Halbherziger Schutz von Inter*-Kindern
Unzureichendes Verbot geschlechtsverändernder OPs
Intergeschlechtliche Kinder sollen durch ein neues Gesetz künftig besser vor geschlechtsverändernden Operationen geschützt werden. Ein Recht auf körperliche Unversehrtheit und geschlechtliche Selbstbestimmung für alle Inter*-Kinder garantiert es jedoch nicht.
Trotz neuer Gesetzgebung verbleibt die Definitionshoheit über intergeschlechtliche Menschen weiterhin bei der Medizin. Foto: gemeinfrei unter www.unsplash.com
Mit der Verabschiedung des Gesetzes „zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“1 hakte die Bundesregierung am späten Abend des 25. März 2021 einen Punkt ihres Koalitionsvertrags ab. Das Gesetz soll nicht einwilligungsfähige intergeschlechtliche Kinder vor chirurgischen Eingriffen schützen, deren alleiniges Ziel es ist, ihre Genitalien an ein normiertes Bild des männlichen oder weiblichen Geschlechts anzupassen. Ausgenommen sind operative Eingriffe zur Abwehr einer Gefahr für das Leben oder die Gesundheit betroffener Kinder. Interessenvertretungen und Sachverständige hatten im Laufe des Verfahrens immer wieder auf Verbesserungsbedarf und Schutzlücken hingewiesen, was der Gesetzgeber nur unzureichend berücksichtigte.
Überfälliges Schutz-Gesetz
Im 20. Jahrhundert schufen die Verlagerung der Geburtshilfe in Krankenhäuser, die Etablierung einer zweigeschlechtlichen Norm sowie die Ausweitung diagnostischer Möglichkeiten die Grundlage für Operationen an Babys und Kleinkindern, die nicht eindeutig dem männlichen oder dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden konnten. Diese Eingriffe galten als gut für die Kinder, da man davon ausging, dass sie sich auch sozial mit dem zugewiesenen Geschlecht identifizieren würden und so ein „normales“ Leben ohne Diskriminierung führen könnten.
Selbstvertretungsorganisationen von intergeschlechtlichen Menschen kritisieren diese medizinisch unnötigen Operationen seit den 1990er Jahren als Verstoß gegen die Menschenrechte. Ihrem Einsatz und zahlreichen Rügen internationaler Menschenrechtsorganisationen ist es zu verdanken, dass der Schutz vor fremdbestimmten maskulinisierenden und feminisierenden Operationen in Deutschland nun endlich gesetzlich festgeschrieben ist. Nachdem 2018 der Personenstand „divers“, als dritter positiver Geschlechtseintrag in das Geburtenregister – neben „männlich“ und „weiblich“ –, eine erste entscheidende Verbesserung für die Anerkennung von Inter*-Personen brachte, ist das neue Gesetz der logische und überfällige nächste Schritt des Gesetzgebers.
Kein Paradigmenwechsel
Die Wahrung der geschlechtlichen Selbstbestimmung und der körperlichen Unversehrtheit aller intergeschlechtlichen Kinder garantiert das Gesetz allerdings nicht. Die schutzwürdige Gruppe ist medizinisch definiert: Das Gesetz gilt nur für Kinder, deren angeborene Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale als „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ eingeordnet werden. Unter diesem Oberbegriff werden verschiedene angeborene Diagnosen zusammengefasst, bei denen die Genetik, die Keimdrüsen oder die Geschlechtsorgane nicht im Sinn der Zweigeschlechter-Norm übereinstimmen.2 Intergeschlechtliche Kinder, die nicht in diese Kategorie fallen, sind weiterhin dem Urteil der behandelnden Ärzt*innen sowie den Entscheidungen ihrer Eltern ausgesetzt. Interessenverbände befürchten, das Operationsverbot könne umgangen werden, indem Kinder aus dem Anwendungsbereich hinausdefiniert werden. Bislang waren solche Operationen bereits durch medizinische Leitlinien untersagt, diese sind jedoch nicht bindend. Studien haben zudem gezeigt, dass Ärzt*innen auf andere Diagnosen auswichen, um Operationen zu begründen, die sie dennoch für nötig hielten.3 Nicht die Gesundheit der Kinder stand dabei im Vordergrund, sondern das Ziel, ein Genital zu schaffen, das optisch als männlich oder weiblich gelten kann. So mahnte beispielsweise die Geschlechterforscherin Ulrike Klöppel in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf im Januar 2021, der Begriff der „Variante der Geschlechtsentwicklung“ sei „weder längerfristig fixiert noch eindeutig und verbindlich definiert“.4 Das neue Gesetz lässt also Hintertüren offen.
Forderungen Betroffener
Die internationale Vereinigung intergeschlechtlicher Menschen (IIO) fordert eine menschenrechtsbasierte Gesetzgebung, durch die „alle angeborenen Geschlechtsmerkmale aller intergeschlechtlichen Kinder gleichwertig geschützt werden und Eingriffe und Behandlungen nur stattfinden dürfen, wenn sie nicht aufschiebbar sind wie z.B. bei einer drohenden Lebensgefahr”.5 Die Einrichtung eines Zentralregisters zur Dokumentation von Eingriffen, auf das Betroffene zugreifen können, ist vorgesehen, wurde jedoch nicht im Gesetzestext verankert. Begründet wurde dieses Versäumnis mit unzureichender Zeit zur Klärung von Details, was in Anbetracht der bereits über drei Jahre währenden Legislaturperiode nur überraschen kann. Zwar sollen Akten zukünftig bis zum 48. Lebensjahr der Betroffenen aufbewahrt werden, damit diese unkompliziert herausfinden können, wann, warum und von wem sie operiert wurden, Verjährungsfristen wurden jedoch nicht verlängert. Ältere Inter*-Personen können so zukünftig zwar ihre Behandlungsgeschichte einsehen – sobald ein adäquates Zentralregister eingerichtet ist –, Klagen und Strafverfolgung bei Menschenrechtsverstößen, wie von Betroffenenverbänden gefordert, werden jedoch nicht möglich sein.
Da das Verbot von menschenrechtswidrigen Operationen an intergeschlechtlichen Kindern eines der wenigen konkreten queerpolitischen Versprechen der Großen Koalition war, frustriert dieses Versäumnis. Laut Henny Engels, Mitglied des Bundesvorstands im Bundesverband des Lesben- und Schwulenverbandes (LSVD), liege es an der nächsten Bundesregierung nachzubessern, „um einen besseren und ausreichenden Schutz der Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten.“
Die lange Zeit bei Eltern sowie Ärzt*innen handlungsleitende Überzeugung, „geschlechtsangleichende“ Operationen würden intergeschlechtliche Kinder vor gesellschaftlicher Diskriminierung schützen, zeigt, wie gefährlich die Annahme ist, es gäbe nur zwei Geschlechter. Dies pathologisiert und stigmatisiert intergeschlechtliche Menschen. Das Problem ist nicht die Intergeschlechtlichkeit, sondern die Trägheit der Gesellschaft, die in weiten Teilen krampfhaft an einer binären Geschlechternorm festhält. Das Gesetz ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Weitere müssen folgen, um geschlechtliche Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit für alle zu gewährleisten.
Dieser Artikel ist ein angepasster Wiederabdruck. Er erschien erstmals als Kommentar in der jungle world # 2021/14.
- 1Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz hatte einen Bericht zur Sachverständigen-Anhörung im Januar 2021 und eine Beschlussempfehlung zur Annahme des Gesetzentwurfs der Bundesregierung in geänderter Fassung vorgelegt. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/27929. Online: www.kurzelinks.de/gid257-th [letzter Zugriff: 20.04.21].
- 2Der Bundesverband Intergeschlechtliche Menschen e.V. informiert ausführlicher über Begrifflichkeiten und Erscheinungsformen der Intergeschlechtlichkeit. Online: www.kurzelinks.de/gid257-ti [letzter Zugriff: 05.05.21]. Die S2k-Leitlinie definiert, was medizinisch als Variante der Geschlechtsentwicklung gilt. Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) e.V. et al. (2016): S2k-Leitlinie 174/001: Varianten der Geschlechtsentwicklung aktueller Stand: 07/2016. In: AWMF-Register Nr.174/001. Online: www.kurzelinks.de/gid257-te [letzter Zugriff: 20.04.21].
- 3iehe hierzu z.B. Achtelik, K. (2017): Operationen an Intersex-Kindern. In: GID, 2017, 240, S.31.
- 4Klöppel, U. (2021): Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (Drs. 19/24686 vom 25.11.2020), S.3. Online: www.kurzelinks.de/gid257-tf [letzter Zugriff: 20.04.21].
- 5Deutsche Vertretung der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM) | Organisation Intersex International (OII Germany) (2021): Ein steiniger Weg für Menschenrechte – Deutschland verabschiedet ein Gesetz zum Schutz von Kindern mit sog. Varianten der Geschlechtsentwicklung. Pressemitteilung 26.03.2021. Online: www.kurzelinks.de/gid257-tg [letzter Zugriff: 20.04.21].
Taleo Stüwe ist Mediziner*in und Mitarbeiter*in des GeN.
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