Wie werden Menschen gruppiert?

Forschungsprojekt zur Humandifferenzierung in den neuen Lebenswissenschaften

Unter dem Titel „Menschliche Diversität in den neuen Lebenswissenschaften: Soziale und wissenschaftliche Effekte biologischer Differenzierungen“ analysiert ein aktuelles Forschungsprojekt wie und mit welchen Folgen nach genetisch, medizinisch und neurobiologisch relevanten Unterschieden zwischen Menschen gesucht wird.

Ein Diagram, dass die genetische Daten aus Europa zeigt

Autosomale genetische Struktur in Europa. Bild: Nelis et al. 2008

Humanbiologische Forschung orientierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg bis einschließlich dem Human Genome Project (HGP) in den 1990er Jahren vor allem am Modell eines Standardmenschen, der in der Regel als weiß und männlich begriffen wurde. Das änderte sich in den letzten Jahrzehnten aus verschiedenen Gründen auf der Grundlage neuer technischer Möglichkeiten der Molekular- und der Neurobiologie sowie umfangreicher Debatten um die Repräsentation von Minderheiten, Frauen und verschiedenen Altersgruppen z. B. in klinischen Studien. Im Zuge dieser neuen Debatten und Technologien gelangt aber nicht nur die soziale Ungleichheit, sondern auch wieder verstärkt die biologische Vielfalt der Menschheit in den Forschungsfokus. Diesem neuen wissenschaftlichen Interesse an biologischer Differenz widmet sich seit Anfang 2018 unsere vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte interdisziplinäre Forschungsgruppe SoSciBio 1 mit dem Ziel, dieses Forschungsfeld für den deutschen Kontext systematisch zu analysieren. Kern des Projektes bilden hierfür sechs Fallstudien zu Differenzierungen von Menschen nach Kategorien wie Ethnie bzw. race 2 und Geschlecht in den Bereichen Medizin/Epidemiologie, Neurowissenschaften, Pharmakologie, Forensik, Evolutionsgenetik und klinischem Alltag. Mittels Dokumentenanalysen, Interviews und teilnehmender Beobachtung werden die Praktiken der Einteilung, die Operationalisierung von Kategorien in den jeweiligen Forschungsansätzen und die Darstellung der Forschungsergebnisse untersucht.

Hintergrund der Untersuchung

Biologische Differenzierungen anhand der Herkunft bzw. ethnischen Zugehörigkeit werden in den Lebenswissenschaften damit begründet, gesundheitliche Ungleichheiten besser zu verstehen, forensische Ermittlungsmethoden zu erweitern oder auch die Migrationsgeschichte des Menschen genauer zu erfassen. Dem wieder erweckten Interesse an biologischen Gruppendifferenzen steht dabei inzwischen eine breite internationale wissenschaftliche Kritik gegenüber, die etwa Stereotypisierungen, Reduktionismen oder die Naturalisierung soziokultureller Konstruktionen sowie die potenzielle Stigmatisierung von Minderheiten problematisiert.

In Deutschland ist die neue Erforschung biologischer Diversität des Menschen auch aus historischen Gründen erst in den Anfängen begriffen. Da die akademische Debatte derzeit von US-amerikanischen Forschungen und Analysen dominiert wird, werden hiesige gesellschaftliche Kontexte bisher nicht hinreichend erfasst. Denn die Situation in der deutschen Forschungslandschaft stellt sich anders dar als in den USA oder Großbritannien: Erstens, weil aufgrund der NS-Geschichte des Landes biologische Differenzierungen etwa von Ethnien massiv delegitimiert sind und weil der deutsche Begriff „Rasse“ viel stärker als der englische Begriff race biologisch konnotiert ist. Zweitens hat sich Deutschland bis vor kurzem nicht als Einwanderungsland verstanden, was Auswirkungen auf das soziale und medizinische Interesse an ethnischer Vielfalt hat. Und drittens existieren bisher keine allgemeinen Richtlinien für die Einbeziehung von Frauen und ethnischen Minderheiten in klinischen Studien, wie es etwa in den USA seit Mitte der 1990er Jahre der Fall ist. Aber, wenn im deutschsprachigen Kontext für biologische Differenzierungen auf vermeintlich politisch weniger problematische Begriffe, wie etwa Migrationshintergrund, zurückgegriffen wird, kann das eine Reihe von nicht-intendierten Effekten erzeugen. Diese Effekte der Fassung menschlicher Diversität in den Lebenswissenschaften wurden jedoch bisher nicht systematisch untersucht, was wir deshalb anhand folgender Felder nachholen wollen:

Evolutionäre und Forensische Genetik

In den letzten beiden Jahrzehnten gewannen in der genetischen Forschung biologische Einteilungen von Menschengruppen wieder an Bedeutung. Dieses erneute Interesse an Gruppenunterschieden ist bemerkenswert angesichts der umfangreichen Kritiken an biologischen Rassifizierungen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Biowissenschaften formuliert wurden. Doch während die Ergebnisse des HGP zum Jahrtausendwechsel von der Wissenschaft und Politik noch enthusiastisch als ein Beleg für die fundamentale genetische Gleichheit aller Menschen interpretiert wurden, starteten zeitgleich neue Versuche, genetische Unterschiede zwischen „Populationen“, „races“ und „Ethnien“ sowie anhand der „biogeographischen Herkunft“ zu konzeptualisieren. So wurden in der Forensik in den letzten Jahren mehrere Methoden entwickelt, die die Vorhersage von äußeren Merkmalen wie der Pigmentierung der Haut, Iris und Haare, sowie der Gesichtsstruktur anhand von DNA-Analysen oder auch die Abschätzung der kontinentalen sowie regionalen und ethnischen Herkunft ermöglichen sollen. Ein Teil dieser neuen Technologien ist seit Ende 2019 bundesweit für Strafermittlungen von unbekannten Verdächtigen erlaubt. Jedoch befassen wir uns in unserer Untersuchung nicht nur mit den daran anhängigen negativen Effekten wie Stigmatisierungen und Essentialisierungen, sondern nehmen auch solche Versuche in den Blick, die genetische Diversität möglichst ohne Rassifzierungen erfassen möchten.

Epidemiologie und klinische Forschung

In der Medizin, in der Pharmakologie und in der Gesundheitsforschung (Public Health) wurde es in den letzten Jahrzehnten international üblich, Unterschiede in Krankheitsvariablen von Menschen entlang von Geschlecht, race und Ethnizität zu erfassen. In solchen medizinischen Differenzierungen vermischen sich antidiskriminatorische Zielsetzungen, mit denen soziale Ursachen gesundheitlicher Ungleichheit erfasst und möglichst bekämpft werden sollen, mit Annahmen über biologische bzw. genetische Differenzen. In Deutschland werden nur selten Differenzierungen mittels Rasse- oder Ethnizitätskonzepten vorgenommen, während aber zunehmend Begriffe wie Migrationshintergrund oder Migrant*in Verwendung finden. Der Begriff Migrationshintergrund ist jedoch eng an die politische Debatte um Integration geknüpft und führt damit ebenfalls problematischen Ballast mit sich.3 Im Sinne einer „absent-presence“ von race 4 impliziert er zudem weiterhin Rassifizierungen.

Neurowissenschaften

In der Psychologie wurde Geschlecht historisch fast ausschließlich binär und vor allem mit Pathologisierungen und Inferiorisierungen von Frauen bzw. des „weiblichen Gehirns” gefasst. Spätestens seit Beginn der zweiten Frauenbewegung lässt sich jedoch eine reflexive Wende in der Neurowissenschaft vernehmen, durch die die geschlechtlichen Vorannahmen der Psychologie und Neurowissenschaften selbst zum Gegenstand kritischer Untersuchungen wurde. Dennoch basiert auch heute noch ein Großteil der Forschungsansätze in den Neurowissenschaften auf binär konzipierten Geschlechterunterscheidungen. Zudem scheinen neue technische Möglichkeiten, wie die funktionale MRT und andere bildgebende Verfahren, Big Data und Machine Learning immer auch die Hoffnung zu nähren, nun endlich die alten Fragen nach Geschlecht und Geschlechterunterschieden lösen zu können. Dieser hegemonialen Position gegenüber begannen in den letzten Jahren allerdings auch mehrere Forschungsprojekte, die über die typischen bipolaren Konzepte hinausgehen. Sie erweitern beispielsweise die Ansätze zur Plastizität des Gehirns, konzeptualisieren neue Modelle zum Verständnis von Geschlecht im Gehirn (wie etwa das Mosaikmodell) oder entwerfen Geschlecht als fluide, situative Kategorie.5 Auf solchen reflexiven und innovative Ansätzen liegt ein besonderes Augenmerk unserer Untersuchung.

Ziele des Forschungsprojekts

Unsere Forschung dient dazu, die Praxis biologischer Differenzierungen in den deutschen Lebenswissenschaften und die damit verbundenen Fallstricke zu problematisieren. Zudem sollen bisher kaum berücksichtigte lebenswissenschaftliche Studien untersucht werden, die in Reaktion auf vielfältige Kritiken einen verantwortungsvolleren Ansatz umsetzen. Damit zielt das interdisziplinär ausgerichtete Projekt darauf ab, kritische Ansätze der Lebenswissenschaften und der Geistes- und Sozialwissenschaften miteinander in Dialog zu bringen, und Beispiele sowohl problematischer als auch reflektierter Praktiken aufzuzeigen. Die Ergebnisse unserer Forschung sollen somit sowohl in gesellschaftliche Debatten einfließen als auch in die untersuchten Projekte zurückwirken.

  • 1FKZ 01GP1790, Projektwebseite: www.soscibio.uni-freiburg.de
  • 2Race ist nicht deckungsgleich mit dem deutschen Begriff „Rasse“. Race beschreibt im englischen Kontext vor allem das Produkt sozialer und kultureller rassistischer Unterscheidung und Hierarchisierung bestimmter Menschengruppen. In biomedizinischen und genetischen Studien wird jedoch auch im englischen Kontext nach biologisch begründeten Unterschieden zwischen races gesucht.
  • 3zur Nieden, A. (2014): The Presence of the Past: Transnational Differences in Categories of ‚Race‘ and ‚Ethnicity‘. The German Case. In: Gibbon, S. et al. (Hg.): Breast Cancer Gene Research and Medical Practices: Transnational Perspectives in the Time of BRCA. London: Routledge, S. 17-34.
  • 4M’charek, A./Schramm, K./Skinner, D. (2014): Topologies of Race. In: Science, Technology & Human Values 39 (4), S. 468-487.
  • 5Siehe etwa: Dussauge, I./Kaiser, A. (2012): Neuroscience and Sex/Gender. In: Neuroethics 5 (3), S. 211-215.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
254
vom August 2020
Seite 32 - 33

Andrea zur Nieden ist Soziologin und Teil der an der Universität Freiburg angesiedelten Forschungsgruppe "Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations" (SoSciBio).

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Dr. Isabelle Bartram ist Molekularbiologin und Mitarbeiterin des GeN.

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Laura Schnieder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe "Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations" (SoSciBio). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Medizinsoziologie sowie der feministischen Wissenschafts- und Technikforschung.

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Nils Ellebrecht ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und am Centre for Security and Society der Universität Freiburg. Er forscht zu organisations- und techniksoziologischen Fragen im Bereich von Medizin und Sicherheit.

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Tino Plümecke arbeitet derzeit als Postdoc an der Universität Freiburg in der Forschungsgruppe “Human Diversity in the New Life Sciences: Social and Scientific Effects of Biological Differentiations” (SoSciBio), die sich den Konzepten zur Humandifferenzierung in den neuen Lebenswissenschaften widmet.

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