Vermeidung oder Rechtfertigung
Kritische Begriffe zu Pränataldiagnostik in der Defensive
Gesellschaftskritische Konzepte einer Kritik an der Pränataldiagnostik sind in den letzten Jahren ins Wanken geraten. Diejenigen, die den selektiven Zweck dieser Tests problematisieren, beziehen sich nur noch selten auf die These einer Kontinuität eugenischer Programme. Auch die These, dass Pränataldiagnostik Behinderte diskriminiert, ist nicht mehr selbstverständlich. Vermeidungsstrategien, Rechtfertigungsrituale oder zumindest Verunsicherung herrschen vor. Susanne Schultz lässt den Kampf um Begriffe Revue passieren.
In den letzten Jahren verstummt in der deutschen politischen Debatte zunehmend die Analyse, die massive Verbreitung der Pränataldiagnostik (PND) habe etwas mit eugenischen Haltungen oder einer eugenischen Politik zu tun. Auf dem Kongress zu Pränataldiagnostik, der unter dem Motto „Da stimmt doch was nicht“ im Frühjahr 2008 in Dresden stattfand, war Eugenik kein Thema mehr. Noch im Jahr 2000 „tobte der Saal“ bei einem Symposium zu Fortpflanzungsmedizin, als das Stichwort fiel, so berichteten TeilnehmerInnen.(1) Eine Internet-Recherche zur aktualitätsbezogenen Verwendung des Begriffes in Medien, Politik und Wissenschaft ergab demgegenüber für die Jahre 2006 bis 2008 kaum Treffer. „Das Thema ist durch“, erklärt eine Kennerin der NGO-Szene. In der kritischen sozialwissenschaftlichen Diskussion zur Humangenetik tauchen Bezüge zu Eugenik zwar noch ab und zu als Reminiszenz auf die Thesen der 1990er Jahre auf. Sie werden aber meist nur zitiert, oft in Anführungszeichen gehalten und nicht weiter ausgearbeitet oder aktualisiert.
Kampf um Begriffshegemonie
Interessanterweise brachte ein ganz anderer Akteur den Begriff der Eugenik in den letzten Wochen vorübergehend noch einmal in die Schlagzeilen: das Bundesverfassungsgericht. In seinem Urteil zur Strafbarkeit von Inzest formulierte der 2. Senat: „Der Gesetzgeber hat sich zusätzlich auf eugenische Gesichtspunkte gestützt und ist davon ausgegangen, dass bei Kindern, die aus einer inzestuösen Beziehung erwachsen, wegen der erhöhten Möglichkeit der Summierung rezessiver Erbanlagen die Gefahr erheblicher Schädigungen nicht ausgeschlossen werden könne.“(2) Protest regte sich gegen die Erklärung von Seiten der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH).(3) Die GfH wandte ein, dass dann überall „einer Fortpflanzung entgegengewirkt werden“ müsse, wo ein „erhöhtes Risiko für rezessiv erbliche Krankheiten“ bestehe. Dies sei „ein Angriff auf die reproduktive Freiheit aller“. In der Stellungnahme lieferte die GfH gleich noch ihre Definition von Eugenik mit: „ ‘Eugenik’ ist nach international übereinstimmendem Verständnis das dirigistische Bestreben nach einer - wie auch immer definierten - ’Verbesserung’ des kollektiven Erbgutbestandes einer Population”. Hier wiederholen die HumangenetikerInnen reflexhaft eine durchaus umstrittene Begriffsdefinition, wie sie den Kampf um Hegemonie darüber, wie der Begriff zu verwenden sei, bereits in den Auseinandersetzungen der 1990er Jahre prägte. Der erste Teil der Definition behauptet einmal mehr, dass Eugenik gleichzusetzen sei mit einem dirigistischen, das heißt mit einem von oben staatlich verordneten Programm; oftmals wird Eugenik auch auf die Zwangsprogramme im Nationalsozialismus reduziert. Die freiwillige Anwendung pränataldiagnostischer Verfahren habe somit nichts mit Eugenik zu tun. Diese Interpretation ist allerdings schon längst von zahlreichen Forschungen über die heterogene Geschichte eugenischer Bewegungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widerlegt worden. Ihre politischen Programme reichten von Appellen an die Moral und „generative“ Verantwortung der Individuen über sozialreformerische bis zu autoritären Maßnahmen.(4) Zudem haben diejenigen, die die Ausweitung der Pränataldiagnostik als eugenisch kritisierten, schon lange geklärt, dass sie damit kein staatliches Programm, sondern eine „ Eugenik von unten“, „liberale Eugenik“, „freiwillige Eugenik“ oder „Alltagseugenik“ meinten.(5) Der zweite Teil der Definition von Eugenik durch die GfH ist eher dazu geeignet, eine ernsthaftere inhaltliche Auseinandersetzung zu führen. Dass die individuelle Anwendung der Pränataldiagnostik heute nur auf die genetische Ausstattung des einzelnen Kindes abzielt, nicht auf die der Gesamtbevölkerung, nicht auf eine „kollektive Verbesserung des Erbgutbestandes einer Population“, gilt als weiteres Argument, die heutige humangenetische Praxis nicht als eugenisch zu bezeichnen. Allerdings fällt bei einem solchen verengten Blick auf das Individuum und dessen Intentionen einiges unter den Tisch: AutorInnen, die die These eugenischer Kontinuitäten nicht völlig ad acta legen wollen, weisen darauf hin, dass es, wenn auch nicht die Intention, so doch die Auswirkung der Summe individueller Entscheidungen ist, dass heute weitaus weniger Kinder mit Down Syndrom und Spina Bifida geboren werden als noch in den 1970er Jahren.(6) Auch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass mit der Ausbreitung der Pränataldiagnostik angeborene Behinderungen zunehmend als vermeidbar stigmatisiert werden – ebenso ein Phänomen mit gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen. Schließlich missachtet eine auf das Individuum fixierte Analyse, welche institutionellen und gesetzlichen Regelungen mit der Routine der selektiven Pränataldiagnostik einhergehen und sie stützen: Diese reichen von den Mutterschaftsrichtlinien (7) über die „Kind als Schaden“-Urteile (8) bis zu dem aktuellen Vorhaben der Koalition, ein Gendiagnostikgesetz auszuarbeiten, das diese genetischen Untersuchungen erstmals gesetzlich regeln soll. Auch bei der sich derzeit formierenden Disziplin der „public health genetics“ bleiben die Gefahren einer gesundheitsökonomischen Verwaltung von Bevölkerungen mit einer auf das Individuum konzentrierten Perspektive ein blinder Fleck (vgl. Titelthema GID Nr. 184). Schließlich verdrängt eine auf die individuelle Nachfrage fokussierte Analyse die Dynamik zunehmend kommerzialisierter Angebote als eine gesellschaftliche Frage (siehe den Artikel „Pränataldiagnostik als Geschäft“ von Erika Feyerabend in diesem Heft). Auch wenn all diese Bausteine einer gesellschaftlichen Dynamik nicht auf ein explizites und einheitliches Programm zurückgehen, lässt sich die These doch nicht einfach von der Hand weisen, dass sie in ihrer Summe eine eugenische Politik ergeben. Entscheidend für die Analyse ist also, welches Politikverständnis eine Rolle spielt. Orientiert sich dieses etwa an dem Begriff des Dispositivs von Michel Foucault, bleibt die Frage nach eugenischen Kontinuitäten zumindest offen: Ein Dispositiv zeichnet sich dadurch aus, dass die Summe komplexer und widersprüchlicher Kräfte doch in eine Richtung weisen, eine gemeinsame Strategie ergeben – sozusagen eine Strategie ohne Strategen, oder anders gesagt eine Politik, die sich teilweise ohne bewusstes Zutun der Akteure entwickelt.
Vermeidung eines Reizwortes
Inhaltliche Argumente reichen also nicht aus, um zu verstehen, warum die Zeiten vorbei sind, in denen Antieugenik eine selbstverständliche Koordinate der kritischen Diskussion um Pränataldiagnostik war. Die Verunsicherung hat vielmehr Hintergründe, die etwas mit dem aktuellen Politikstil zu tun haben: Ein Faktor ist sicher, dass Pränataldiagnostik inzwischen alltägliche Routine ist, egal welcher sozialen Schicht oder politischen Überzeugung die Schwangere angehört. In einer Debatte, die das Thema individualisiert, erscheint die Eugenik-Kritik schnell als moralische Keule zur Verurteilung derjenigen, die pränataldiagnostische Verfahren anwenden lassen.(9) Zudem haben sich bioethische Debatten um Pränataldiagnostik ausdifferenziert und sind zunehmend professioneller und akademischer geworden. AkademikerInnen aber reagieren sensibel auf den Vorwurf, „old school“ zu sein und nicht das Neue gesellschaftlicher Entwicklungen in den Blick zu bekommen. Prominentester Protagonist dieses Vorwurfes ist Nikolas Rose, renommierter britischer Sozialwissenschafler und Foucault-Experte, der in mehreren Vorträgen und Texten den Eugenik-KritikerInnen vorwarf, die aktuelle „neue Biopolitik“ nicht zu verstehen.(10) Beide Ansprüche – nämlich niemanden zu verletzen und möglichst differenziert und professionell zu argumentieren - sind zentrale Spielregeln eines ethischen Diskurses, wie er seit zwei Jahrzehnten die Diskussionen um Biomedizin rahmt. Der ethische Politikstil erklärt, warum das Reizwort Eugenik inzwischen zunehmend vermieden wird. Katrin Braun und Alfred Moore haben analysiert, dass die „Ethisierung“ öffentlicher Diskussionen vor allem den Effekt habe, den politischen Kampf oder die unversöhnliche Kontroverse aus der Politik zu verbannen. Demnach werden alle aus dem ethischen Dialog ausgeschlossen und gelten als diskreditiert, die bestimmte Diskursregeln des abwägenden Dialogs oder der nicht-antagonistischen Haltung nicht einhalten (11) (vgl. auch den Artikel „Ethik als diskursives Schmiermittel“ von Svea Luise Herrmann in diesem Heft). Gerade Analysen, die auf gesamtgesellschaftliche Widersprüche und Hierarchien abzielen und sich jenseits eines pluralistischen Austauschs der ethischen Haltungen unterschiedlicher Individuen bewegen, haben es in diesem Rahmen schwer.(12) Das Schweigen über Eugenik zeigt tatsächlich, dass hier die Ethisierung der Diskussion ihre Spuren hinterlassen hat – und die Eugenik-These erfolgreich als polemisierend und unversöhnlich stigmatisiert wurde.
Rechtfertigungsrituale zur Diskriminierung von Behinderten
Die These von der Pränataldiagnostik als einem Akt der Diskriminierung von Behinderten ist – im Unterschied zu Eugenik – (noch) präsent in aktuelleren Debatten. Aber auch sie geriet in den letzten Jahren unter Rechtfertigungsdruck. Auf dem Kongress zu Pränataldiagnostik in Dresden nahm die Bremer Soziologin Swantje Köbsell diese Diskussion auf.(13) Sie wies darauf hin, dass eine juristische Begründung der Diskriminierung von Behinderten durch Pränataldiagnostik schwierig ist. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass das Verständnis von Diskriminierung als direktes Verhältnis zwischen zwei Personen für diejenigen problematisch ist, die sich nicht auf einen Status des Embryos als Rechtsperson beziehen, sondern die Frage nach dem gesellschaftlichen Effekt von Pränataldiagnostik für Behinderte stellen. Offensichtlich ist aber, so betont Köbsell, dass die Fahndung nach bestimmen Eigenschaften als Entscheidungsgrundlage dafür, ob ein Kind ausgetragen werden soll oder nicht, eine Bewertung von Leben bedeutet und zumindest „mittelbar“ das Lebensrecht derjenigen in Frage stellt, die mit dieser Eigenschaft leben. So evident dieser Zusammenhang auch sein mag, die These der Diskrimierung von Behinderten durch Pränataldiagnostik wird immer wieder angegriffen – auch und gerade wieder in den letzten Jahren. Das damalige Mitglied des Nationalen Ethikrates, Sozialwissenschaftler Wolfgang van den Daele, beispielsweise argumentierte: Gegen eine Diskriminierung spreche, dass in derselben Zeit, in der Pränataldiagnostik zur Routine wurde, die deutsche Gesellschaft insgesamt behindertenfreundlicher geworden sei. Zudem sei empirisch erwiesen, dass diejenigen, die Pränataldiagnostik nutzten, zwar Behinderung ablehnten, nicht aber Menschen mit Behinderung.(14) Auch die Philosophin Weyma Lübbe, neu berufenes Mitglied des Deutschen Ethikrates, lehnt die These der Diskriminierung unter anderem mit dem Argument ab, dass „Eltern, die ein behindertes Kind abtreiben lassen (...), das nun normalerweise nicht damit (zu) begründen, Behinderte seien minderwertig.“ Es gehe um die größere Belastung, ein Argument, das sie dann genauer untersucht.(15) So wie bei der Eugenikdiskussion rund um die Pränataldiagnostik entscheidend ist, ob Intentionen oder ob Auswirkungen betrachtet werden, ist auch hier die Analyseperspektive zentral: Zählen die abgefragten Meinungen der Nutzerinnen von Pränataldiagnostik, oder geht es um eine in der Praxis der PND selbst manifeste Aussage, eine Aussage über den geringeren Lebenswert behinderter Menschen?(16) Weil die Angriffe auf die These der Diskriminierung von Behinderten einen Druck zur Rechtfertigung produzierten, sahen sich KritikerInnen selektiver Pränataldiagnostik in den letzten Jahren genötigt, ihre Argumentation auszufeilen und zu differenzieren. Die Antwort von Köbsell, dass es nicht um eine juristisch begründete und unmittelbare, sondern mittelbare Diskriminierung geht, zeugt davon. Auch andere KritikerInnen sprechen von „indirekter Diskriminierung“. Ein wichtiges Argument für die These der Diskriminierung ist, dass es bei den umstrittenen pränataldiagnostischen Verfahren nicht um eine Prävention von Krankheiten oder von Behinderung geht, wie BefürworterInnen von Pränataldiagnostik betonen. Vielmehr geht es um eine „Prävention“ der Menschen selbst, die diese Eigenschaften haben. Sibylle Volz zeigt, dass die KritikerInnen der Diskriminierungsthese dies gerne vermischen und letztendlich eine „prä-existierenden Identität“ voraussetzen, die sich dann in einem Menschen mit oder ohne Behinderung materialisiert.(17) So oder so beruht die Argumentation derer, die mit Prävention argumentieren und darauf setzen, dass nach „Behinderung“ medizinisch gefahndet werden kann und soll, auf einem „medizinischen Modell“ von Behinderung.(18) Die Grenzziehung zwischen „medizinischen“ und „nichtmedizinischen“ Gründen ist für die gesellschaftliche Akzeptanz von Pränataldiagnostik (zumindest heute noch) zentral. Schließlich gibt es derzeit einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass die Fahndung nach als „nicht-medizinisch“ geltenden Eigenschaften wie Geschlecht, Hautfarbe oder Intelligenz zu ächten ist. Erst jüngst zementierten die Eckpunkte der Koalition für ein Gendiagnostik-Gesetz diese Unterscheidung als zentrales Kriterium für vorgeburtliche genetische Untersuchungen. Sie sehen vor, Pränataldiagnostik gesetzlich auf „medizinische Zwecke“ zu beschränken. Der Bezug auf „medizinische Zwecke“ macht sehr deutlich, dass das „soziale Modell von Behinderung“ im gesellschaftlichen Mainstream nach wie vor kein Gehör findet. Damit unterscheidet sich der gesellschaftliche Blick auf Behinderung weiterhin erheblich von dem Blick auf „Rasse“ oder auf „Geschlecht“. Hier hat sich inzwischen ein gesellschaftlicher Konsens entwickelt, dass es nicht oder zumindest nicht nur um biologische Kategorien geht. Zwar gibt es mittlerweile einen Übergang von der stabilen Ausgrenzung zur „flexiblen Normalisierung“, wie Anne Waldschmidt es in ihrer Beschreibung der deutschen Behindertenpolitik nennt.(19) Der Sonderstatus von Behinderung, ihre Medikalisierung und Gleichsetzung mit Leid, Krankheit und mangelnder Lebensqualität wird aber in der Praxis der Pränataldiagnostik nichtsdestotrotz manifest. Dieser Sonderstatus macht die These einer Diskriminierung von Behinderten durch Pränataldiagnostik besonders offensichtlich – und lässt sich auch mit empirischen Untersuchungen über die Haltungen der Nutzerinnen nicht von der Hand weisen.
Ethikdiskurs in der Zwickmühle
Über diese Gemengelage inhaltlicher Argumente und Gegenargumente hinaus ist es auch bei der Debatte über Diskriminierung ausschlaggebend, dass wir es heute mit einem veränderten „ethisierten“ Politikstil zu tun haben. Auf den ersten Blick geschieht das professionalisierte Ba-shing der Diskriminierungs-These nach ähnlichem Mus-ter wie das der Eugenik-These. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied, der erklären mag, warum die Diskussion um Diskriminierung noch nicht aus dem ethischen Diskurs verbannt ist: Hier geht es nicht darum, eine gewissermaßen abstrakte gesellschaftstheoretische These politischer GegnerInnen zu verabschieden, sondern es geht auch um die Lage von „betroffenen“ Individuen. Interessant ist, dass diejenigen, die die Diskrimierungsthese in Frage stellen, gern ein subjektives Empfinden zugestehen. Van den Daele etwa billigt zu, dass Menschen mit Eigenschaften, die in der Pränataldiagnostik erkannt und aussortiert werden sollen, eine „Kränkung“ erfahren.(20) Auch Ethikprofessor Dieter Birnbacher, der sich gegen die These der Diskriminierung ausspricht, gesteht zu, dass sich Behinderte durch selektive Pränataldiagnostik „stigmatisiert fühlen können“.(21) Eine gewisse Hilflosigkeit kennzeichnet diese Position – die ethisierte Debatte gerät hier in eine Zwickmühle. Denn einerseits gilt es als Zeichen von Professionalität, die These der Diskriminierung ebenso wie die der Eugenik als irrational, polemisch und uninformiert zu kritisieren – und damit aus dem abwägenden ethischen Dialog zu verweisen. Andererseits gilt es heute als Standard des ethischen Diskurses, die individuellen Haltungen und Erfahrungen von „Betroffenen“ zu respektieren und in den ethischen Dialog aufzunehmen. So gibt es derzeit einen sozialwissenschaftlichen Forschungsboom dazu, wie etwa diejenigen, die mit der Diagnose einer genetischen Krankheit konfrontiert sind, sich als neue Subjekte in Medizin und Biopolitik einbringen und welche Alltagsethik sie für sich und ihr Umfeld entwickeln.(22) „Behinderte“ erscheinen allerdings auch hier als Individuen mit einem vorrangig medizinisch und erst dann sozialen Problem – sozusagen als medikalisierte Individuen, nicht als soziale Kategorie. Nur im Kontext einer sozialen und politischen Analyse aber kann die Diskriminierungsthese sich verteidigen. Um die enorme Dynamik der Pränataldiagnostik zu verstehen, bleibt ein gesellschaftstheoretischer Rahmen notwendig. Erst dann kann klar benannt werden, um welche sozialen Hierarchien und Ausschlüsse es geht und welche alten und neuen Formen die Biologisierung des Sozialen heute annimmt.
- R. Kipke, S. Riewenherm (2001): Vorwort zu GID Spezial Nr. 2, S. 3.
- Absatz 49 der Urteilsbegründung
- Es gab auch eine kritische Stellungnahme der Bundesvereinigung Lebenshilfe, online: www.lebenshilfe.de, Pressemitteilung vom 20.3.08
- Vgl. P. Weingart u. a. (2001): Rasse, Blut u. Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. Ebensowenig entspricht die Definition der GfH dem in der Geschichtswissenschaft dominanten Verständnis von Eugenik, das sich weiterhin an die Begriffsbestimmng von Francis Galton anlehnt. Er definierte Eugenik 1883 als „Wissenschaft der gesellschaftlichen Handlungen die dazu beitragen können, die körperlichen oder seelischen rassischen Qualitäten zukünftiger Generationen zu verbessern“. Übersetzung: S.Schultz (zit. n. M. Wunder (2004): Eugenik gestern und heute – Vom Recht auf Differenz, in: Rundbrief des Netzwerkes gegen Selektion in der PND, Nr. 16).
- „Freiwillige Eugenik“ in: L. Weß (1992): Eugenik im Zeitalter der Gentechnologie – vom Zwang zur freiwilligen Inanspruchnahme in: A.-D. Stein: Lebensqualität statt Qualitätskontrolle menschlichen Lebens, Berlin; „Liberale Eugenik“ in: J. Habermas (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M.; „Alltagseugenik“ in: T. Degner/S. Köbsell (1992): „Hauptsache es ist gesund!“ Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle, Hamburg.
- Vgl. Kipke/Riewenherm a.a.O.; M.Wunder (2001): Von der Schwangerenvorsorge zur Menschenzüchtung in: GID Spezial, Nr. 2. Hintergrund sind Abbruchraten von über 85 Prozent nach einer Diagnose von Down Syndrom und sogar noch höhere nach der Diagnose von Neuralrohrdefekten (z.B. Spina Bifida), vgl. I. Nippert (2005): Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven in der Pränataldiagnostik. Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung der Enquetekommission “Ethik und Recht der modernen Medizin”, Berlin.
- Die Mutterschaftsrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen etablieren die Suche nach fetalen „Anomalien“ und „Fehlbildungen“ als selbstverständlichen Teil der Schwangerenvorsorge.
- Die als „Kind-als-Schaden“ bekannten Urteile des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) erklärten es für rechtmäßig, bei einer „fehlerhaften genetischen Beratung vor Zeugung eines genetisch behinderten Kindes“, so die Formulierung des BVerfG, einen Schadenersatz für den Unterhalt des Kindes bei dem betreffenden Arzt oder der Ärtzin einzuklagen.
- Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich in den letzten Jahren zunehmend der Frage zugewandt, welche neuen Entscheidungszwänge und –räume mit der Pränataldiagnostik etabliert werden, und hat damit auch eine moralische Fixierung auf die Nutzerinnen hinterfragt. Die Konstitution eines „Subjekts der Humangenetik“ selbst wurde zum Thema (vgl. A. Waldschmidt: Das Subjekt in der Humangenetik, Münster, 1996). Meines Erachtens geht es darum, diese subjektheoretische Perspektive mit den gesellschaftskritischen Fragen nach Eugenik und Diskriminierung zu verknüpfen.
- Z.B. zus. mit P. Rabinow (2003) in: Thoughts on the Concept of Biopower Today (2003) online: www.lse.ac.uk/collections/sociology/pdf/ RabinowandRose-BiopowerToday03.pdf.
- Vgl. K. Braun (2006): Framing self-government. What is ethics doing in policy-making und A. Moore (2006): Managing Morality? The ethics regime in the regulation of biotechnology in the UK, Papers für die Konferenz “The Politics of Ethics and the Crisis of Government”, 25-26.5.2006. University of Washington, Seattle.
- Vgl. S. Schultz, K. Braun, E. Grießler (2007): The governance of genetic testing: A non-antagonistic setting, authentic publics, and moments of unease, online: www.paganini-project.net.
- Ein umfangreicher Reader zum Kongress kann für 5 Euro beim GeN angefordert werden: gen@gen-ethisches-netzwerk.de
- W. van den Daele (2005): Vorgeburtliche Selektion. Ist die Pränataldiagnostik behindertenfeindlich? in ders. (Hg.): Biopolitik. Leviathan Sonderheft 23/2005 und ders. (2005): Empirische Befunde zu den gesellschaftlichen Folgen der Pränataldiagnostik: Vorgeburtliche Selektion und Auswirkungen auf die Lage behinderter Menschen. In A. Gethmann-Siefert & S. Huster (Hg.), Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik. Bad Neuenahr-Ahrweiler: Europäische Akademie.
- W. Lübbe (2002): Pränatale und präimplantive Selektion nach Gentest als Diskriminierungsproblem, online: springerlink.com/index/x520v 8286x151133.pdf
- Parens u. Asch nennen diese Perspektive „expressivist argument“. Die Tatsache, dass ein Embryo oder Fötus aufgrund einer bestimmten Eigenschaft abgetrieben werde, drücke die Abwertung dieser Eigenschaft notwendigerweise aus. E. Parens/A. Asch (2000): The disability rights critique of prenatal genetic testing, in: dies. (Hg.): Prenatal testing and disability rights. Washington D.C.
- Vgl. Volz, S. (2003): Diskriminierung von Menschen mit Behinderung im Kontext von Präimplantations- und Pränataldiagnostik in: S. Graumann/K. Grüber (Hg.): Medizin, Ethik und Behinderung, Frankfurt a.M.
- Das „medizinische Modell“ von Behinderung reduziert und biologisiert Behinderung auf körperliche oder medizinische Merkmale. Es stigmatisiert Behinderte als krank, leidend und das Leben mit Behinderung als weniger lebenswert. Demgegenüber betont das „soziale Modell“ von Behinderung, dass Behinderung auf einem gesellschaftlichen Verhältnis zwischen Normalität und Anormalität beruht und dass Menschen nicht als Behinderte geboren werden, sondern zu Behinderten gemacht oder gesellschaftlich behindert werden.
- Waldschmidt analysiert, dass die Grenzen zwischen „Normalität“ und „Anormalität“ zwar durchlässiger werden, nicht aber verschwinden (1998): Flexible Normalisierung und stabile Ausgrenzung: Veränderungen im Verhältnis Behinderung und Normalität, in: Soziale Probleme, Jg. 9, H.1.
- W. van den Daele (2002): Zeugung auf Probe in: Die Zeit 41/2002
- dpa, 7.10.1999: Philosoph Birnbacher: Genetische Selektion vor Geburt zulassen.
- Vgl. z.B. D. Heath, R. Rapp, K.-S. Taussig (2004): Genetic Citizenship, in: D. Nugent, J. Vincent (Hg.): A Companion to the Anthropology of Politics. Malden, Oxford & Victoria.
Susanne Schultz lehrt Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., forscht zu Demografiepolitik, ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa Luxemburg Stiftung und promovierte zum Thema Frauengesundheitsbewegungen.