Ultraschall und Kulturen des Risikos
Ultraschallnutzung in Deutschland
Deutschland ist internationaler Champion beim Einsatz von Ultraschall in der Schwangerenvorsorge – für die internationale Gesundheitswissenschaft ein interessantes Phänomen. Dr. Susan L. Erikson hat empirisch an deutschen Kliniken danach geforscht, was GeburtshelferInnen und was schwangere Frauen mit dem Begriff des Risikos und mit den Ultraschallbildern verbinden.
Wie ist der Zusammenhang zwischen Ultraschall in der Schwangerschaft und der Gesundheit schwangerer Frauen und Ungeborener? Nicht so stark, wie deutschen Frauen Glauben gemacht wird. Und der Zusammenhang zwischen pränatalem Ultraschall und Risiko? Ein tautologischer: Ultraschall gilt zwar als Mittel, um Risiken zu reduzieren. Aber: Je mehr Ultraschall eingesetzt wird, desto mehr Risiken werden auch produziert. Als Gesundheitswissenschaftlerin habe ich zum Alltag des Ultraschalls in Deutschland geforscht. Deutschland war das erste Land in der Welt, das Ultraschalluntersuchungen zum festen Bestandteil der Schwangerschaftsvorsorge gemacht hat. Inzwischen verwenden viele Länder diese Technik. Es besteht international ein gesellschaftlicher Konsens, dass Geburt ein riskantes Lebensereignis darstellt, welches von medizinischen Fachkräften gemanagt werden muss. Der Unterschied jedoch ist, dass in Deutschland besonders oft hingeschaut wird, weitaus häufiger als in Schweden, Kanada oder Australien, welche vergleichbare Standards für Geburtsausgänge haben. Offiziell werden in Deutschland zwar meistens nur die drei in der Schwangerenvorsorge vorgesehenen Ultraschalls im Mutterpass eingetragen. Meine Forschung ergab aber, dass die schwangeren Frauen durchschmittlich siebenmal mit Ultraschall untersucht wurden. In Schweden ist in der Vorsorge nur ein Ultraschall vorgesehen – und dies entspricht auch der Praxis, ebenso wie in Kanada. Hier werden also wesentlich weniger Schwangere als „Risikopatientinnen“ eingestuft und dadurch verunsichert. Um diese Unterschiede zu verstehen, habe ich Forschungen an zwei Frauenkliniken durchgeführt: eine im Osten Deutschlands (in Thüringen) und eine im Westen (in Hessen). Die Chefärzte der beiden Krankenhäuser unterstützten mich enthusiastisch. So konnte ich insgesamt bei 449 Ultraschalluntersuchungen anwesend sein, bei 233 im ehemaligen Ostdeutschland und 216 im ehemaligen Westdeutschland. Zudem erhob ich Daten zum sozialen Hintergrund der Patientinnen und zum Indikationsstatus. Durch Interviews mit 111 Frauen erhielt ich persönliche Daten. Und ich interviewte auch FrauenärztInnen, Hebammen und Krankenschwestern.
Risiko-Boom
Meine Forschung ergab, dass die normale deutsche Schwangerenvorsorge den weiblichen Körper an sich als Risiko ansieht. Dies bezeichne ich mit „embodied risk“, also der Verkörperung des Risikos durch eine Person. Das „embodied risk“ unterscheidet sich von dem Umweltrisiko, also dem Risiko, dem eine Person ausgesetzt ist oder dem Lebensführungsrisiko, das im eigenen riskanten Verhalten begründet liegt.(1) Bei Schwangeren in Deutschland wird dieses „embodied risk“ selbstverständlich vorausgesetzt. Schwangere Frauen gelten nie als risikofrei, und der Ultraschall wird dazu verwendet, den riskanten Zustand der Schwangeren zu bestätigen. Indem Fötus und Gebärmutter so oft untersucht werden – in den meisten Fällen bei jeder Vorsorge –, werden immer neue Risiken gefunden, identifiziert und kategorisiert. Diese dienen wiederum dazu zu ermitteln, bis zu welchem Grad die Schwangerschaft weiter gemanagt und überwacht werden soll. Im Vergleich zu der Zahl der Kinder, die tatsächlich behindert oder tot auf die Welt kommen, ist die Rate der Risikodiagnosen bei Schwangerer und Fötus sehr hoch. Erhöhte Risiken beim Ungeborenen wurden in einem Krankenhaus zehnmal, im anderen achtmal häufiger diagnostiziert. Ein mütterliches Risiko wurde sogar in 70 Prozent beziehungsweise 85 Prozent aller Schwangerschaften festgestellt. Für die Mehrzahl der schwangeren Frauen konnte mit Ultraschall also keine zuverlässige Prognose zum Geburtsausgang gestellt werden. Riskante Körper versus riskantes Verhalten Bei der Beobachtung der Ultraschalluntersuchungen stellte ich fest, dass GeburtshelferInnen und Frauen die Ultraschallbilder unterschiedlich „sahen”. Dies hatte damit zu tun, dass beide Gruppen unterschiedliche Vorstellungen von dem hatten, was ein Risiko ist. ÄrztInnen schreiben in ihrer täglichen Praxis die Fahndung nach dem Risiko groß. Sie beurteilen den Körper einer schwangeren Frau immer in Hinblick auf die epidemiologischen Wahrscheinlichkeiten, dass Probleme auftreten könnten. Sie wenden viel Zeit dafür auf, Risiken bei Mutter und Kind aufzuspüren. Sie kalkulieren Risikofaktoren, um korrekt voraussagen zu können, ob und wie die Schwangerschaft schief gehen wird. Ein anderes Verhältnis zum Risiko hatten die schwangeren Frauen. In dem ostdeutschen Krankenhaus stimmten mir nur 20 Prozent der Frauen zu, wenn ich sie fragte, ob ihre Schwangerschaft riskant sei. Dies war wenig für ein Krankenhaus, das darauf spezialisiert ist, „Hochrisiko“-Schwangere zu betreuen. Einige beantworteten meine Frage, indem sie lapidar erklärten, das Leben an sich sei riskant. Die meisten betonten, dass Schwangerschaft etwas „Natürliches“ für Frauen sei, und verwendeten Formulierungen wie „in anderen Umständen“ sein oder: Schwangerschaft „gehört zum Leben". Zudem neigten die Frauen dazu, das Risiko im Hinblick auf Umstände zu definieren, die sie kontrollieren können. Beispielsweise erwähnten sie Entscheidungen über ihren Lebensstil – wie sich richtig ernähren, genug schlafen oder Stress, Alkohol und sogar Passivrauchen vermeiden. Interessant war, dass die Frauen dabei oft Risiken in der Schwangerschaft und Verantwortung für die Schwangerschaft nicht voneinander unterschieden: „Risiken“ bedeuteten Verhaltensweisen, für die sie verantwortlich waren oder bei einem schlechten Schwangerschaftsausgang verantwortlich gemacht werden könnten. Risiko und Verantwortung wurden in erster Linie als Handlungsweisen verstanden: konkret und beobachtbar. Es gab subtile Unterschiede, wie Frauen im Ost- und im Westkrankenhaus über Risiko sprachen. Allgemein konnte ich eine größere Akzeptanz des medizinischen Risikobegriffs bei Frauen im Westkrankenhaus feststellen. Sie stellten die ärztliche Autorität in den Interviews weniger in Frage. Der bemerkenswerteste Unterschied zwischen den beiden Gruppen war die Art und Weise, wie Frauen im Ostkrankenhaus Risiken als soziale Risiken beschrieben. Sie betonten das Risiko, Kinder zu bekommen, wenn man arbeitslos ist oder im Hinblick auf eine ungewisse Zukunft, wie es für viele Ostdeutsche während oder direkt nach der Wiedervereinigung der Fall war.(2) Wenige Frauen erwähnten genetische oder körperliche Faktoren als Risiken, die sie oder ihren Fötus bedrohen könnten, und noch weniger antworteten mit einem uneingeschränkten „Ja“ auf die Frage, ob ihre Schwangerschaft riskant sei. Auch wenn schwerwiegende Risiken diagnostiziert und ausführlich erläutert wurden, blieb das Risiko für die Patientinnen unsichtbar, solange sie keine Symptome hatten – wie etwa bei Bluthochdruck, der häufig zu Präeklamsie (3) führt. Die Frauen mussten also die Gefahr spüren, um sie als real wahrzunehmen. Bei der Beschreibung von ernsthaften Risiken, die sie nicht fühlen konnten, verwiesen sie auf die behandelnden Ärzte: „Sie sagen mir“ oder: „Sie sagen“. Sie beschrieben also die Gefahr als etwas, was ihnen von außen zugeschrieben wurde. Diese prinzipielle Distanziertheit unterschied sich von der Beschreibung des riskanten Verhaltens wie dem Glas Wein oder der Bratwurst, die sie in der vergangenen Nacht zu sich genommen hatten.
Jenseits wissenschaftlicher Evidenz
Meine Forschung bestätigt, dass Risiken als kulturelle Artefakte verstanden werden müssen, wie es Handwerker formuliert hat, nicht nur als medizinische Tatsachen.(4) SozialwissenschaftlerInnen schreiben seit Jahren darüber, wie der Risikobegriff – medizinisches Risiko, finanzielles Risiko, Umweltrisiko – konstruiert wird. Wir werden nicht mit dem Wissen geboren, was ein Risiko ist, sondern wir lernen als Kinder von unseren Eltern und von anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft, was ein Risiko ist und was nicht. Die Risikodefinition variiert von Kultur zu Kultur. Die Idee, was ein Risiko ist, hängt vom Wissen ab – und Wissen verändert sich mit der Zeit und dem Ort. Dieses Wissen liefert uns den Grund, Gefahren zu fürchten. Viele Gesellschaften sehen Geburt als riskant an, aber was genau als Schwangerschafts- und Geburtsrisiken definiert wird, variiert stark. Warum gibt es so viele Ultraschalluntersuchungen in Deutschland, obwohl es inzwischen erhebliche Zweifel an der wissenschaftlichen Evidenz gibt? Aufschlussreich ist eine Studie, die 1993 in der renommierten Zeitschrift New England Journal of Medicine publiziert wurde. Diese wurde als „RADIUS-Studie“ bekannt.(5) Sie ging der Frage nach, welchen Einfluss Ultraschalluntersuchungen auf den Gesundheitsstatus von Neugeborenen haben. Die randomisierte Studie beforschte 15.151 Frauen und ergab, dass Ultraschalluntersuchungen den Ausgang einer Schwangerschaft nicht verbessern. Die RADIUS-Studie gilt weltweit als wissenschaftlicher Standard und wird auch in Europa – mit Ausnahme von Deutschland – häufig zitiert. Wenn ich sie deutschen MedizinerInnen gegenüber erwähnte, hörte ich oft herablassende Bemerkungen. Ein Frauenarzt in der ostdeutschen Klinik erklärte mir, dass die RADIUS-Studie Unfug sei, da sie nicht die Qualität und das Training der Untersucher kontrolliert hätte. Und deutsche Frauen „seien sowieso anders“. Tatsächlich bezog sich die RADIUS-Studie jedoch ausschließlich auf die Arbeit von SpezialistInnen, nämlich 91 RadiologInnen und 60 spezialisierten Ultraschall-TechnikerInnen. Ich empfand diesen Punkt als ausgesprochen interessant, da gerade in deutschen Kliniken ÄrztInnen Ultraschalluntersuchungen ohne einen einzigen Trainingstag durchführen dürfen. Übrigens: Als ich nach der weitaus höheren Quote der Hausgeburten in den Niederlanden von 30 Prozent aller Geburten im Vergleich zu 1 bis 2 Prozent aller Geburten in Deutschland fragte, bekam ich die gleiche Antwort: „Deutsche Frauen sind anders."(6)
Unnötige Kontrolle - aber Kontaktaufnahme
Staatliche Richtlinien zur Mutterschaftsvorsorge unterscheiden sich innerhalb von Europa erheblich darin, wie sie Risiken in der Schwangerschaft wahrnehmen und welche sie als bedrohlich für die physische und psychische Gesundheit der Frau und des Kindes definieren. Meine Studie plaziert Deutschland am Ende einer Skala – mit der häufigsten Anwendung von Ultraschall zur Kontrolle von Schwangerschaften. Angesichts der Tatsache, dass es keine wissenschaftliche Grundlage dafür gibt, dass diese Untersuchungen notwendig sind, gehe ich davon aus, dass sich in Deutschland die Kultur des Ultraschalls verselb-ständigt hat. Diese Kultur wird maßgeblich von den GeburtshelferInnen und deren Vorstellungen von Risiken als „embodied risk“ gefördert. Das Risikoverständnis der befragten Frauen war dagegen ein anderes, stärker auf ihr Verhalten bezogenes. Allerdings gibt es einen weiteren kulturellen Faktor, warum Ultraschall in Deutschland so exorbitant eingesetzt wird: Frauen wollen beim Ultraschall nicht vorrangig etwas über Risiken wissen, sondern den ersten Kontakt zu ihrem Baby aufnehmen. Zwei Zitate aus den Interviews machen das deutlich: „Man hat schon so einen sichtbaren Kontakt mit dem Kind. Man hat das Kind ja immer in sich, aber man ist ja doch visuell geprägt heute.“ Und eine andere Schwangere: „Dass ich so richtig auf dem Ultraschall diesen kleinen Menschen sehen kann, wie er sich da bewegt und man auch mal einen Fuß und eine Hand sah und das Profil, das war schon beeindruckend. Aber das war eigentlich das, was mir am meisten gefallen hat. Weshalb ich eigentlich immer wieder da hin wollte. Das hat mich irgendwie aufgebaut.“ Für schwangere Frauen und ÄrztInnen sind also nicht nur Risiken, sondern auch das, was im Ultraschall zu sehen ist, etwas völlig Unterschiedliches. Beide Faktoren, die Perspektive des „embodied risk“ in der Medzin und die Kultur der visuellen Kontaktaufnahme zum Kind werden es aber auch in Zukunft in Deutschland schwierig machen, den Ultraschall wieder einzuschränken.
- Vgl. Kavanaugh, A. M., D. H. Broom (1998): “Embodied Risk: My Body, Myself?” In: Social Science and Medicine 46(3):437-444.
- Vgl. Erikson, Susan (2005): " Now It Is Completely the Other Way Around: Political Economies of Fertility in Re-Unified Germany." In: C. Douglass (Hg.): Barren States: The Population Implosion in Europe, London: Berg Press.
- Präeklamsie ist ein in der Schwangerschaft auftretender Bluchhochdruck, der mit mehreren anderen Symptomen einhergeht. Präeklamsie kann die Blutversorgung der Plazenta beeinträchtigen.
- Vgl. Handwerker, Lisa (1994): "Medical Risk: Implicating Poor Pregnant Women" In: Social Science and Medicine 38(5):665-675.
- B. Ewigman, J. Crane, F. Frigoletto, M. LeFevre, R. Bain, D. McNellis and the RADIUS Study Group (1993): "Effect of Prenatal Ultrasound Screen on Perinatal Outcome." In: New England Journal of Medicine. 329(12):821-827.
- Bei weiterer Nachfrage erklärte mir der Arzt, der so geantwortet hatte: In Deutschland gebe es eine Mischung zwischen großen und kräftigeren Menschen im Norden und kleineren Menschen im Süden, was zu einer überdurchschnittlichen Zahl relativ großer Neugeborener führe - geboren von Frauen mit kleinem Becken. Deutsche Frauen benötigten daher mehr „Schwangerschaftsmanagement“.
Dr. Susan L. Erikson ist Anthropologin und Gesundheitswissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Globale Gesundheit an der gesundheitswissenschaftlichen Fakultät der Simon Fraser University nahe Vancouver, Kanada.