Für einen antiableistischen Feminismus!
Redebeitrag zu Pränataldiagnostik und Selbstbestimmung
Am 18. September 2021 fand wieder einmal der "Marsch für das Leben" in Berlin statt. Verschiedene feministische Bündnisse riefen zu Protesten gegen diese Anti-Choice-Demonstration auf und organisierten eigene Demos und Aktionen für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung.
Das GeN beteiligte sich mit einem Redebeitrag zu Pränataldiagnostik auf der queerfeministischen Vorabenddemo (17.09.21) sowie der Kundgebung (18.09.21) vom What the Fuck Bündnis, der hier nachgelesen werden kann.
Feministische Proteste gegen den "Marsch für das Leben" am 18.09.2021 in Berlin. Bildrechte: ©Sascha J. Bachmann /Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
Hallo. Ich bin Taleo und freue mich hier heute für das Gen-ethische Netzwerk sprechen zu können. Danke für die Einladung.
Aus gegebenem Anlass werde ich über Pränataldiagnostik sprechen und darüber, was dieses Thema mit Schwangerschaftsabbrüchen und Selbstbestimmung zu tun hat.
Die Forderung nach sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung ist ein feministischer Grundkonsens. Ein tabufreier, legaler und kostenloser Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen ist Voraussetzung für die Überwindung der patriarchalen Fremdbestimmung von Menschen, die schwanger werden können.
Bis hier hin ist die Forderung nach Selbstbestimmung recht eindeutig. Schwangere Personen sollen selbst entscheiden können, ob sie die Schwangerschaft austragen oder abbrechen wollen.
Aber wie lässt sich diese Forderung ausformulieren bezüglich der immer weiter fortschreitenden Ausweitung und Normalisierung von Pränataldiagnostik?!
Pränataldiagnostik, also vorgeburtliche Untersuchungen des Embryos bzw. Fötus, sind aus der Schwangerschaftsbegleitung nicht mehr wegzudenken.
Die allermeisten vorgeburtlichen Untersuchungen zielen allerdings nicht darauf ab, Erkrankungen zu erkennen und somit behandeln zu können. Sondern es geht vor allem darum, Hinweise für das Vorliegen von Behinderungen beim Fötus zu entdecken bzw. auszuschließen. Am bekanntesten ist sicherlich die vorgeburtliche Suche nach dem Down-Syndrom (Trisomie 21).
Die einzige Alternative zum Austragen der Schwangerschaft ist in diesem Fall ein Schwangerschaftsabbruch aufgrund der Behinderung. Eine Therapie gibt es nicht.
Schwangere Personen müssen im Laufe der Schwangerschaft also nicht nur entscheiden, ob sie die Schwangerschaft fortsetzen oder abbrechen möchten. Wenn sie sich für die Schwangerschaft entschieden haben, müssen sie sich fragen: Wollen sie Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen oder nicht? Wenn ja, welche Untersuchungen? Welche Konsequenzen würden sie aus einem auffälligen Testergebnis ziehen? Würden sie zum Beispiel im Fall einer Down-Syndrom-Diagnose die eigentlich schon angenommene Schwangerschaft abbrechen?
Die Entscheidungen rund um Pränataldiagnostik werden extrem individualisiert.
Werdende Eltern sollen „frei“ und „selbstbestimmt“ entscheiden, können es aber eigentlich nur falsch machen:
Entscheiden sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch wegen einer vorgeburtlich diagnostizierten Behinderung, gelten sie als behindertenfeindlich.
Entscheiden sie sich gegen die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik oder wissentlich für die Geburt eines Kindes mit Behinderung, müssen sie sich erstens rechtfertigen. – Kommentare auf dem Spielplatz sind keine Seltenheit. Von „Habt ihr es denn nicht gewusst?“ bis hin zu „SOWAS muss doch heutzutage nicht mehr sein.“
Und zweitens dürfen sie sich nicht beschweren, über ein Mehr an Sorgearbeit, administrative Hürden etc. Weil: sie hätten es ja vorher wissen und sich dagegen entscheiden können.
Schwangere Personen werden also massiv in die Verantwortung genommen und stehen unter Druck. Schon 1992 sagte die langjährige Aktivistin der Behindertenbewegung und Feministin Swantje Köbsell:
„Es zeichnet sich ab, daß es bald nicht mehr möglich sein wird, wirklich selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, sofern sich diese gegen die etablierte Verpflichtung, nur noch ‚perfekte Kinder‘ zu gebären, richtet.“
In der Gesellschaft und besonders im Gesundheitssystem herrscht nach wie vor ein defizitorientiertes Bild von Behinderung vor. Behinderung wird mit Krankheit gleichgesetzt und viele verknüpfen ein Leben mit Behinderung mit Leid und Unglück.
In einer kapitalistischen Gesellschaft ist die Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigung fest verankert. Durch die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik gelten die Leistungsorientierung und Optimierungslogik auch für Schwangerschaften.
Die neuste Eskalationsstufe der vorgeburtlichen Suche nach Behinderungen ist der sog. Nicht-invasive Pränataltest (NIPT). Hierbei wird aus dem Blut der schwangeren Person das fetale Erbgut herausgefiltert und auf bestimmte genetische Eigenschaften untersucht.
Vor einem Monat wurde beschlossen, dass dieser Bluttest auf die Trisomie 21 und auch die selteneren Trisomien 13 und 18 zukünftig von den Krankenkassen bezahlt werden soll.
Die Solidargemeinschaft zahlt dann also einen Test, der keinen medizinischen Nutzen hat.
Gerade wenn wir bedenken, was alles keine Kassenleistung ist – Zahnersatz, Brillen, Schwangerschaftsabbrüche – wird die Absurdität eines kassenfinanzierten Suchtests auf das Down-Syndrom deutlich.
Ein Blick in Länder, wo das bereits Realität ist, gibt Aufschluss über die zu erwartende Entwicklung: Die allermeisten werdenden Eltern entscheiden sich im Fall eines auffälligen Befundes für einen Schwangerschaftsabbruch. Aktuelle Studienergebnisse zeigen, dass die Zahlen der Kinder, die mit Down-Syndrom geboren werden, europaweit zurückgehen.
Nun gehen wieder einmal selbsternannte „Lebensschützer*innen“ auf die Straße und inszenieren sich als einzige moralische Instanz – auch für die Interessen von Menschen mit Behinderung. Das darf nicht unkommentiert bleiben und macht gerade an diesem Wochenende eine differenzierte feministische Positionierung zu Pränataldiagnostik so extrem wichtig.
Lasst uns
- Reproduktive Selbstbestimmung und Antiableismus zusammendenken.
- Unsere Privilegien checken und unsere eigene Behindertenfeindlichkeit reflektieren.
- Eintreten für eine antiableistische Gesellschaft, in der Sorgeverhältnisse nichthierarchisch und gerecht verteilt sind.
Denn nur in einer intersektional-feministische Gesellschaft, können schwangere Personen auch freie selbstbestimmte Entscheidungen GEGEN die Inanspruchnahme von Pränataldiagnostik und FÜR die Geburt eines Kindes mit Behinderung treffen.
Und ich schließe mit einem Zitat von Ulrike Haase vom Netzwerk behinderter Frauen Berlin:
„Wir haben immer gesagt: Ob Kinder oder keine entscheiden wir alleine – aber dabei sollte keine Rolle spielen, ob es ein Kind mit oder ohne Behinderung ist!“
Taleo Stüwe ist Mediziner*in und Mitarbeiter*in des GeN.
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