DNA in the City

Archäologische DNA-Analysen, Herkunft und Identität

In den Niederlanden dient DNA-Technologie dazu, Geschichte und Geschichten im Kontext archäologischer Ausgrabungen zu erzeugen. Ein Beitrag zu den Effekten jener neuen Genetik.

Immer häufiger werden genetische Untersuchungsmethoden dazu eingesetzt, etwas über Herkunft oder Identität herauszufinden. Seit Kurzem nutzen auch verschiedene archäologische Projekte DNA-Analysetechniken. Die Genetik dient dabei als Methode zur Erzeugung von Vergangenheit und darüber hinaus zur Herstellung der Identität eines Ortes. In unserem Beitrag fokussieren wir auf Praktiken, bei denen menschlichen Überresten aus archäologischen Ausgrabungen mittels aufwändiger Techniken genetische Informationen entlockt werden, um sie mit der Geschichte und Gegenwart einer Stadt zu verknüpfen. Wir stellen drei Fälle vor, bei denen genetische Untersuchungen genutzt wurden, um Verknüpfungen zwischen ‚Heute und Früher‘ und zwischen ‚uns und ihnen‘, also von heutigen BewohnerInnen einer Stadt und jenen bei Ausgrabungen gefundenen Knochen vorzunehmen. Im ersten Fall - der Stadt Oldenzaal - wird sichtbar, wie DNA genutzt wird, um die Zustimmung der einheimischen Bevölkerung zu einer archäologischen Grabung zu bekommen. Im zweiten Fall - Eindhoven - folgen wir der DNA-Analyse und Gesichtsrekonstruktion eines Kinderschädels sowie den damit verbundenen identitären Prozessen. Und anhand des dritten Falls - eines archäologischen Projektes in Vlaardingen - diskutieren wir zeitliche Effekte des Versuchs, tausend Jahre alte und heutige DNA zu verknüpfen.

Oldenzaal: Durch DNA-Analysen die Bevölkerung gewinnen

Die ostniederländische Kleinstadt Oldenzaal hat trotz ihrer geringen Größe (32.000 EinwohnerInnen) eine beachtliche Bedeutung für die Geschichte der Region. Oldenzaal ist eine der ältesten Hansestädte, und die Historie der örtlichen Kirche Sankt Plechelmus reicht bis ins frühe Mittelalter zurück. Auf dem Friedhof der Gemeinde fand über Jahrhunderte eine Vielzahl von Personen aus Siedlungen der Umgebung ihre letzte Ruhestätte. Als im September 2011 die Stadt mit umfangreichen Grabungen zur Erneuerung der Wasserversorgung begann, stieß man auf eine große Anzahl weitgehend erhaltener Gebeine, von denen bis jetzt mehr als 1.700 Skelette aus einem Zeitraum vom achten bis zum neunzehnten Jahrhundert gehoben sind. Anfänglich stellten sich die EinwohnerInnen von Oldenzaal gegen die Ausgrabung. Viele hatten es als pietätloses Spektakel empfunden, dass man schon die ersten Skelette für jeden sichtbar ausgestellt hatte. Hinzu kam, dass nicht lokale ArchäologInnen die Grabung durchführten, sondern vor allem ein westniederländischer Akzent zu hören war, der in Oldenzaal mit großstädtischer Arroganz konnotiert ist. Die Ablehnung nahm noch zu, als die Knochen einer jungen Frau und eines Babys zum Vorschein kamen. Eigentlich wollten die beteiligten ArchäologInnen die beiden Skelette als Symbolfiguren der Grabung quasi ‚wiedererwecken‘. Die lokale Bevölkerung wandte sich jedoch strikt gegen eine öffentliche Zurschaustellung der Knochen, was das Vorhaben undurchführbar machte. Gegen Ende 2011 begann sich das Blatt aber allmählich zu wenden: Die Stadtverwaltung wurde mehr einbezogen und ein Informationszentrum eingerichtet, in dem zwölf lokale Freiwillige Führungen zu den Ausgrabungen anboten. Interessanterweise akzeptierte die lokale Bevölkerung das Projekt vor allem, weil DNA-Analysen bei der Ausgrabung Verwendung fanden. Zwei Aspekte genetischer Untersuchungsmethoden spielten dabei eine entscheidende Rolle: Erstens hatte der Einsatz genetischer Untersuchungen eine neutralisierende Wirkung auf die Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen den ArchäologInnen, den WissenschaftlerInnen und lokalen Interessen. Zweitens entstand mit den DNA-Analysen eine Aura des wissenschaftlichen Fortschritts, an dem Oldenzaal teilhaben könne und durch den zudem Besonderheiten der eigenen Stadtgeschichte zum Vorschein zu bringen wären. Sehr wichtig für die letztlich positive Wahrnehmung des Grabungsgeschehens waren Darstellungen im Informationszentrum. Nicht nur wurde in den dort angebotenen öffentlichen Führungen auf den Gebrauch genetischer Analysemethoden hingewiesen; auch die Art ihrer Präsentation spielte eine zentrale Rolle. So zeigt zum Beispiel eine der Ausstellungstafeln in weiße Overalls gekleidete ArchäologInnen, die ForensikerInnen an einem Tatort ähneln. „Die sehen aus wie Astronauten, die in einer Rakete zum Mond fliegen“, kommentierte ein Guide die Tafel, „oder wie Chirurgen bei einer wichtigen OP im Krankenhaus“. Solche Analogien zur Raumfahrt oder zu medizinischen Eingriffen messen der Grabung eine Bedeutung bei, die über Oldenzaal hinausgeht. Außerdem halfen die weißen Overalls, das Problem mit den ‚Fremden aus den großen Städten‘, die die ‚Knochen unserer Vorfahren‘ berühren, zu lösen: „Die müssen weiße Overalls tragen, die den Körper bis zu den Fingerspitzen einhüllen“, so führte ein anderer Guide aus. „Damit zeigen sie Respekt für unsere Vorfahren von hier.“ Der Schutz vor Verunreinigung der DNA wird hier also als Zeichen des ‚Respekts für unsere Vorfahren‘ gelesen. Noch deutlicher wird die Anschlussfähigkeit und Imaginationskraft in den Aussagen eines weiteren Guides über mehrere eigentümliche Bestattungen: „Einige Personen sind mit den Füßen nach Westen und dem Kopf nach Osten beerdigt worden. Vielleicht waren dies Straftäter oder Familienmitglieder, die in Ungnade gefallen sind. Wir wissen es nicht, aber die genetischen Untersuchungen werden alle diese Sachen klären und uns berichten, was hier in unserer Stadt passiert ist.“ Eine solche Aufladung und Übersetzungsleistung bieten genetische Verfahren offenbar nicht trotz, sondern gerade weil sie zumeist als sehr technisch und wenig durchschaubar erscheinen. Die Unzugänglichkeit und Undurchschaubarkeit von DNA, ihr Prestige als ‚Wissenschaft‘ schuf in der lokalen Bevölkerung Akzeptanz für das Projekt und half, den anfänglichen Skandal um die ausgestellten Skelette aufzulösen.

Eindhoven: Gesichter und Orte erzeugen

Eindhoven liegt im Süden der Niederlande. Im Mittelalter gingen durch mehrere Feuersbrünste große Teile der Stadt und ihre Archive verloren. Außerdem zerstörte die deutsche Bombardierung während des Zweiten Weltkriegs den historischen Baubestand weitgehend, wodurch Eindhoven heute „eine Stadt ohne jedweden historischen Charme“ ist, wie es ein Stadtarchäologe ausdrückte. Im März 2002 wurden bei einer archäologischen Untersuchung in der Stadt etwa 700 Gräber aus dem dreizehnten Jahrhundert entdeckt und gehoben. Schnell erlangte das Projekt große Bekanntheit, insbesondere durch die Beteiligung der genetischen Forensik. Anders als in Oldenzaal führten hier StadtarchäologInnen die Bergung durch. Was die Grabung aber besonders erfolgreich werden ließ, war eine Kindergrabstelle nahe dem ehemaligen Hauptaltar der Sankt-Katharinen-Kirche. Aus den darin befindlichen Überresten entstand in der öffentlichen Wahrnehmung mittels DNA-Analysen und damit verbundenen Prozeduren ein als „Marcus van Eindhoven“ bekannter Vorfahr, der als Symbolfigur nicht nur eine Identifizierung ermöglichte, sondern auch einen neuen Ort erzeugte. Wie entstand diese Symbolfigur? Seinen Namen gab dem Kind eine Münze mit einer Prägung des Heiligen Marcus, die, in der Kleidung an seiner Schulter in ein Stück Seide eingenäht, bei der Ausgrabung gefunden wurde. Anhand von DNA aus den Zähnen waren Geschlecht und genealogische Herkunft des Kindes bestimmt worden.1 Und nicht zuletzt diente der Kinderschädel als Grundlage einer Gesichtsrekonstruktion. Marcus wurde ein schöner, hellhäutiger Junge mit dunkelblondem, glattem Haar und bekam dunkelblaue Augen und Sommersprossen auf einem pausbackigen Gesicht. Im Interview befragten wir den Stadtarchäologen nach dem Grund für die blauen Augen und die blonden Haare, da wir anhand des Schädels und der DNA über diese Eigenschaften ja nicht Bescheid wissen können. „Wir hatten den 80jährigen Krieg, und die Einheimischen haben sich vielleicht mit spanischen Soldaten vermischt. Aus diesem Grund sollte der Junge nicht zu hellhäutig erscheinen“, antwortetete er mit einem Lächeln. „Aber die Wikinger waren auch hier und haben sich womöglich mit den Einheimischen vermischt. Eindhoven war immer ein Knotenpunkt verschiedener Kulturen. Dennoch sollten Menschen aus dem Mittelalter nicht zu dunkel erscheinen. Deshalb entschieden wir uns bei Marcus für ein Aussehen, das den Leuten vertraut vorkommt und mit dem sie sich identifizieren können.“ Marcus konnte aber nicht nur Vertrautheit erzeugen, er ermöglichte vielmehr auch eine neue Bindung zur Stadt. Durch Marcus, so kommentiert der Stadtarchäologe, hat „die Geschichte von Eindhoven nun im wörtlichen Sinne ein Gesicht“. Als das „Gesicht Eindhovens“ wurde Marcus nicht nur zu einer Symbolfigur, als einer von hier, von der hiesigen Scholle der Region Eindhoven. Hinzu kommen weitere Anbindungen an den Ort: So wird Marcus beispielsweise in einer Biographie leichtherzig mit einer Reihe historischer Figuren verknüpft, die im Gebiet von Eindhoven im zwölften Jahrhundert lebten. Seine Grabstätte unweit eines Kirchenaltars wird als Hinweis auf sein Aufwachsen in einer adligen Familie interpretiert. Außerdem bot Marcus die Möglichkeit, narrativ eine Reihe internationaler Beziehungen zu erzeugen. In der Verknüpfung der in Seide gehüllten Münze mit weiteren Annahmen entwickelte sich der Fund in dem Kindergrab zu einem Jungen, der Eindhoven zu einem wichtigen internationalen Handelsplatz machen konnte. Im Ergebnis gerieten Marcus‘ Geschichte und seine DNA zu einem Beitrag zur Erzeugung eines Ortes, der fortan nicht mehr „ohne jedweden historischen Charme“ ist, sondern schon lange ein „Knotenpunkt verschiedener Kulturen“ war.

Vlaardingen: Altes mit Neuem verbinden

Im Jahr 2001 fanden sich in Vlaardingen, einer Stadt nahe Rotterdam im Südwesten Hollands, Überreste mehrerer, im elften Jahrhundert auf dem Friedhof der Hauptkirche begrabener Menschen. Der Stadtarchäologe hatte die Idee, die insgesamt 35 Schädel beziehungsweise Schädelfragmente auf fossile DNA hin zu untersuchen und mit der genetischen Signatur heutiger Menschen zu vergleichen. Die Stadt startete daraufhin einen Aufruf in mehreren Lokalzeitungen, um Spuren der „Ur-Vlaardinger“ unter den heutigen BewohnerInnen zu suchen. Teilnehmen durften nur Personen, die ihre Abstammung aus Vlaardingen mittels eines Stammbaums belegen konnten, der bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückreicht. Insgesamt wurden 88 Mundschleimhaut-Abstriche von lebenden Individuen sowie 36 Zähne aus den geborgenen Schädeln im forensischen Labor der Universität Leiden untersucht. Unter großem Medieninteresse erhielt dann ein pensionierter Zahnarzt aus Rotterdam 2007 den Status eines ‚Abkömmlings der Ur-Vlaardinger‘. Doch wie kann der heute lebende Zahnarzt aus Rotterdam überhaupt als ‚Abkömmling der Ur-Vlaardinger‘ gelten? Im Vergleich von DNA-Markern aus dem elften und dem einundzwanzigsten Jahrhundert werden nicht nur zwei Körper verknüpft, sondern auch verschiedene Zeiten miteinander verschränkt. Während die Genetik einzelne Marker auf zwei DNA-Strängen betrachtet, stellt sie gleichzeitig eine Verbindung zwischen Früher und Heute her. „Die Idee, dass wir ein Stück DNA in unserem Körper haben, welches in einem tausend Jahre alten Skelett gefunden wurde“, so ein Archäologe aus Vlaardingen, „stellt ein Band zur Vergangenheit her“. Die darin enthaltene Logik ist, dass unsere heutigen Körper DNA enthalten, die in einer anderen Zeit und in einem anderen Körper beziehungsweise anders herum ‚auftaucht‘. Eine solche Idee von einer gleichbleibenden DNA verursacht jedoch eine merkwürdige Zeitkrümmung, eine „Falte in der Zeitmatrix“, durch die eigentlich sehr entfernte Zeitpunkte nahe bei- oder aufeinander zu liegen kommen.2 In diesem Sinne generiert die Genetik eine Darstellung, in der die Vergangenheit mit dem Hier und Jetzt verknüpft wird. Die Übereinstimmung genetischer Marker scheint dabei als Kontinuität lesbar, mit der die zeitliche Entfernung zu zerrinnen scheint, während sie gleichzeitig bestehen bleibt. So kann DNA auch Narrative einer fortdauernden Stadt mit einer neuen Geschichte generieren. In den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Ethnologie, haben Vorstellungen von Ursprünglichkeit und Herkunft eine besondere Bedeutung. Dieser Nativismus wird durch genetische Untersuchungsmethoden nun erweitert. DNA ermöglicht neue Zugehörigkeiten, indem nicht lediglich biologische Materialien, sondern zudem Orte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Die erörterten drei Fälle machen deutlich, wie DNA-Untersuchungen die lokale Bevölkerung mit grauer Vorzeit und lange verstorbenen Menschen verknüpfen und damit neue Verständnisse von Orten erzeugt werden können.

  • 1Seine Markerkombination zeigte Ähnlichkeiten mit heutigen Menschen des Mittelmeerraums und aus Nordeuropa.
  • 2M’charek, Amâde (2014): Race, Time and Folded Objects: The HeLa Error, in: Theory Culture Society, Online-Vorabpublikation, Zusammenfassung im Netz unter www.kurzlink.de/gid223_b. Vgl. auch Michel Serres und Bruno Latour (1995): Conversations on Science, Culture and Time. Ann Arbor: University of Michigan Press.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
223
vom Mai 2014
Seite 33 - 35

Amâde M'charek ist Wissensanthropologin und arbeitet an der Universität von Amsterdam.

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Martine de Rooij ist Wissensanthropologin an der Universität von Amsterdam.

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Die Politologin Masae Kato forscht zurzeit an der Universität Sussex.

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Tino Plümecke arbeitet derzeit als Postdoc an der Universität Freiburg in der Forschungsgruppe “Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations” (SoSciBio), die sich den Konzepten zur Humandifferenzierung in den neuen Lebenswissenschaften widmet.

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