren. NIPT werden hauptsächlich genutzt, um Wahrscheinlichkeiten für das Vorliegen der Trisomien 21, 18 oder 13 bei Föten zu errechnen. Neben einem stetig wachsenden Servicekatalog, der das Auffinden von immer mehr genetischen Varianten – in den Werbetexten der Unternehmen meist als Erkrankungen bezeichnet – verheißt, können NIPT außerdem auch Geschlechtschromosomen screenen. So ermöglichen sie nicht nur, entsprechend früh das Geschlecht eines Fötus als männlich oder weiblich zu bestimmen, sondern auch, Varianten der Geschlechtschromosomen aufzuspüren – in der Terminologie der NIPT-Produktbeschreibungen als geschlechtschromosomale Störungen (GCS) bezeichnet. Das Versprechen der Risikofreiheit können NIPT allerdings nur bedingt einlösen, da im Falle eines auffälligen Befundes eine risikoreichere Fruchtwasserpunktion angeschlossen werden muss.
Cenata – eines der marktführenden Unternehmen – beispielsweise verkauft drei verschiedene Produkte: als einfachste Leistung den Test auf Trisomie 21 für derzeit 199 Euro. Ein Test auf alle drei Trisomien (13, 18 und 21) ist für 229 Euro erhältlich. Das umfassendste All-inclusive-Paket beinhaltet sowohl die Testung auf die drei genannten Trisomien als auch die Testung auf sog. GCS für 299 Euro.2 Auf Antrag eines herstellenden Unternehmens hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ein mehrjähriges Methodenprüfungsverfahren durchgeführt, auf dessen Grundlage im September 2019 zudem die Übernahme der Kosten durch gesetzliche Krankenkassen beschlossen wurde.3

Reproduktion dichotomer Geschlechterverhältnisse durch NIPT

Mit dieser institutionellen Implementierung etablieren sich NIPT zunehmend als regelhafte Prozedur in der ärztlichen Schwangerschaftsbetreuung. Auch das Testen auf geschlechtschromosomale Aneuploidien erfährt in diesem Zuge einen Normalisierungsprozess. In der Genetik wird von einer Aneuploidie gesprochen, sobald eine „zahlenmäßige Veränderungen des Chromosomenbestandes im Vergleich zum als ‚normal‘ betrachteten Chromosomenbestand“4 vorliegt.
Die Trennung von normalen und nicht-normalen Chromosomenbeständen zieht zugleich eine Grenze, die das Gesunde vom Kranken unterscheidet – so erscheinen die aneuploiden Körper in der Sprache der NIPT als erkrankte Körper. Cenata schreibt: „Die beiden Geschlechtschromosomen (X und Y) bestimmen, ob wir männlich oder weiblich sind. X/Y-chromosomale Erkrankungen entstehen, wenn eine fehlende, zusätzliche oder unvollständige Kopie eines Geschlechtschromosoms auftritt.“5 Auf den Homepages der Unternehmen wird so eine heteronormative Welt inszeniert, die diesem menschengemachten Ordnungsprinzip den Anschein verleiht, es sei aus genetischen Tatsachen natürlich erwachsen. Die Naturalisierung dichotomer Geschlechterordnungen funktioniert nicht nur, indem bestimmte Körper anerkannt, „sondern auch bestimmte Geschlechtskörper aberkannt werden.“6 NIPT-Produkte und ihre Beschreibungen sind nicht allein als unternehmerische Strategie zu deuten, sie tragen auch dazu bei, Diskurse und Praktiken zu legitimieren, die die Pathologisierung aneuploider Körper stabilisieren.

Pathologisierung diverser Körper am Beispiel Klinefelter-Syndrom

NIPT-Darstellungen zufolge hängt eine Erkrankung nicht davon ab, welche Symptome im Phänotyp (Erscheinungsbild) auftreten, sondern davon, dass der Chromosomensatz weder als XX noch als XY identifiziert werden kann. Sie verschleiern, dass Träger*innen der genannten Genotypen (Erbbild) im Phänotyp in der Mehrzahl ein beschwerdefreies Leben führen. Als eine der am häufigsten auftretenden sog. GCS gilt das Klinefelter-Syndrom, das als Chromosomensatz 47 XXY, also als ein normal männlich gedeuteter Chromosomensatz plus ein zusätzliches X-Chromosom definiert wird. Selbsthilfegruppen sprechen sogar davon, dass „[j]eder 500. Mann […] ein X-Chromosom zu viel [hat]“7 und weisen darauf hin, dass lediglich 10-15 Prozent der Betroffenen diagnostiziert werden.7 Der Sozialwissenschaftler Heinz-Jürgen Voss schließt daraus, dass „die Medizin nur eine sehr unvollständige Kenntnis davon hat, wie und in welcher Häufigkeit“8 Symptome im Phänotyp auftreten. Insbesondere das an die Aneuploidie geknüpfte Ausbilden von Merkmalen, die als weiblich oder zumindest wenig männlich gelesen werden, wie das Entwickeln einer Brust, stehen im Fokus des klinischen Blickes. Voss spricht in diesem Zusammenhang von einer Pathologisierung diverser Körper: „Anstatt […] eine Vermutung anzuschließen, wie ein ‚weibliches‘ und ‚männliches‘ Erscheinungsbild ‚normalerweise‘ sei“8 , sei es sinnvoller, die offensichtliche Variabilität menschlicher Körper anzuerkennen.

Das Postulat der genetischen Verwandtschaft

Auch andere sog. GCS gehen mehrheitlich mit milden klinischen Symptomen einher. Im Zentrum stehen vielmehr psychosoziale Beschwerden, u.a. da verschiedene sog. GCS von Sterilität begleitet werden. Unternehmen betonen, dass „Frauen mit Ullrich-Turner-Syndrom […] sowie Männer mit Klinefelter-Syndrom in der Regel unfruchtbar“ und somit „eingeschränkt“ sind.5 Unterdessen äußern sich Selbsthilfegruppen gegenüber diesem Postulat der Fertilität ambivalent; Sie fragen: „Eigene Gene weiter geben [sic!] – wie wichtig ist das“?9 und verweisen auf den Einsatz reproduktiver Technologien – wie das Befruchten und Implantieren körperfremder Eizellen. Auch wenn die sog. Eizellspende als Imitation genetischer Elternschaft verstanden werden kann, so wird doch deutlich, dass sog. geschlechtschromosomale Aneuploidien in erster Linie gewohnte soziale Ordnungen stören und nicht die Körper, die sie in sich tragen. In Anlehnung an das obige Zitat stellte die Anerkennung diverser Körper die genetisch verbundene Kleinfamilie als natürlich gegebene Organisationseinheit in Frage.

Private Verantwortung

Auch Unternehmen erkennen die Milde klinischer Symptome an4 und appellieren damit an das Prinzip der informierten Entscheidung und an ein verantwortlich handelndes genetisches Subjekt, das selbst entscheidet, wie es mit dem Wissen, das prädiktive genetische Tests generieren, umgeht. Zahlreiche Forscher*innen haben darauf hingewiesen, dass diese Form der Responsibilisierung einen Zwang zur Entscheidung mit sich bringt, der im Feld der Pränataldiagnostik besonders Frauen trifft. Ein therapeutischer Nutzen der vorgeburtlichen Tests ist bislang nicht belegt. Positive Testergebnisse drängen Schwangere stattdessen in Situationen, in denen Sie die Grenzen ihrer Fürsorge ausloten10 und private Verantwortung für soziale Fragen tragen müssen.
Zwar weisen Selbsthilfegruppen darauf hin, dass für Betroffene, die unter Symptomen leiden, eine frühe Diagnostik die Lebensqualität entscheidend verbessern kann, NIPT stellen jedoch keine adäquate Lösung dar. Vielmehr werden NIPT offen kritisiert, da eine zunehmende Pathologisierung und pränatale Selektion befürchtet wird.11 Zudem zementiert die Klassifikation der Chromosomensätze in gesund männlich, gesund weiblich und entsprechende Abweichungen, ihr verstärktes Suchen und Sichtbarmachen, dichotome Geschlechterordnungen und verhöhnt Errungenschaften wie die Eintragung des sog. dritten Geschlechts. Sie verunmöglicht alternative Geschlechtssubjekte und Subjekte abseits von Geschlecht.

  • 1Das Personenstandsgesetz (PStG) wurde damit entsprechend der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.10.2017 angepasst. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2018): Pressemitteilung 14.12.2018. Zusätzliche Geschlechtsbezeichnung „divers“ für Intersexuelle eingeführt. Online: www.kurzelinks.de/gid256-tl [letzter Zugriff: 22.01.2021].
  • 2Cenata GmbH: Kosten. Online: www.kurzelinks.de/gid256-tm [letzter Zugriff: 22.01.2021].
  • 3Dieser Beschluss soll in Kraft treten, sobald eine Versicherteninformation zu den NIPT und den Trisomien 13, 18 und 21 vom G-BA verabschiedet wurde. Siehe „Neutrale Informationsbroschüre?“ unter Kurz notiert, S.28 in diesem Heft: https://www.gen-ethisches-netzwerk.de/256/kurz-notiert-mensch-und-mediz….
  • 4 a b Voß, H.-J. (2010). Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. Bielefeld: transcript Verlag, S.286.
  • 5 a b Cenata GmbH: Information zu X/Y-chromosomalen Störungen. Online: www.kurzelinks.de/gid256-tn [letzter Zugriff: 22.01.2021].
  • 6Klöppel, U. (2016): Zur Aktualität kosmetischer Operationen ‚uneindeutiger‘ Genitalien im Kindesalter. In: Bulletin Texte 42. Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, S.1. Online: www.kurzelinks.de/gid256-to [letzter Zugriff: 22.01.2021].
  • 7 a b deutsche klinefelter-syndrom vereinigung e.v.: Klinefelter-Syndrom. Online: www.kurzelinks.de/gid256-tp [letzter Zugriff: 22.01.2021].
  • 8 a b siehe FN (4): Voß (2010), S.315f.
  • 9Antonia (2018): Eigene Gene weiter geben – wie wichtig ist das? In: ullrich-turner-syndrom-nachrichten 1/2018. S.21. Online: www.kurzelinks.de/gid256-tq [letzter Zugriff: 22.01.2021].
  • 10Vgl. Rapp, R. (1999): Testing Women, Testing the Fetus. The Social Impact of Amniocentesis in America. Routledge.
  • 11Stempel, M. (2018): Editoral. In: ullrich-turner-syndrom-nachrichten 1/2018, S.5. Online: www.kurzelinks.de/gid256-tq [letzter Zugriff: 22.01.2021].
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
256
vom Februar 2021
Seite 9 - 10

Janina Krause promoviert am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt zum Thema „Doing Autonomy und NIPT“.

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