Genetisches Glücksspiel
Gescheiterter Versuch einer Verhaltensgenetik von links
Dem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch der US-amerikanischen Psychologin Kathryn Paige Harden gelingt es nicht, zu zeigen, wie Genetik dazu beitragen könnte, gesellschaftliche Missstände zu lindern.
Entgegen der Aussage von Harden, haben wir bereits Wissen darüber, was Schulen verbessern kann: z.B. die Aufhebung der Trennung der Schüler*innen nach akademischen Fähigkeiten und die Teilnahme aller Schüler*innen an anspruchsvollen Lehrplänen. Foto: gemeinfrei auf unsplash.com
In seinem Buch Misbehaving Science (2014) dokumentiert der US-amerikanische Soziologe Aaron Panofsky die Entstehung und Entwicklung der Verhaltensgenetik seit ihren offiziellen Anfängen in den 1960er Jahren.1 Er beschreibt darin, wie die Disziplin im Laufe ihrer Geschichte auf unterschiedliche Weise auf Kritik reagiert hat, wie zum Beispiel 1969 in der Kontroverse um den Bildungspsychologen Arthur Jensen. Dieser berief sich auf verhaltensgenetische Forschungsergebnisse, um zu argumentieren, dass gemessene IQ-Unterschiede zwischen weißen und Schwarzen Amerikaner*innen genetische Ursachen hätten und daher nicht durch Pädagogik oder die Sozialpolitik behoben werden könnten. Da Jensen in der Kritik etablierter Genetiker*innen und Evolutionsbiolog*innen mit dem Feld der Verhaltensgenetik verbunden wurde, versuchte das Fachgebiet, einen Mittelweg zu finden zwischen Jensens rassistischen Theorien und dem Argument der Kritiker*innen, dass Forschung zur menschlichen Verhaltensgenetik grundsätzlich fehlerhaft ist. In dem Prozess, ihre Forschung vor Kritik zu verteidigten, verteidigten die Verhaltensgenetiker*innen jedoch zunehmend auch die vermeintliche Bedeutung der rassenwissenschaftlichen Forschung und übernahmen einige Kernhypothesen über den Einfluss von Genetik auf IQ-Unterschiede zwischen „races“.
In den folgenden Jahrzehnten erhielten Jensen und gleichgesinnte Forscher*innen wie J. Philippe Rushton, Richard Lynn und Linda Gottfredson Forschungsförderung vom Pioneer Fund, einer Organisation, die sich ausdrücklich der „Rassenverbesserung“ verschrieben hat. Währenddessen wurden sie in die Redaktionen von Fachzeitschriften für verhaltensgenetische Forschung aufgenommen und als Fachkolleg*innen behandelt. Selbst Mainstream-Forschungsprojekte wie die Minnesota Study of Twins Reared Apart und das Texas Adoption Project wurden vom Pioneer Fund finanziert. Diese Geschichte, einschließlich der Rolle der Verhaltensgenetik bei der Entstehung, Förderung und Verteidigung von wissenschaftlichem Rassismus und deterministischen Perspektiven auf Genetik, fehlt in dem Buch „Die Gen-Lotterie“ von Kathryn Paige Harden, Professorin für Psychologie an der University of Texas in Austin, völlig.2 Doch diese Geschichte ist wichtig; sie ist die Ursache für die isolierte Position der Verhaltensgenetik innerhalb der Genetik.
In den ersten Kapiteln präsentiert Harden Argumente, die die kausale Rolle genetischer Unterschiede untermauern sollen. Die dargestellten Ergebnisse stammen aus mehreren Jahrzehnten Forschung und aus unterschiedlichen methodischen Ansätzen wie historischen Zwillingsstudien und neueren Entwicklungen wie genome-wide association studies (GWAS), polygene Scores (ein Wert, der die geschätzten individuellen Auswirkungen einer Vielzahl genetischer Varianten auf eine einzige Eigenschaft berechnet) und Genanalysen von Geschwistern. Leider stellt Harden diese Ergebnisse oft so irreführend dar, dass nicht klar wird, dass diese ihrer Kernthese von der Wichtigkeit der Genetik für Eigenschaften wie Bildungserfolg in Wahrheit schaden. In ihrer Erörterung von Forschungsergebnissen wechselt sie z.B. zwischen den Ergebnissen aus verschiedenen verlässlichen Methoden hin und her ohne dies zu markieren. Harden verschleiert so die Tatsache, dass zuverlässigere Techniken zu niedrigeren vorhergesagten genetischen Effekten führen. Die Leser*innen werden fälschlicherweise zu der Annahme verleitet, dass genetische Effekte sowohl groß als auch zuverlässig sind, während sie in Wirklichkeit eher das eine oder das andere sind.
Hardens Versäumnis, sich mit Kritik der Verhaltensgenetik auseinanderzusetzen, die oft aus einer politisch linken Perspektive stammt, schwankt zwischen einfacher Auslassung und vollkommener Falschdarstellung. Der kürzlich verstorbene Populationsgenetiker Richard Lewontin war einer der prominentesten Kritiker der Verhaltensgenetik.3 In einem der drei Fälle, in denen Harden sich die Mühe macht, Lewontins jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Feld zu erwähnen, gibt sie seine Kritik inkorrekt wieder und behauptet, Lewontin habe lediglich gesagt, das Konzept der Heritabilität (das Maß für die Erblichkeit von Eigenschaften) sei nutzlos, weil sie spezifisch für eine bestimmte Population zu einer bestimmten Zeit sei. Tatsächlich hat Lewontin jedoch gezeigt, dass Heritabilitätsanalysen aufgrund ihrer rein statistischen Natur gar nicht in der Lage sind, genetische und Umwelteffekte wirklich zu trennen. Im Gegensatz zu Hardens Darstellung erkannte Lewontin genetische Faktoren als Ursache von Phänotypen an; er betonte jedoch, dass ihre Auswirkungen nicht unabhängig von Umweltfaktoren und Entwicklungsprozessen sein können.
Korrelation ist nicht Kausalität
Der herausragende statistische Genetiker Oscar Kempthorne schrieb 1978 in einer Kritik an der Verhaltensgenetik, dass die in diesem Bereich angewandten Methoden nichts über Kausalitäten aussagen können.4 Sie würden lediglich eine lineare Assoziation zwischen Genetik und Phänotypen darstellen, ohne die Möglichkeit, diese beiden miteinander zu verbinden. Inwieweit Korrelationen als Kausalität interpretiert werden können, hängt von einer korrekten Berücksichtigung der Störvariablen ab. Im Zusammenhang mit Heritabilitätsanalysen bedeutet dies, dass Genetik und Umwelt unabhängig voneinander sein müssen, was jedoch ohne direkte experimentelle Manipulation nicht der Fall sein kann. In Bereichen wie der Pflanzenzüchtung ist es möglich, experimentell zu randomisieren, welche Umweltbedingungen ein Pflanzengenotyp erfährt, und genetisch identische Pflanzen können zur zusätzlichen Kontrolle in verschiedene Umgebungen gebracht werden um Schlussfolgerungen abzusichern. In der Humangenetik ist dies jedoch nicht möglich, auch nicht mit den von Harden angeführten Geschwister- und Zwillingsmethoden. Diese Prozesse, die die kausale Interpretation von Heritabilitätsschätzungen erschweren, sind von anderen Verhaltensgenetiker*innen bis zum Überdruss diskutiert worden, weshalb nur wenige von ihnen zu Hardens Schlussfolgerungen kommen.
Hardens Darstellung der genetischen Kausalität stößt auf verschiedene Probleme. Erstens setzt sie voraus, dass wir in der Lage sind, bestimmte Eigenschaften isolieren zu können um dann in sie einzugreifen. Dies ist bei bestimmten monogenetischen Abweichungen mit klaren biologischen Mechanismen und kurzen Wegen vom Gen zum Merkmal möglich; wie bei der Sichelzellenanämie oder Tay-Sachs. Bei verhaltens- und kulturbedingten Merkmalen funktioniert dies jedoch nicht. Sie werden von einer großen Anzahl von Genen beeinflusst, die jeweils nur kleine Effekte haben und die in diffusen Zusammenhängen zwischen genetischen und nicht genetischen Faktoren wirken. Zweites gibt es keine Methode, um die Auswirkungen bestimmter genetischer Varianten zu isolieren und zu beeinflussen, bei der Umweltfaktoren konstant gehalten werden können. Dies gilt auch für die Geschwisteranalysen, die Harden versucht als Randomisierungsexperimente darzustellen. Im Gegensatz zu einer von Hardens bizarreren Behauptungen, stellt die Meiose nicht eine Annäherung an ein Zufallsexperiment dar. Sie randomisiert lediglich die Genotypen in Bezug auf die Geschwister, nicht aber die Umgebungen, denen ihre Genotypen ausgesetzt sind. Unser breites Spektrum an sozialen und kulturellen Institutionen wirkt auch hier als Störvariabel. Letztendlich liefert uns die moderne Verhaltensgenetik nur einen polygenen Score, der eher ein statistisches Konstrukt, als konkrete Realität ist.
Diese Unterscheidung, ob ein Faktor für bestimmte soziale und wissenschaftliche Fragestellungen relevant ist, wird für die Kernaussage des Buches zu einem Problem: der Versuch die Leser*innen davon zu überzeugen, dass genetische Informationen ein entscheidendes Instrument zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit sind. Als Beispiel führt Harden an, dass Kinder, die gute Leistungen erbringen, aber auf schlechte Schulen gehen, weniger „leisten“ können, und dass arme Menschen mit höherer Bildung am Ende weniger Geld verdienen als reiche Menschen, die in denselben Positionen arbeiten. Diese Erkenntnisse sind weder neu, noch erfordern sie die Verwendung von potenziell irreführenden genetischen Daten.
Wie die von Harden selbst vorgestellte Forschung zeigt, werden die Ergebnisse der Verhaltensgenetik von der extremen Rechten genutzt, um ihre Ideologie zu verbreiten und eine egalitäre Politik in Frage zu stellen. Harden versucht zwar die Kritik der Rechten über vermeintliche Unzulänglichkeiten der sozialwissenschaftlichen Forschung zu entkräften, doch anstatt sich mit unfundierten Argumenten der Rechten auseinanderzusetzen, könnten wir sie einfach ignorieren, so wie Harden die Vereinnahmung ihres Forschungsgebiets durch die Rechte ignoriert.
Bessere Sozialwissenschaften durch Genetik?
Schließlich äußert Harden eine generelle Befürchtung, dass sozialwissenschaftliche und psychologische Studien von „genetischen Störfaktoren“ geplagt werden, d.h. dass die beobachteten Korrelationen in Wirklichkeit auf unberücksichtigte genetische Einflüsse zurückzuführen sind, die ein Individuum mit seinen Eigenschaften und Verhaltensweisen verbinden (z.B. ein niedriges Einkommen verursacht keine schlechte Gesundheit, sondern Gene verursachen sowohl ein niedriges Einkommen als auch eine schlechte Gesundheit). Bei diesem Beispiel ist Harden besonders streng und setzt öffentlich geförderte Forschung, die keine genetischen Informationen enthält, mit Steuerhinterziehung gleich. Gleichzeitig legt sie aber kaum Beweise dafür vor, dass das von ihr geschilderte Phänomen der „genetischen Störfaktoren“ ein weit verbreitetes Problem ist, das nur durch verhaltensgenetische Forschung gelöst werden kann.
Im Gegenteil existieren stichhaltige Argumente für die Annahme, dass genetische Daten wenig bis gar keinen Mehrwert haben, der über die Informationen hinausgeht, die wir mittels nicht-genetischer sozialwissenschaftlicher Experimente sammeln können. Eric Turkheimer, Hardens Dissertationsbetreuer, hat die „phänotypische Nullhypothese“ formuliert, die besagt, dass die in verhaltensgenetischen Studien ermittelte genetische Varianz bei vielen Verhaltensmerkmalen kein „unabhängiger Mechanismus individueller Unterschiede“ ist und stattdessen stark verwobene Entwicklungsprozesse widerspiegelt, die am besten auf der Ebene des Phänotyps verstanden und untersucht werden können. Dies scheint auf jeden Fall für die von Harden angesprochenen Merkmale zu gelten.
Tatsächlich hat sich gezeigt, dass verschiedene polygene Scores, vom Bildungsniveau bis zur Schizophrenie und sogar Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, praktisch keine Vorhersagekraft haben, die über die üblichen klinischen oder phänotypischen Messwerte hinausgeht. Dies bedeutet, dass wir die Ausprägung dieser Eigenschaften nicht genauer vorhersagen können, auch nicht mit robusten polygenen Scores. Warum also sollten wir unsere Bemühungen nicht auf Phänotypen statt auf Genotypen konzentrieren?
Erfolgreiche soziale Maßnahmen sind bekannt
Entgegen der Aussage von Harden haben wir bereits Wissen darüber, was Schulen verbessern kann. Die Forschung zeigt, dass die Aufhebung der Trennung der Schüler*innen nach akademischen Fähigkeiten und die Teilnahme aller Schüler*innen an anspruchsvollen Lehrplänen die Leistungen derjenigen mit geringeren Fähigkeiten regelmäßig verbessern und die Schüler*innen mit höheren Fähigkeiten nicht beeinträchtigen.
Um sich für eine allgemeine Gesundheitsversorgung, einen existenzsichernden Lohn für alle, Wohnen als Menschenrecht oder kostenlose Bildung einzusetzen, spielt es zudem keine Rolle, dass Menschen unterschiedlich sind und was die Ursache dafür ist. Die Tatsache, dass manche Menschen eine Gesundheitsversorgung brauchen um zu überleben, ist der Grund dafür, dass sie kostenlos zur Verfügung stehen sollte, unabhängig davon, ob die Notwendigkeit durch eine ererbte oder erworbene Krankheit bedingt ist. Linke erkennen an, dass Menschen unterschiedliche Vorlieben und Stärken haben, was letztlich dazu führt, dass sie ein unterschiedliches Leben führen. Die Tatsache, dass dies für manche Menschen den Unterschied zwischen einem existenzsichernden Lohn und Armut bedeutet, ist das, was Linke stört, und es spielt keine Rolle, was die Ursache für diese Unterschiede ist, sondern nur, dass wir sie beheben.
Letztlich versucht Harden uns einen Forschungsansatz zu verkaufen, den wir nicht brauchen, der auf fehlerhaften Prämissen beruht und nicht in der Lage ist, zu halten, was er verspricht. Ihr Versäumnis, sich mit der Geschichte ihres eigenen Fachgebiets, ihren wissenschaftlichen Kritiker*innen oder dem tatsächlichen Inhalt progressiver politischer Ziele auseinanderzusetzen, lässt dieses Buch in einem sehr schlechten Licht erscheinen. In gewisser Weise steht Die Genetische Lotterie für die Tatsache, dass die Verhaltensgenetik überholt ist, nachdem sich die Grundsätze des genetischen Determinismus und des biologischen Reduktionismus als unhaltbar erwiesen haben. Wer sein Verständnis für die moderne Genetik erweitern möchte oder lernen will, wie wir progressiven Anliegen Nachdruck verleihen können, sollte sich anderswo umsehen.
Dies ist eine stark gekürzte Version der Rezension, die am 29.11.2021 von Massive Science auf Englisch veröffentlicht wurde. Online: www.massivesci.com oder www.kurzelinks.de/gid266-ba.
Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung von Isabelle Bartram.
- 1Panowsky, A. (2014): Misbehaving Science: Controversy and the Development of Behavior Genetics. University of Chicago Press.
- 2Harden, K.P. (2023): Die Gen-Lotterie. Wie Gene uns beeinflussen. Hogrefe.
- 3Plümecke, T. (2021): Zum Tod des Wissenschaftskritikers Richard Lewontin. In: GID 258, S.5.
- 4Kempthorne, O. (1978): A Biometrics Invited Paper: Logical, Epistemological and Statistical Aspects of Nature-Nurture Data Interpretation. In: Biometrics, 34, 1, S.1-23, www.doi.org/10.2307/2529584.
Dr. Kevin Bird ist Pflanzengenetiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Kalifornien, Davis (USA). Er forscht zur Evolution von Pflanzengenomen. Online: https://kevinabird.github.io