Stellungnahme zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs

Das GeN wurde von der Arbeitsgruppe 1 der Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin eingeladen Stellung zu nehmen.

Das Gen-ethische Netzwerk e.V. (GeN) begrüßt die Einrichtung der Expert*innenkommission zur Prüfung einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Die Streichung des Schwangerschaftsabbruchs aus dem Strafgesetzbuch ist längst überfällig, um den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands nachzukommen und dringend notwendig, um eine adäquate Gesundheitsversorgung zu gewährleisten.

1 Einleitung

Das GeN verfolgt seit 1986 als gemeinnütziger Verein die komplexen Entwicklungen in den Bio-, Gen- und Reproduktionstechnologien, arbeitet sie für die Öffentlichkeit auf und setzt sich für eine gerechte und nachhaltige Zukunft ein. Unser Schwerpunkt und unsere fachliche Expertise beim Thema Schwangerschaftsabbruch liegen im Bereich Pränataldiagnostik und daraus resultierenden selektiven Abbrüchen. Unsere Ausführungen zu Behindertenfeindlichkeit und pränataler Diagnostik sowie sich daraus ergebenden Regelungsbedarfen beim Schwangerschaftsabbruch und der Schwangerenversorgung stehen daher in dieser Stellungnahme an erster Stelle. Gleichzeitig sprechen wir uns für eine barrierearme Gesundheitsversorgung für alle Menschen aus, das schließt einen flächendeckenden Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen ein. Regelungsbedarfe zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit sind unter Punkt 3 aufgeführt.

2 Abschaffung von Beratungs- und Indikationsregelung bis zur 22. SSW

Das GeN spricht sich für einen Abbau von Zugangsbarrieren beim Schwangerschaftsabbruch aus. Die derzeitige Regelung gleicht einer Pflicht zum Austragen des Fötus und verletzt die reproduktive Selbstbestimmung und die körperliche Unversehrtheit ungewollt Schwangerer. Zugangsbarrieren wie verpflichten-de Wartezeiten und die Zustimmung Dritter (Beratungsschein, Indikationsstellung) widersprechen den Empfehlungen der WHO1 . Gekoppelt mit der 12-Wochen-Frist führen diese Hindernisse dazu, dass besonders deprivilegierte Personen einen Schwangerschaftsabbruch nicht rechtzeitig wahrnehmen können. Aus einer Neuregelung des §218 StGB und der Abschaffung der Indikationsregelung ergeben sich weitere Rege-lungsbedarfe und ethische Fragen. Auch bei einer Liberalisierung des Abtreibungsrechts müssen bestimmte Parameter vorgegeben werden, innerhalb derer ein Abbruch möglich ist. Von einer Strafbewehrung für Schwangere ist abzusehen, da diese den Empfehlungen der WHO widerspricht.

Bei einem Wegfall der bisherigen Einschränkungen ist neu festzulegen, bis zu welchem Zeitpunkt ein Schwangerschaftsabbruch möglich sein sollte und welche Bedingungen hierfür gelten müssen. Ein Indikator könnte die potenzielle extrauterine Lebensfähigkeit des Fötus sein, die mit Ausprägung der Lungen ab ca. der 22 SSW gegeben ist. Bei einer Festlegung auf eine derartige Frist gilt es zu beachten, dass es hier zu Verschiebungen aufgrund medizinisch-technischer Entwicklungen kommen kann. Diese dürfen nicht dazu führen, den Zeitpunkt immer früher in der Schwangerschaft anzusetzen. Daher sollten etwaige zukünftige Entwicklungen wie künstliche Uteri2 hiervon ausgenommen werden.

2.1 Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen ab der 22. SSW

Auch nach der 22. Schwangerschaftswoche müssen Schwangere die Möglichkeit eines Abbruchs haben. Da anzunehmen ist, dass beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen durch einen Wegfall der Indikationsregelung inklusive Beratungsregelung, 12-Wochen-Frist und verpflichtender Wartezeit ein erheblicher Abbau von Barrieren stattfindet, ist davon auszugehen, dass es i.d.R. möglich ist, bis zu diesem Zeitpunkt ur-sprünglich ungewollte Schwangerschaften zu beenden. Ein Abbruch ab der 22. SSW darf also strengeren Maßgaben unterliegen. Hier ist die Einführung einer veränderten medizinischen Indikation zu erwägen.

Maßgabe hierfür sollte die Gesundheit der schwangeren Person sein. So muss ein Schwangerschaftsabbruch weiterhin möglich sein, wenn durch eine Fortsetzung das Leben der schwangeren Person bedroht ist oder wenn anzunehmen ist, dass durch das Fortführen der Schwangerschaft langfristige gesundheitliche Schäden eintreten würden. Hierzu zählen explizit auch Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit. Anders als die bisherige Praxis nahelegt, darf eine Behinderung des Fötus nicht per se als unzumutbare Belastung der schwangeren Person ausgelegt werden. Hierbei handelt es sich um eine Verschleierung der Fortführung der behindertenfeindlichen embryopathischen Indikation.
Bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs darf es nicht zu einer Wiedereinführung der embryopathischen Indikation kommen – auch nicht zu einer, die sich an der „Schwere der Behinderung“ bemisst. Hier handelt es sich um einen fragwürdigen Begriff: Eine Behinderung definiert sich nach dem SGB IX wie folgt: „Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeein-trächtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hin-dern können.“ Von diesen Einschränkungen sind zweifelsohne alle Föten (und Neugeborenen) betroffen, sie kann demnach hier nicht zur Anwendung kommen. Auch der sogenannte Grad der Behinderung bemisst sich nicht allein an medizinischen Diagnosen, sondern am Maß der Teilhabeeinschränkungen, die gesellschaftlich bedingt sind. Ein Fötus nimmt nicht an der Gesellschaft teil, es gibt also keinen Beurteilungsmaßstab, auf den hier Bezug genommen werden könnte. Eine solche Einteilung ergibt nur Sinn, wenn man ein rein medizinisches Modell von Behinderung voraussetzt, das defizitorientiert ist, die gesellschaftliche Dimension von Behinderung gänzlich ausblendet und eng an Vorstellungen von Leid und Belastung geknüpft ist. Diese Logik führt letztendlich in die Fahrwasser der eugenischen Unwerturteile, stellt sie in der Zuspitzung doch die Frage danach, welches Leben gesellschaftlich als nicht lebenswert beurteilt wird.

2.2 Behindertenfeindlichkeit und pränatale Diagnostik

Die Abschaffung der embryopathischen Indikation in den 1990er Jahren war ein großer Erfolg der Behindertenbewegung, die Schwangerschaftsabbrüche allein auf Grundlage einer Behinderung des Fötus zu Recht als behindertenfeindliche Selektion kritisiert. Allerdings fanden pränatale Diagnosen Eingang in die neugefasste medizinische Indikation, auch wenn hier – zumindest offiziell – der Fokus auf der psychischen Gesundheit der Schwangeren liegt und nicht auf dem Fötus. Tatsächlich aber zeigen Erhebungen3 , dass eine Indikationsstellung infolge einer pränatalen Diagnose einfacher und häufiger ausgestellt wird, als bei einer psychischen Belastung Schwangerer, die nicht aus einem auffälligen Befund abgleitet wird. Hier wird deutlich, dass der Bewertungspraxis der Ärzt*innen ein gesellschaftliches Bild von Behinderung zu Grunde liegt, das von einem defizitorientierten Blick geprägt ist und Behinderung mit Leid gleichsetzt und ein Leben von und mit einem behinderten Kind automatisch als weniger lebenswert einstuft. Dies steht im Widerspruch mit Studien die immer wieder zeigen, dass z.B. die Mehrheit von sowohl Menschen mit Trisomie 21 als auch deren Familien mit ihrem Leben zufrieden sind.4 5

Ein überwiegender Teil der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland findet derzeitig nach der Beratungs-regelung statt. Auf die medizinische Indikation entfallen ca. drei Prozent der Abbrüche. Wie viele Abbrüche innerhalb der medizinischen Indikation nach pränataler Diagnostik stattfinden, wird nicht genau erho-ben. Aus lediglich zwei Kliniken in Deutschland liegen Daten dazu vor, die Universitätskliniken Leipzig6 und Gießen7 . Sie zeigen: Abtreibungen nach pränataldiagnostischen Befunden machen den überwiegen-den Teil der Abbrüche nach der 12. SSW aus.
Bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des StGB ist nicht anzunehmen, dass diese Tendenz abnehmen wird. Sind Schwangerschaftsabbrüche vor der 22. SSW ohne Beratungsregelung und Indikationsstellung möglich und somit auch unabhängig vom Zustand des Fötus, bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass dadurch eine behindertenfeindliche Praxis verhindert wird. Die Verfügbarkeit und Inanspruchnahme pränataldiagnostischer Tests nehmen zu. Diese ethisch fragwürdige Entwicklung muss bei einer Neugestaltung des Abtreibungsrechts berücksichtigt werden.

2.2.1 Zulassungsverfahren von pränataldiagnostischen Tests

Tests auf Behinderungen stellen diese prinzipiell als vermeidungswürdig dar. Werden diese in die Regelversorgung übernommen, suggeriert das den Schwangeren, der Gesellschaft und den Menschen, die mit dieser Behinderung leben, dass es gesellschaftlich angestrebt wird, die Geburt von Menschen mit dieser Behinderung zu verhindern. Dies widerspricht nicht zuletzt der von Deutschland 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Der nicht-invasive Pränataltest (NIPT) auf Trisomie 13, 18 und 21 ist seit 2012 auf dem deutschen Markt. Es handelt sich hierbei um einen Test ohne jedweden medizinischen Nutzen. Aus den Ergebnissen der Tests ergeben sich keine Therapiemöglichkeiten. Die pränatale Suche nach genetischen Merkmalen ist keine Schwangerenvorsorgeuntersuchung, sondern eine selektive Fahndung nach unerwünschten Abweichungen.
Seit Sommer 2022 ist der NIPT Kassenleistung. Zwar solle dies nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen, allerdings führt die unklare Formulierung in den Mutterschaftsrichtlinien und der Versicherteninformation de-facto dazu, dass die Tests als Regelleistung verstanden und dementsprechend in Zukunft von einem Großteil der Schwangeren in Anspruch genommen werden wird. Der Druck zur Inanspruchnahme steigt und behindertenfeindliche Selektion wird weiter normalisiert. Das Verfahren lässt sich auf eine Viel-zahl genetischer Abweichungen ausweiten, Testanbieter werden aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine Kassenzulassung weiterer Tests pochen – mit dem NIPT auf Trisomien als Präzedenzfall. Die Herstellerfirma Eluthia kündigte bereits 2019 an, eine Kassenzulassung für ihren Test auf Mukoviszidose beantragen zu wollen.8

Der G-BA hat die Kassenzulassung des NIPT auf Trisomien ausschließlich aufgrund einer medizinisch-technischen Prüfung entschieden, eine umfassende ethische, rechtliche und gesundheitspolitische Prüfung des Tests auf Trisomien ist nicht erfolgt. Darauf hat unter anderem auch der unparteiische Vorsitzende des G-BA im Verlauf des Bewertungsverfahrens aufmerksam gemacht und ein Tätigwerden des Gesetzgebers gefordert. Für die künftige Prüfung der Marktzulassung UND erst recht der Kassenzulassung derartiger Tests braucht es ein Gremium, das auch die ethischen und sozialen Fragen hinter einer solchen Praxis prüft.

Ein solches Gremium muss interdisziplinär besetzt sein und neben Mediziner*innen auch aus Vertre-ter*innen der Rechts- und Sozialwissenschaften, insbesondere aus den Disability Studies, zusammengesetzt sein. Eine Beteiligung der Selbstvertretung behinderter Menschen bei der umfassenden Prüfung von Tests, die nach genetischen Besonderheiten suchen, mit denen sie leben und die keine therapeutischen Optionen eröffnen, ist unabdingbar. Neben Selbstorganisationen behinderter Menschen müssen auch (Eltern-)Selbsthilfeorganisationen, Personen aus der Peer-Beratung, Vertreter*innen kritischer zivilgesellschaftli-cher Organisationen, Verbände und Netzwerke regelhaft einbezogen werden. Dabei gehören auch bereits zugelassene Tests wie der NIPT auf Trisomien erneut auf den Prüfstand.

2.2.2 Aufklärungspflicht VOR pränataldiagnostischen Untersuchungen

Um pränataldiagnostische Untersuchungen, die vorwiegend zu dem Zweck, nicht medizinisch behandelbare Merkmale des Fötus aufzuspüren, durchgeführt werden, nicht zum Regelfall werden zu lassen und Schwangeren nicht zu suggerieren, dass sie diese in Anspruch nehmen müssen, muss es eine umfassende ärztliche Aufklärungspflicht VOR der Durchführung pränataldiagnostischer Untersuchungen, bei denen mögliche Behinderungen des Fötus zu Tage kommen können, geben. Dieses darf nicht am Termin der eigentlichen Untersuchung stattfinden, damit Schwangere die Möglichkeit haben, ohne Zeitdruck und auf Basis ausgewogener Informationen eine Entscheidung für oder gegen eine solche Diagnostik zu treffen. Zu diesen Untersuchungen zählt auch der als harmlos verstandene Ultraschall, da hier oft der erste Moment liegt, wo Ärzt*innen Schwangeren mitteilen, etwas sei „nicht in Ordnung“. Das Aufklärungsgespräch muss zwingend den Unterschied zwischen selektiven und therapieorientierten Untersuchungen herausstellen und der schwangeren Person die Option lassen, sich gegen einzelne Befundmitteilungen zu entscheiden. Die Folgen eines auffälligen Befundes, wie beispielsweise eine weitere, eventuell invasivere Abklärung, sind verständlich und umfassend darzustellen, ebenso wie die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen. Informationen zu einem Leben mit behindertem Kind, Unterstützungsmöglichkeiten und Angeboten der El-ternselbsthilfe sind bereits hier zu erwähnen. Um die fachliche Qualität sicherzustellen, sind regelmäßige Weiterbildungen nötig. Die Lebenschancen, -erwartungen und -qualität behinderter Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert, Ärzt*innen können somit nicht zwangsläufig auf Wissen aus ihrem Studium zurückgreifen.

Derzeit sind Abbrüche nach der Beratungsregelung nur in einem Zeitraum möglich, in dem noch keine (vermeintliche) Geschlechtsfeststellung per Ultraschall erfolgt. Mit einer Verlagerung von Abbrüchen ohne Indikation auf eine Frist bis zur 22. SSW wäre auch eine Geschlechtsfeststellung innerhalb dieses Zeitrau-mes möglich. Es wären hier also weitere Maßnahmen zu treffen, um eine Ausweitung geschlechterselekti-ver Abbrüche zu verhindern, ein explizites Verbot ist zu erwägen. Dies muss unbedingt auch intergeschlechtliche Föten einschließen.

2.2.3 Beratung bei Befundmitteilung nach dem GenDG

Auch die Beratung, die derzeit über das Gendiagnostikgesetz (GenDG) geregelt ist und deren Ausgestaltung in der Richtlinie der Gendiagnostik-Kommission (GEKO) für die Anforderungen an die Qualifikation zur und Inhalte der genetischen Beratung gemäß § 23 Ab 2 Nr. 2a und § 23 Abs. 2 ausgeführt ist, muss einer Überarbeitung unterzogen werden. Der Behinderungsbegriff in der Richtlinie ist ein medizinisch-individueller, das heißt Behinderung wird als Defizit verstanden und als persönliches Schicksal oder gar Leid interpretiert. Die UN Behindertenrechtskonvention setzt das soziale Modell von Behinderung voraus. Eine menschenrechtsorientierte Definition sollte sich auch in der Richtlinie niederschlagen. Insbesondere sollten ein Verständnis des sozialen Modells von Behinderung, eine Auseinandersetzung mit Ableismus und der historischen Realität von Euthanasie sowie Kontinuitäten eugenischen Denkens Bestandteil der theoretischen Qualifikation sein.

Mediziner*innen, die vorgeburtliche genetische Beratung anbieten, sollten über nachweisbare Kenntnisse der Lebensrealitäten behinderter Menschen in Deutschland sowie Überblickswissen zu Hilfs- und Unter-stützungsangeboten für behinderte Kinder und ihre Eltern verfügen und bereits Kontakte außerhalb eines medizinischen Settings gehabt haben. Das bloße Hinzuziehen von Ärtz*innen mit Erfahrung in der Behand-lung behinderter Kinder hingegen halten wir nicht für ausreichend, da die Person die Kinder lediglich im akuten Krankheitsfall/als Patient*innen, nicht aber in einer Alltagssituation erlebt hat. Es ist außerdem zu erwägen, dieses Gespräch zwingend gemeinsam mit einer Person zu führen, die in ihrem Arbeitsfeld regelmäßig mit behinderten Menschen in Kontakt ist – außerhalb eines medizinischen Settings.

2.3 Neubewertung des Fetozids

Der Fetozid, also das gezielte Töten des Fötus im Uterus mit Injektion einer Kaliumchlorid-Spritze ins fetale Herz, ist eine rechtliche Grauzone. Eingesetzt werden darf die Spritze momentan bis zum Einleiten/Beginn des Geburtsvorgangs. Der Fetozid geht über das bloße Beenden einer Schwangerschaft hinaus – er garantiert, dass der Fötus die Abtreibung nicht überlebt. Angewandt wird diese Praxis vor allem in der fortgeschrittenen Schwangerschaft, dann, wenn es möglich wäre, dass der Fötus bzw. das Neugeborene außerhalb des Uterus weiterlebt. Folglich betrifft der Fetozid vor allem ursprünglich gewollte Schwangerschaften, d.h. er wird besonders häufig nach einem auffälligen pränatalen Befund durchgeführt – er gilt also überwiegend behinderten Föten.

Dass die Kaliumchlorid-Spritze angewendet wird, soll vor allem Rechtssicherheit für Ärzt*innen schaffen. Bevor sie standardmäßig bei potentiell extrauterin lebensfähigen Föten eingesetzt wurde, gab es einige Fälle von Abbrüchen, die öffentlich stark diskutiert wurden. Der wohl bekannteste ist das sogenannte „Oldenburger Baby“. Bei einer Frau wurde in der 26. SSW ein Abbruch nach medizinischer Indikation durchgeführt. Nach der Diagnose Trisomie 21 hatte die Schwangere mit Suizid gedroht, sollte ihr ein Abbruch verweigert werden. Der Arzt leitete eine vorzeitige Geburt ein. Trotz vorgeburtlich diagnostizierter Behinderungen überlebte das Kind die Geburt, anstatt wie prognostiziert während der Wehen zu sterben. Das Neugeborene wurde in einer Decke gewickelt und beobachtet, aber nicht medizinisch versorgt – man rechnete damit, dass es bald sterben würde. Erst als es nach neun Stunden noch immer Lebenszeichen gab, verlegte man es auf die neonatologische Intensivstation. Zu den angeborenen Behinderungen kamen weitere, durch die späte medizinische Versorgung entstandene, hinzu. Der Arzt wurde wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Das Neugeborene kam später in einer Pflegefamilie unter. Sein Name war Tim. Er wurde 21 Jahre alt.
Ein Neugeborenes nicht zu versorgen und zum Sterben liegen zu lassen ist eine grausame Praxis. Der Weg über den Fetozid verschiebt scheinbar den moralischen Druck und schafft Rechtssicherheit für Ärzt*innen. Aber in einem überwiegenden Teil der Fälle bedeutet er auch: das Weiterleben eines behinderten Fötus soll unbedingt vermieden werden.

Mit einer Ausweitung der legalen Abbruchmöglichkeiten ohne Indikation bis zur potenziellen extrauterinen Lebensfähigkeit wird dieser Zeitpunkt zu einem kritischen: hier handelt es sich nicht mehr um das blo-ße Beenden einer Schwangerschaft. Daher gehört die Praxis des Fetozids bei einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs auf den Prüfstand. Sich gegen ein Kind zu entscheiden und eine Schwangerschaft zu beenden gehört zum Recht, über den eigenen Körper und das eigene Leben zu verfügen. Was aber geschieht, nachdem der Fötus diesen Körper verlässt, ob und wie er dort weiterlebt, liegt außerhalb der Selbstbestimmung der schwangeren Person. Ob ein Neugeborenes lebenserhaltend oder palliativ versorgt wird, sollte nach einem Schwangerschaftsabbruch nach medizinischen Kriterien und auf Basis seines Gesundheitszustandes getroffen werden.

Eine Neubewertung des Fetozids erfordert eine umfassendere Debatte, als sie in diesem Rahmen möglich ist. Hierzu sollten neben der Einbeziehung der Forschungslage insbesondere Vertreter*innen von Behindertenselbstorganisationen, Praktiker*innen aus Geburtshilfe und Neonatologie sowie Personen, die einen Fetozid haben durchführen lassen, gehört werden.

3 Maßnahmen zur Gewähreistung der Versorgungssicherheit

Die Verpflichtung zur Gewährleistung eines flächendeckenden Zugangs zu Schwangerschaftsabbrüchen ist derzeit in § 13 Abs. 2 SchKG festgehalten: „Die Länder stellen ein ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicher“. Tatsächlich ist aber der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen derzeit nicht flächendeckend gegeben. Es fehlt eine bundeseinheitliche Definition, ab wann von einem ausreichenden Angebot gesprochen werden kann. Hierfür sollte sowohl ein auf Einzugsgebiet und Bevölkerungsdichte angeglichener Personalschlüssel festgelegt, als auch analog zu den Vorgaben zur fachärztlichen Versorgung die Fahrzeit berücksichtigt werden. Den Berechnungen ist nicht die Anreise mit dem eigenen PKW, sondern die Fahrzeit mit dem ÖPNV zu Grunde zu legen.

Zur Versorgungssicherheit gehört neben der grundsätzlichen Vorhaltung ambulanter und stationärer Ein-richtungen ein Abbau von Zugangsbarrieren sowie die Bereitstellung wertneutraler Informationen zum Schwangerschaftsabbruch.

3.1 Aus- und Weiterbildung

Der Schwangerschaftsabbruch muss Teil der medizinischen Ausbildung sein. Dies ist bundesweit zu verankern. Das beinhaltet die Behandlung der Methoden, ihrer Vor- und Nachteile, der Durchführung, möglicher Komplikationen sowie Kommunikationstechniken für ein wertneutrales Beratungsgespräch im Medizinstudium. Der Schwangerschaftsabbruch muss an allen Krankenhäusern mit Weiterbildungsberechtigung gelehrt werden, die eine gynäkologische Station haben.

3.2 Weigerung, Vergaberecht und Einstellungspolitik

Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, muss der Gesetzgeber klarstellen, dass das Verweigerungsrecht kein korporatives, sondern ein individuelles ist. Die Weigerung, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken, darf nicht in Notsituationen zur Anwendung kommen. Ärzt*innen, die vom Weigerungsrecht Gebrauch machen, müssen verpflichtet sein, Schwangere an Einrichtungen zu verweisen, die Abbrüche durchführen. Die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen muss Bedingung sein, um ein Krankenhaus mit gynäkologischer Station zu betreiben, dies gilt insbesondere für öffentliche Einrichtungen. Die Versorgungssicherheit ist bei der Neuausschreibung des Betriebs von Krankenhäusern zu berücksichtigen, eine Steuerung über das Vergaberecht sollte möglich sein. Träger dürfen die Bereitschaft zur Durchführung von Abbrüchen zum Einstellungskriterium machen.

3.3 Niederschwelliger Zugang zu Information und Recht auf Beratung

Für eine selbstbestimmte Lebens- und Familienplanung sowie zur Ermöglichung relativ früher, risikoarmer Abbrüche ist ein breites Informationsangebot nötig. Allen Menschen in Deutschland müssen verständliche, wertfreie und evidenzbasierte Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zur Verfügung stehen. Dazu gehören fremdsprachige Informationen ebenso, wie Informationen in deutscher Gebärdensprache sowie leichter Sprache. Bei der Formulierung von Informationsmaterialien durch die BZgA ist zu beachten, dass diese medizinisch korrekt sind (Vermeidung von Begriffen wie „Baby“ oder „Kind“, wenn es sich um einen Fötus handelt) und auch sprachlich die geschlechtliche Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegeln. Ratsuchende sind vor gezielter Fehlinformation und Manipulation durch radikale Abtreibungsgegner*innen zu schützen – durch die Bereitstellung von Informationen und Verweisberatung durch öffentliche Stellen, aber auch durch Warnung vor bekannten Propagandaportalen beispielsweise auf der Internetpräsenz der BZgA.

Anstelle der Pflichtberatung muss ein Recht auf Beratung treten, das über das SchKG zu regeln ist. Auch hier müssen eine wohnortnahe Versorgung sowie ein Personalschlüssel, der eine zeitnahe Terminvergabe ermöglicht, sichergestellt werden. Ergänzend zur Beratung vor Ort ist die Chatberatung auszubauen. Die Beratung ist ergebnisoffen zu führen und muss sich an den Bedürfnissen der Klient*innen orientieren. Es müssen ausreichende Angebote in deutscher Gebärdensprache und leichter Sprache vorgehalten werden sowie die Möglichkeit zur kurzfristigen Inanspruchnahme einer Fremdsprachenübersetzung gewährleistet sein. Die Ausgabe eines Beratungsscheins entfällt, dennoch sollte ein standardisiertes Anerkennungsverfah-ren für die Erteilung der Betriebserlaubnis eingeführt werden, um die fachliche Qualität der Beratung zu garantieren und Ratsuchende vor Missbrauch zu schützen. Der Name „Schwangerschaftsberatung“ ist zu schützen, um manipulativen Angeboten Einhalt zu gebieten und Ratsuchende vor psychischem Druck und Nötigung zu schützen. Um einen reibungslosen Ablauf der Beratung zu gewährleisten, muss die sogenannte „Gehsteigbelästigung“, d.h. das Einwirken auf Schwangere durch selbsternannte Lebensschützer*innen durch Mahnwachen, Kundgebungen, Demonstrationen, Gebetsrunden und persönliche Ansprache im Umkreis von Beratungsstellen, Kliniken und Praxen, verboten werden. Hierzu gehört auch das Zeigen von Fötenabbildungen, das Anbringen von Plakaten und das Platzieren von Fahrzeugen mit entsprechenden Aufschriften. Ein solches Verbot in Form einer Bannmeile ist bundeseinheitlich zu regeln.

3.4 Schwangerschaftsabbruch als Teil der Regelversorgung durch die Krankenkassen

Der Schwangerschaftsabbruch gehört zu den häufigsten Eingriffen in der Gynäkologie und ist Bestandteil einer modernen Gesundheitsversorgung. Dies muss sich auch in einer Kostenübernahme durch die gesetzli-chen Krankenkassen niederschlagen. Die bisherige Regelung zur Kostenübernahme lediglich bei Patient*innen mit einem Einkommen unter 1.383,- Euro sollte daher entfallen. Hier ist hingegen eine Möglichkeit zur Erstattung von Fahrtkosten vorzusehen, solange eine wohnortnahe Versorgung nicht gegeben ist. Des Weiteren bedarf es einer unbürokratischen Regelung für Personen ohne Krankenversicherung und Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus.

3.5 Nachsorge

Neben der Kostenübernahme des Abbruchs durch die Krankenkassen muss ein Anspruch auf Krankentage und entsprechendes Krankengeld bestehen, insbesondere um den Genesungsprozess von Personen in prekären Arbeitsverhältnissen nicht zu gefährden. Nach einem Abbruch sollte neben den ärztlichen Nachsorge-/Kontrollterminen ein Anspruch auf ambulante Nachsorge analog zur Hebammenversorgung sowie der An-spruch auf psychosoziale Unterstützung bestehen.

3.6 Zugang für gewaltbetroffene/-gefährdete Personen

Schwangerschaften gehören zu den kritischen Momenten, in denen das Risiko für partnerschaftliche Gewalt besonders hoch ist. Um gewaltgefährdete Personen zu schützen, muss es die Möglichkeit geben, den Schwangerschaftsabbruch nicht über die Krankenkassen abzurechnen, um eine Aufdeckung durch die gewaltausübende Person zu verhindern. Dies kann analog zur Abrechnungspraxis der Gewaltschutzambulanzen geschehen. Für Minderjährige, insbesondere unter-14-Jährige, bei denen anzunehmen ist, dass ihr Kindeswohl gefährdet wird, sollten die Sorgeberechtigten von der Schwangerschaft und/oder dem Abbruch erfahren, ist ein Verfahren unter Einbeziehung des Jugendamtes zu entwickeln.

4 Schlussbemerkung

Diese Stellungnahme befasst sich in erster Linie mit einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des StGB und den sich daraus ergebenden Handlungsbedarfen, insbesondere hinsichtlich ethischer Fragen im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik. Um behindertenfeindlichen Tendenzen in der Gesellschaft entgegenzuwirken und Schwangeren die Entscheidung für das Leben mit einem behinderten Kind zu erleichtern, muss die UN-Behindertenrechtskonvention vollumfänglich umgesetzt und Unterstützungsstrukturen für Familien ausgebaut und entbürokratisiert werden.

 

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18. Oktober 2023

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