Rezension: Die Geschichte des Gens

Von Mendel über Eugenik bis Genome Editing

„Warum sind wir so, wie wir sind?“ Diese Frage möchte ein neu erschienenes Buch beantworten, das die gesamte Geschichte der Genetik dokumentiert. Dieses Versprechen kann das Buch nur teilweise erfüllen, auch weil die Aussagekraft von Genetik Grenzen hat.

Cover Mukherjee: Das Gen

Siddhartha Mukherjee, Das Gen. Eine sehr persönliche Geschichte, S. Fischer, 2017, 768 Seiten, 26,00 Euro, ISBN: 978-3-10-002271-4.

 

Siddhartha Mukherjee stellt sich gerne großen Aufgaben. Nachdem er in seinem Bestseller „Der König aller Krankheiten“ die gesamte Geschichte der Wissensbildung rund um Krebs beschrieb, hat er sich nun auf eine noch größere Reise begeben. Sein neues Buch widmet sich detailliert der Idee des „Gen“ von griechischen Vordenkern über Mendel bis hin zu aktueller Genome Editing-Forschung. In seiner Erzählweise hinterlässt das Buch einen widersprüchlichen Eindruck. Viele Kapitel fangen mit großen Behauptungen an, die anschließend, unter der Betrachtung der tatsächlichen wissenschaftlichen Belege, relativiert werden. Es wirkt, als wolle Mukherjee einerseits als Autor mitreißende Geschichten über das Schicksal der Menschheit schreiben. Andererseits scheint er als nüchterner Wissenschaftler die Realität mit allen ihren Unsicherheiten abbilden zu wollen. Eine dritte Ebene stellt die Familiengeschichte des Autors dar. Wie der Untertitel „Eine sehr persönliche Geschichte“ ankündigt, werden die Implikationen genetischer Forschung so auf einer individuellen Ebene thematisiert. Waren es Traumata, Genetik oder Zufall, welche die Erkrankungen seiner Verwandten auslösten? Mukherjees Familie veranschaulicht die Problematik rund um genetisches (Un-)Wissen.
Nicht nur durch die Einbeziehung der persönlichen Ebene sondern auch durch eine kritischere Perspektive hebt sich das Buch von den meisten populärwissenschaftlichen Sachbüchern ab. So wird die Chronik der genetischen Forschung als eine stark von männlicher Eitelkeit geprägte Geschichte beschrieben, in der Wissenschaftler konkurrieren statt zu kooperieren und mit ihrer Arroganz den wissenschaftlichen Fortschritt um Jahrzehnte hemmen. Der Autor thematisiert zudem ausführlich die eugenischen Sterilisationsprogramme in den USA der 20er und 30er Jahre und die Rolle der Genetik im deutschen Nationalsozialismus. Kritische Aspekte jüngerer genetischer Forschung wie selektive Pränataldiagnostik und den Tod von Jesse Gelsinger durch eine experimentelle profitgetriebene Gentherapie lässt der Autor ebenfalls nicht aus.
Leider übernimmt Mukheerjee dabei oft unmarkiert eugenische und rassistische Formulierungen. Auch inhaltlich stößt die kritische Thematisierung der negativen Seiten genetischer Forschung an ihre Grenzen. Indem Mukherjee die personellen und gedanklichen Kontinuitäten zwischen den Kapiteln kaum thematisiert, konstruiert er einen Gegensatz zwischen einer schlechten Pseudowissenschaft und einer guten echten Wissenschaft. Die Konsequenz davon ist ein fehlender kritischer Blick auf aktuellere genetische Forschung. So verwendet er in dem Kapitel über Geschlecht und Intergeschlechtlichkeit stark pathologisierende Sprache. Offensichtlich hat der Autor aktuelle gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatten 1 nicht mitbekommen, wenn er die biologische Geschlechtsausbildung als „schlicht, einfach und binär“ (S. 484) bezeichnet.
Der letzte Teil des Buches will einen Ausblick in die Zukunft geben, stellt Fragen und schwankt zwischen Warnungen und Versprechen. Interessant sind vor allem Mukheerjees Gedanken zu den Auswirkungen von Gendiagnos­tik: Sie erschaffe Previvors, gesunde Menschen, bei denen Erkrankungsrisiken diagnostiziert werden und die nun auf die Erkrankungen warten. Auch ihm könnte es so gehen: Für die in seiner Familie anscheinend verbreitete Schizophrenie wurden viele möglicherweise verantwortliche Genvarianten identifiziert. Doch er entscheidet sich gegen einen Test, weil dieser nicht aussagekräftig genug sei. Wie groß die Lücken in unserem Wissen über das Genom noch sind, macht der Autor leider erst im Epilog klar.

 

  • 1Sex redefined, Nature, 19.02.15, doi:10.1038/518288a, www.nature. com/news/sex-redefined-1.16943.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
244
vom Februar 2018
Seite 33

Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN. Außerdem ist sie Teil der Forschungsgruppe “Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations” (SoSciBio) an der Universität Freiburg.

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