Gefühle „sehen“
Vom Gen-Determinismus zu neurogenetischen Netzen
Wie Schmetterlinge schwirren die bunten Bilder von aufgeschnittenen Gehirnen durch die mediale Landschaft. Die Aufbruchsstimmung in der Psychologie ist ähnlich derjenigen, die das Humangenomprojekt auslöste.
Die Möglichkeiten, die neue neurowissenschaftliche Methoden eröffnen, werden in der Psychologie euphorisch diskutiert und ausprobiert. Die physiologische Beschaffenheit des Gehirns beschäftigt die Psychologie seit ihren Kindertagen. Die neuen nicht-invasiven bildgebenden Verfahren verwandeln aber jeden üblichen Reaktionstest in aufregende Bilder neuronaler Aktivität.
Schnelle Expansion der Neuro-Psychologie
Die neurobiologische Forschung verbreitet sich auf geradezu inflationäre Weise an psychologischen Instituten. Die Zahl von Versuchsreihen, in denen psychische Prozesse mit der fMRT erforscht werden, wächst stetig (siehe Kasten). Die Stellung der neurophysiologischen Forschung wird aber insbesondere durch Lehrstühle gestärkt, die in den letzten Jahren an psychologischen Instituten zusätzlich eingerichtet worden sind. An der Ludwig-Maximilian-Universität in München ist die Psychologie Teil der Excellent Graduate School of Systemic Neurosciences. An der Freien Universität Berlin gibt es drei Arbeitsbereiche, die das „Neuro“ mit im Titel tragen. Die Ausbreitung ist flächendeckend: 2002 wurde die Fachgruppe Biologische Psychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGP) in Fachgruppe Biologische und Neuropsychologie umbenannt, „um der stark expandierenden Neuropsychologie eine wissenschaftliche Heimat in der DGP zu geben“. Ganz ähnlich, wie schon der Auftrieb der Genomforschung dazu geführt hat, dass für jeden messbaren psychischen Prozess nach Genen gesucht wird, versprechen nun die Gehirnscanner die Erfassung der neuronalen Aktivität in (fast) jeder Lebenslage. Diese ‚Neurobiologisierung’ der Psychologie bestärkt die quantitativ-experimentelle Ausrichtung der Disziplin. Selbst die Psychoanalyse sieht sich schon gezwungen, ihre therapeutische Wirksamkeit über bildgebende Verfahren zu legitimieren.
Psychologische Konstrukte für die Neurowissenschaften
Als 2004 „elf führende Neurowissenschaftler“ in der Zeitschrift Gehirn & Geistbehaupteten, dass „sämtliche innerpsychische Prozesse […] durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind“1 , haben vier Psychologen und eine Psychologin stellvertretend für ihr Fach dagegen protestiert: „Psychologie und Hirnforschung beziehen sich auf ganz unterschiedliche Analyseebenen.“2 Doch die mit „Psychologie im 21. Jahrhundert“ überschriebene Verteidigung endete in einer Anbiederung an die Hirnforschung. Die Psychologen fürchten, überflüssig zu werden. Und so betonen sie die Unentbehrlichkeit psychologischer Methoden. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die neuropsychologische Experimentalpraxis, dass das neue Forschungsgebiet einen Hybrid aus neurowissenschaftlichen und psychologischen Methoden darstellt. Bei der Messung neuronaler Aktivität kognitiver Funktionen werden Leistungs- und Konzentrationstests eingesetzt. Zur Erforschung von Emotionen im fMRT werden den Probanden Bilderserien aus psychologischen Experimenten gezeigt. Untersuchungen zu psychischen Störungen wie Schizophrenie oder Depression sind auf die psychiatrische Diagnostik angewiesen. Diese Verknüpfungsfunktion psychologischer Konstrukte hilft auch, neurowissenschaftliche Konzepte in molekulargenetische Konzepte zu übersetzen und umgekehrt. Sowohl ein DNA-Test für Schizophrenie also auch das neurowissenschaftliche Scannerbild können nur im Rückgriff auf die Techniken und Verfahren der psychologisch-psychiatrischen Diagnose entwickelt werden.
Gleichsetzung des Psychischen mit physiologischen Reaktionen
Die Verschmelzung der Neurowissenschaften hat weitgehende Rückwirkungen auf die Psychologie. Durch die methodischen Restriktionen in der Anordnung der Experimente mit bildgebenden Verfahren wird das Psychische auf seine physiologisch-funktionellen Korrelate reduziert. Die vom Scanner gemessenen „Emotionen“ werden zu kurzfristigen Veränderungen in der neuronalen Aktivität, die sich als Reaktion auf 8 Sekunden lang präsentierter Porträts mit unterschiedlichen Gefühlsausdrücken einstellen.3 Komplexe Gefühle oder Gemütszustände wie Freude, Trauer oder Liebe können die neuen Visualisierungstechniken überhaupt nicht erfassen. Bilder, die die Hirnaktivität von Menschen mit Schizophrenie zeigen, zeigen nicht das psychotische Erleben, sondern lediglich die Unterschiede, die zwischen Menschen mit und ohne Schizophrenie in einem Reaktionstest bestehen.
Neurologisierung in der Psychotherapie
Der neurophysiologische Reduktionismus greift auch auf die therapeutische Praxis über. Die von dem Neuropsychologen Siegfried Gauggel teilweise als „Hirnjogging“ bezeichneten Methoden erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Sie sollen eine Reaktivierung oder „Neuverdrahtung“ neuronaler Netze bewirken. Als zukunftsweisendes Verfahren gilt das Neurofeedback, bei dem man die Aktivität der eigenen Hirnareale mit Hilfe von EEG auf einem Bildschirm zurückgemeldet bekommt. An der Universität Tübingen werden Neurofeedback-Therapien für Angststörungen und Depression bereits ausprobiert. Auch die von der US-amerikanischen Psychologin Francine Shapiro entwickelte Methode des Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR), mit der versucht wird, über kognitive Übungen die Verarbeitung traumatischer Erlebnisse zu unterstützen, boomt. Ergänzend zu einer Gesprächstherapie sollen durch Augenbewegungen, Töne oder kurzes Händedrücken synaptische Blockaden gelöst werden. 2006 hat der Wissenschaftliche Beirat „Psychotherapie“, der die Wissenschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren im Sinne des Psychotherapeutengesetzes prüft, EMDR als wirksame Traumabehandlung bewertet.
Verschiebungen im biologischen Determinismus
Die neurophysiologischen Forschungsansätze und Therapieverfahren reduzieren menschliche Subjektivität, Bewusstsein, Emotionen oder Lernen auf hirnphysiologische Prozesse. Der Mitbegründer der Kritischen Psychologie Klaus Holzkamp hat schon in den achtziger Jahren herausgearbeitet, dass die Spezifik menschlicher Subjektivität in der Fähigkeit zur Selbst- und Weltreflexion und in ihrer Gesellschaftlichkeit liegt - Charakteristika, die die Hirnphysiologie methodisch nicht fassen kann.4 Die Psychologie wandelt sich immer mehr zur Wissenschaft von den physiologischen Korrelaten des Psychischen. Dies leistet - ähnlich der Genforschung - einer Biologisierung menschlichen Erlebens und Verhaltens weiter Vorschub.5 Interessanterweise grenzt sich die Neurobiologie aber gegen einen genetischen Determinismus ab. Die Unterscheidung von „angeboren“ und „erworben“ mache „gar keinen Sinn“, erklärten beispielsweise die „führenden Neurowissenschaftler“ 2004 in ihrem Manifest. Das Gehirn sei hoch komplex und interaktiv. Hirnareale könnten Aufgaben übernehmen, für die sie ursprünglich nicht vorgesehen waren. Umwelteinflüsse und Entwicklungsprozesse seien wichtige Faktoren für die Entwicklung neuronaler Strukturen. Die Neurobiologisierung der Psychologie bedeutet eine Verschiebung im biologischen Determinismus. Nicht mehr die „Gene“, sondern die neuronalen Strukturen sind es demnach, die unsere Lebensäußerungen in erster Linie bestimmen. „Netze“ statt „Gene“. Der Gen-Determinismus besteht durchaus fort, das Ende der Genetifizierung des Psychischen durch die psychiatrische Genetik ist nicht abzusehen. Es wird jedoch zur Zeit nur vereinzelt versucht, Genetik und Neuropsychologie zusammenzuführen.6 Dabei dominieren integrierte Modelle. Gemäß dieser Modelle prägen die „Gene“ vor allem die Gehirnentwicklung in der frühen Kindheit. Doch einmal entwickelt, sind es die neuronalen Netze, die die Genaktivität in den Hirnzellen steuern. Eins steht fest: Der alte physiologische Determinismus, der damit eine Renaissance erlebt, eignet sich genauso gut zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Ungleichheit wie die genetische Variante.
- 1H. Monyer et al.: Das Manifest, in: Gehirn & Geist Heft Nr. 6, 2004, S. 30-37, hier: S. 33.
- 2K. Fiedler et al.: Psychologie im 21. Jahrhundert, in: Gehirn & Geist Heft Nr. 7-8, 2005, S. 56-60, hier: S. 59.
- 3H. E. Krüger-Brand, Hirnforschung: Sehen, wo man fühlt, in: Deutsches Ärzteblatt 105(4), 2008, S. A172-A173, hier: S. A173.
- 4K. Holzkamp: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/Main 1983.
- 5F. Kröger: Wenn sich Hirnforschung, Psychiatrie und Humangenetik verbünden…; www.heise.de/tp/r4/artikel/7/7820/1.html (2001; letzter Zugriff: 31.3.2010).
- 6Vgl. etwa Franz Petermann et al.: Entwicklungswissenschaft. Entwicklungspsychologie - Genetik - Neuropsychologie, Heidelberg 2004.
Vanessa Lux ist Diplom-Psychologin und forscht im Projekt „Kulturelle Faktoren der Vererbung“ zum Verhältnis von Epigenetik und Psychologie (siehe: www.zfl-berlin.org).
Nicht-invasive Bildgebung und fMRT
Die Erfolge der Neurowissenschaften sind eng verknüpft mit der Entwicklung nicht-invasiver bildgebender Verfahren. In den Medien wird meist die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) erwähnt, seltener die Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Die Elektroenzephalografie (EEG) und Magnetoenzephalographie (MEG), im eigentlichen Sinn keine bildgebende Verfahren, werden in diesem Kontext ebenfalls erwähnt. Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ist ein nicht-invasives, bildgebendes Verfahren zur Darstellung von Gehirnstrukturen und -aktivitäten. Anfang der 1990er Jahre wurden klassische MRT-Untersuchungen um Funktionsmessungen ergänzt. Dabei wird die neuronale Aktivität indirekt über Durchblutungsveränderungen, das sogenannte BOLD-Singal, gemessen. Mit der technologischen Entwicklung von leistungsstarken Magnetresonanztomographen und wachsenden Computerrechenleistungen können so Veränderungen von Sauerstoffverbrauch und Blutfluss im Gehirn lokal spezifischen Gehirnarealen zugeordnet und im Computermodell visualisiert werden. Die farbigen Flecken dienen als Indikatoren für neuronale Aktivität. fMRT bietet eine sehr genaue räumliche Auflösung im Millimeterbereich. Da das Verfahren die Hirnaktivität nur indirekt über die Durchblutungsaktivität misst, liefert es im Vergleich zu anderen Verfahren wie der Elektroenzephalografie (EEG), die millisekundengenau arbeitet, zeitlich ungenaue Ergebnisse im unteren Sekundenbereich.
(Torsten Heinemann & Vanessa Lux)
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