Gesund altern statt ewig jung
Deutsche Anti-Aging-Medizin und Prävention
Altern als Erkrankungsrisiko
Dem Bruch mit der US-amerikanischen Ausrichtung der Anti-Aging-Medizin liegt eine wichtige Akzentverschiebung zugrunde: Alterung wird nicht mehr tendenziell als Krankheit, sondern als Erkrankungsrisiko verstanden.4 Diese neue Konzeption des Verhältnisses zwischen Alterung und Krankheit wird nicht in erster Linie biomedizinisch begründet. Anti-Aging-MedizinerInnen mobilisieren vielmehr alltagsweltliche Konzepte der letzten Lebensphase, um das Erkrankungsrisiko Altern plausibel zu machen. In ihren Argumentationen trennen sie immer wieder die schlechte Wirklichkeit des Alterns von einer guten Möglichkeit des Alterns. Dabei folgen ihre Darstellungen oft einer gängigen Formel des demographischen Krisendiskurses: Altern ist gleich Krankheit, und Krankheit bedeutet individuelles Leiden plus gesellschaftlicher Kollaps. Diesen schlechten Aussichten stellen die Anti-Aging-MedizinerInnen nun die Möglichkeit eines guten, gesunden Alterns gegenüber. Die Eröffnung einer Handlungsalternative macht aus der unausweichlichen Gefahr, als die ein mit Krankheit verbundenes Altern bisher erschien, ein Risiko, das gemanagt werden kann - und zwar durch Prävention und gute Lebensführung.5 Während andere Anti-Aging-Kontexte die passive Erduldung der Leiden des Alterns problematisieren, liegt der Fokus hier auf dem Individuum, das durch mangelndes Bewusstsein und schlechte Lebensführung Krankheit im Alter maßgeblich verursacht oder auch verschuldet. Eine günstige genetische Disposition und ein gesunder, medizinisch optimierter Lebensstil dagegen eröffnen die Möglichkeit, das Risiko kranken Alterns im Zaum zu halten.Gesundheit und Funktionsfähigkeit
Die Stellschrauben für gutes Altern waren nicht immer so klar im Körper und im Verhalten des Einzelnen verortet. Noch vor wenigen Jahren zeigten sich deutsche Anti-Aging-MedizinerInnen in biogerontologischer und umweltmedizinischer Tradition eher skeptisch bezüglich der Frage, inwiefern man mit gesunder Lebensführung den Alterungsverlauf beeinflussen kann.6 Heute jedoch wird gutes Altern vom Individuum her gedacht. Nicht um die Quantität von Lebensjahren, sondern um die Qualität des einzelnen Lebens geht es. Lebensqualität im Alter machen deutsche Anti-Aging-MedizinerInnen vor allem an zwei Kriterien fest: an Gesundheit - die in der Praxis meist mit Krankheitsfreiheit gleichgesetzt wird - und an körperlicher und kognitiver Funktionsfähigkeit. Dabei liegen letzterem Kriterium bürgerliche Funktionsnormen des mittleren Lebensalters zugrunde. Vorstellungen eines guten Sterbens werden hingegen nur selten formuliert, und wenn, bleiben sie vage und realitätsfern. Der Slogan „mit 100 gesund in die Kiste“ ist ein Beispiel hierfür.7 Ausgehend von dieser Vorstellung guten Alter(n)s ist das Behandlungsziel nicht mehr „forever young“ oder ewige Jugendlichkeit. Es geht auch nicht um substanzielle Lebensverlängerung oder gar Unsterblichkeit. Das Ziel ist die Verlängerung der gesunden, funktionsfähigen Lebenserwartung. „Altern ja - aber gesundes Altern“ ist die Devise.8Risiken kalkulieren und managen
Dieses Ziel sucht die deutsche Anti-Aging-Medizin durch eine neue Risikodiagnostik zu erreichen, die herkömmlichen Anti-Aging-Maßnahmen - also insbesondere Hormontherapien, Nahrungsergänzungsmitteln, Lebensstilmaßnahmen und auch ästhetischen Behandlungen - vorgeschaltet wird: Kalkuliert werden sollen noch vor dem Auftreten von Alterungssymptomen gesundheitliche Risiken, die mit der Alterung des jeweiligen Menschen einhergehen. Das Angebot umfasst verschiedene Verfahren, so etwa umfangreiche Blutuntersuchungen, Urintests, Hauttests und vor allem: prädiktive Gentests.9 Das individuelle Risikoprofil der Testperson, das mit diesen Verfahren erstellt wird, begründet dann das ärztliche Handeln an Gesunden. Anhand der ermittelten Risiken entscheiden ÄrztInnen, welche der zur Verfügung stehenden Anti-Aging-Maßnahmen bei der Testperson zum Einsatz kommen. Das Ziel ist eine personalisierte Prävention gesundheitlicher Alterungsrisiken.10 Besonders kritisch in diesem Zusammenhang: Risikodiagnostik und anschließende präventive Behandlung werden überwiegend als selbst zu zahlende Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) angeboten. Denn das Präventionskonzept der deutschen Anti-Aging-Medizin sucht nicht nur die Verantwortung für gesunde Lebensführung bei den Individuen; es zielt auch auf eine Individualisierung der Gesundheitsvorsorge ab. Umlagefinanzierte Gesundheitskosten im Alter sollen reduziert werden, indem die Einzelnen mehr Eigenverantwortung für die eigenen gesundheitlichen Alterungsrisiken übernehmen. Mehr gesundheitliche Eigenverantwortung wird nicht nur in der Anti-Aging-Medizin gefordert. Eigenverantwortung gilt im politischen und medialen Diskurs als ein - wenn nicht der - Ausweg aus der Krise des Gesundheitswesens. Anti-Aging-MedizinerInnen spitzen diese Forderung aber in mehreren Punkten zu: Unter Eigenverantwortung wird nicht nur eine gesunde Lebensführung verstanden, sondern auch die Inanspruchnahme selbst zu zahlender Präventionsmaßnahmen. Sie wird häufig als einziger Ausweg aus der Krise des Gesundheitswesens dargestellt, andere Lösungsmöglichkeiten werden nicht diskutiert. Die Forderung nach mehr Eigenverantwortung ist aber nicht nur Sachzwängen geschuldet; Eigenverantwortung wird auch als eine Form intergenerationeller Solidarität dargestellt, die gerechter sei als das herkömmliche Solidarprinzip des Sozialstaates. Prävention wird hier tendenziell zu einer sozialethischen Verpflichtung.11 Die Aufgabe des Sozialstaats besteht in diesem Konzept allenfalls noch darin, die BürgerInnen zum Risikomanagement zu aktivieren und den Markt für Selbstzahlerleistungen zu deregulieren.Problematisches Altersbild und ungerechte Verantwortlichkeiten
Ob gesundheitliche Alterungsrisiken mit dem hier dargestellten Konzept tatsächlich besser kalkuliert und gemanagt werden können, ist aktuell äußerst fraglich.12 Aber nicht nur aus medizinischer, auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive besteht ein Evidenzproblem. Die Risikokonstruktion nimmt ihren Ausgang in stereotypen, negativen, auf körperlichen Verfall fokussierten Darstellungen der Wirklichkeit des Alter(n)s. Dies widerspricht sozialwissenschaftlichen Befunden, nach denen das Alter eine heterogene und mehrdimensionale Lebensphase ist. Zudem ist die Vorstellung guten Alter(n)s, die dem Behandlungsziel zugrunde liegt, stark auf die körperliche Gesundheit und Funktionsfähigkeit des Einzelnen fokussiert. Damit werden zentrale Aspekte ausgeblendet, die aus sozialgerontologischer Perspektive Lebensqualität im Alter ausmachen, insbesondere soziale, psychische, umweltbezogene und politische Faktoren. Menschen, die derzeit faktisch Schwächen des Alter(n)s erfahren, wird mit diesem enggeführten Ideal das Erreichen guten Lebens im Alter zusätzlich schwer gemacht. Grundsätzlich sollte die Lebensphase Alter in ihrer Heterogenität und Multidimensionalität wahrgenommen und gestaltet werden. Nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen des Alter(n)s müssen dabei Berücksichtigung finden. Deshalb darf die Vorstellung von einem guten Leben im Alter, die unseren Umgang mit dem Alter(n) ja leitet, nicht auf Gesundheit und Funktionsfähigkeit reduziert werden. Insbesondere psycho-soziale, umweltbezogene und politische Aspekte von Lebensqualität im Alter müssen berücksichtigt und Sterben und Tod dürfen nicht ausgeblendet werden. Problematisch ist auch das Konzept von Eigenverantwortung, denn hier wird Alterung in ein Problem individueller Inaktivität und Verantwortungslosigkeit umgedeutet. Der Alterungsverlauf liegt aber allenfalls zum Teil in der Verantwortung des Einzelnen. Zudem sind die Ressourcen für die geforderte lebensstilbezogene und finanzielle Eigenverantwortlichkeit für Gesundheit im Alter ungleich verteilt.13 Menschen dazu verpflichten zu wollen, sich auf eigene Kosten individuelle Risikoprofile erstellen zu lassen und einen medizinisch optimierten Lebensstil zu führen, hat nichts mit einer gerechteren intergenerationellen Solidarität zu tun, sondern benachteiligt große Bevölkerungsgruppen. Die Verantwortung für Gesundheit im Alter muss deshalb so zwischen Individuum und Sozialstaat verteilt sein, dass bestehende Ungleichheiten nicht verschärft werden und Chancenungleichheiten solidarisch ausgeglichen werden. Auch wenn die Anti-Aging-Medizin in Deutschland das Altern nicht mehr als Krankheit versteht, handelt es sich aus sozialgerontologischer Perspektive dennoch nicht um ein zu befürwortendes Präventionskonzept. Denn der Behandlungsansatz hält der sozialgerontologischen Forderung nach einer differenzierten und multidimensionalen Betrachtung und Gestaltung des Alter(n)s nicht stand. Zudem läuft er dem Ideal einer solidarischen Diversität von Lebensformen zuwider. Umso wichtiger ist es, die Frage, wie wir das Altern und den Umgang mit gesundheitlichen Alterungsrisiken gestalten wollen, verstärkt zu diskutieren. Dafür sind nicht nur WissenschaftlerInnen gefragt, sondern insbesondere auch ältere Menschen selbst und die - häufig vergessenen - Pflegeleistenden.- 1Vgl. unter www.gsaam-konferenz-2014.de oder www.kurzlink.de/gid222_b.
- 2Römmler, Alexander, Markus Metka, Roland Ballier (2008): Anti-Aging am Scheideweg. Presseerklärung, 09.09.08, im Netz unter www.gsaam.de/Downloads/presse090908.pdf.
- 3Konträre Thesen über Anti-Aging in Deutschland formulieren zum Beispiel Stöhr, Manfred (2005): Die Wahrheit über Anti-Aging, Frankfurt a. M.; Rüegger, Heinz (2009): Alter(n) als Herausforderung, Zürich; Eichinger, Tobias (2011): Anti-Aging als Medizin? in: Maio, Giovanni (Hg.): Altwerden ohne alt zu sein? Freiburg i. B., S. 118-155.
- 4Zur Vorstellung vom Alter(n) als Krankheit vgl. zum Beispiel Römmler, Alexander (2002): Einführung in die Anti-Aging Medizin, in: Römmler, Alexander und Alfred Wolf (Hg.): Anti-Aging-Sprechstunde, Berlin, S. 1-24. Als Erkrankungsrisiko gefasst wird die Alterung zum Beispiel bei Kleine-Gunk, Bernd (2007): Anti-Aging-Medizin: Hoffnung oder Humbug? Deutsches Ärzteblatt 104(28-29), S. A2054.
- 5Vgl. Fuchs, Peter (2008): Prävention, in: Saake, Irmhild, Werner Vogd (Hg.): Moderne Mythen der Medizin, Wiesbaden, S. 363-378.
- 6Vgl. zum Beispiel Römmler, Alexander (2002): Einführung in die Anti-Aging Medizin, in: Römmler, Alexander, Alfred Wolf (Hg.): Anti-Aging-Sprechstunde, Berlin, S. 8.
- 7Vgl. unter www.malekigroup.com oder www.kurzlink.de/gid222_d, S. 52.
- 8Harder, Bernd (2009): Alle reden von Prävention - wir machen sie, in: Ärztliche Praxis Prävention 2(3), S. 24.
- 9Zum Beispiel Huber, Johannes (2007): Bedeutung der Gendiagnostik für die Präventionsmedizin, in: Journal of Preventive Medicine 3(3+4), S. 310-311.
- 10Zum Beispiel bei Klentze, Michael (2005): Personalisierte Medizin, in: Anti Aging for Professionals 1(1), S. 16-22.
- 11Vgl. zum Beispiel Hennig, Claudia und Michael Klentze (2007): Editorial, in: Gesund alt werden 1(1), S. 2.
- 12Die biologische Alternsforschung stellt ein ähnliches Präventionskonzept in Aussicht, das wissenschaftlich besser fundiert sein soll: eine präventive Medizin gegen biologische Alterungsprozesse. Vgl. zum Beispiel Ehni, Hans-Jörg, Julia Dietrich, Jon Leefmann, Mone Spindler (2012): Das Altern abschaffen? Ethische Fragen der Biogerontologie, in: ProAlter 44(5), S. 60-63.
- 13Vgl. auch Marckmann, Georg, M. Möhrle, A. Blum (2004): Gesundheitliche Eigenverantwortung, in: Hautarzt (55), S. 715-720.
Mone Spindler ist Soziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehört die wissenssoziologische und ethische Analyse der medizinischen und technischen Gestaltung des Alter(n)s.
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