Doppelmoral

Ökonomische Erfordernisse bestimmen in der Wirtschaft die Moral

Wir kaufen Dinge, die unter Bedingungen hergestellt werden, die wir eigentlich nicht akzeptieren. Woher kommt diese seltsame Trennung von naher und ferner Moral?

Bei einem Fachgespräch über Massentierhaltung, zu dem die Grünen-Fraktion im April 2010 in den Deutschen Bundestag eingeladen hatte, bekannte sich der Wiesenhof-Chef Paul-Heinz Wesjohann zum christlichen Glauben und zu einer daraus resultierenden Verantwortung - auch für Tiere. „Aber Sie werden verstehen“, ergänzte er, die Konkurrenz zwinge ihn zu ökonomischem Handeln. Sie werden verstehen! Dieser Satz hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt, weil er so klar und deutlich zeigt, dass Wesjohann der Ökonomie einen Vorrang vor jeglichem Wertesystem zuspricht. Die Beiläufigkeit, mit der er das sogar vor einem Publikum von engagierten Gegnern der Massentierhaltung ausspricht, zeigt, wie selbstverständlich das für ihn sein muss.

Geschäft ist Geschäft

Sie werden verstehen! Das heißt: Wenn die Konkurrenz Masthähnchen lebenslang in enge fensterlose Ställe pfercht und mit fastfood mästet, bis sie kollabieren, dann tun wir das auch. Weil es billiger ist. Die Geschäfte zwingen uns dazu. Da kann man nichts machen, das ist eben so. In der Wirtschaft ist diese Einstellung akzeptiert: Die ökonomischen Erfordernisse bestimmen die Moral. Und auch weite Teile der Gesellschaft nicken dazu. Eine sehr freundliche alte Dame erzählte mir von ihrem Bruder, der mit Steinen handelt. Ob er auch aus Indien importiere, fragte ich sie, und was er zu den desaströsen Arbeitsbedingungen in den Steinbrüchen dort sage. Schrecklich, sagte sie, was ihr Bruder erzähle, sei so fürchterlich. Ganz entsetzliche Zustände herrschen dort. Und was macht er dann, fragte ich. Er kauft, sagte sie. Ja, sagte ich, aber! Er findet das doch nicht gut! Das ist das Geschäft, sagte sie. Entschieden, ohne Bedauern in der Stimme. Geschäft ist Geschäft. Unabänderliche Tatsache.

„Fascisme extérieur“

Die Ökonomie bestimmt, wie mit Tieren, Menschen und Ökosystemen umgegangen wird. Und Gesetze werden akzeptiert, aber nur da, wo sie gelten. Und wenn es an einem außereuropäischen Produktionsort legal ist, die Menschenrechte zu missachten, dann wird das gern als Produktionsvorteil in die Kostenrechnung aufgenommen. „Fascisme extérieur“ nennt das der französische Jurist und Politikwissenschaftler Maurice Duverger: „Die meisten europäischen Staaten praktizieren externen Faschismus“. Innerhalb ihres eigenen Landes respektieren sie die Menschenrechte, außerhalb der Grenzen verletzen sie sie. Jean Ziegler, bis 2008 Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf Nahrung, zitiert diese Sätze häufig in seinen Vorträgen, um etwas auf den Punkt zu bringen, was den meisten von uns eigentlich bekannt ist und mit einem Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit hingenommen wird: die herrschende Doppelmoral für Nahes und Fernes. Wir wissen, dass ein Großteil der Dinge, die wir kaufen, unter Bedingungen hergestellt wird, die wir eigentlich nicht akzeptieren. Warum nehmen wir das hin? Warum schlucken wir den Satz von der Unabänderlichkeit des Profitdenkens ohne Widerrede? Und warum machen wir diese merkwürdige Trennung in nahe und ferne Moral?

„Vorstandsvorsitzender entreißt Neunjährigem MP3-Player“

Es ist absolut undenkbar für einen Manager in Europa, einem Kind etwas wegzunehmen. „Wieder S-Bahn-Überfall: Vorstandsvorsitzender entreißt Neunjährigem MP3-Player“ - das wären schöne Schlagzeilen. Wenn aber etwa das Greenpeace Magazin wiederholt über die verschleppten Minderjährigen berichtet, die auf den Kakaoplantagen der Elfenbeinküste schuften, nach der Arbeit eingesperrt werden und kaum genug zu essen bekommen, dann - passiert nichts.1 Höchstens eine Meldung, aber keine großen Schlagzeilen. Keine Konfrontation der Vorstandsvorsitzenden oder der Chefeinkäufer der Lebensmittelkonzerne mit den Vorwürfen. Keine Rücktrittsforderungen, keine Rücktritte. Wie kommt das? Weil es weiter weg ist? Weil es zu Hause keiner erfährt, jedenfalls meistens nicht? Weil es nicht die eigenen Lohnsklaven sind, sondern nur die des Geschäftspartners? Weil es die Konkurrenten auch so machen? Ein Schokoladenfabrikant könnte ja auch so denken: Ich mache nur deshalb gute Geschäfte, weil die Kinder auf den Kakaoplantagen so billig arbeiten. Oder der Steinehändler könnte denken: Mein schönes neues Auto kann ich mir nur leisten, weil die Kinder, die in den Steinbrüchen arbeiten, so gut wie keine Löhne bekommen. Also haben eigentlich die meinen neuen Mercedes finanziert. Dafür müsste er sich schämen, oder?

Dürfen wir unsere Verantwortung delegieren?

Und wie ist es mit uns? Wenn wir diese Zustände hinnehmen und von günstigen Waren aus ausbeuterischer Produktion profitieren, müssen wir uns dann nicht gleich mit schämen? Oder dürfen wir unsere Verantwortung delegieren? An die Unternehmen, die wiederum auf ihre Zulieferer verweisen, die ihrerseits ihre Ohnmacht angesichts des harten Wettbewerbs als Grund für die Untätigkeit nennen? Oder an den Staat, der die Mindestarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterzeichnet hat und deshalb dafür Sorge zu tragen hat, dass sie eingehalten werden? Für den Einzelnen ist es natürlich bequemer, die Verantwortung für Notleidende zu delegieren - an Institutionen, die dafür sorgen, dass die Grundbedürfnisse aller befriedigt werden, und die die Kosten dafür von uns einfordern, zum Beispiel in Form von Steuern.

„Wir profitieren von ihrer Arbeit“ ...

Aber genau das funktioniert eben nicht: Wir delegieren unsere Verantwortung für notleidende Menschen an Institutionen, die dieser Verantwortung nicht gerecht werden. Wir haben mehr schlecht als recht funktionierende nationale Auffangsysteme für Menschen, die im Wirtschaftssystem keinen Platz finden - aber tolerieren die wirtschaftliche Ausbeutung von noch viel mehr Menschen jenseits dieser Grenzen. Das aber betrifft nicht nur die staatlichen Institutionen, sondern auch jeden einzelnen von uns: In einer globalisierten Wirtschaft treten wir als Konsumenten in Beziehung zu Menschen am anderen Ende der Welt, bei denen die Leistungs-Gegenleistungsbeziehungen der hochentwickelten Industriestaaten nicht greifen. Die unterbezahlten Näherinnen südostasiatischer Textilfabriken sind für uns keine Fremden, mit denen uns nichts weiter verbindet als gemeinsames Menschsein. Sondern wir stehen mit ihnen in einer Wirtschaftsbeziehung, wir profitieren von ihrer Arbeit - ohne für ihre Rechte einzustehen. Das gleiche gilt für die Opfer des Klimawandels oder der europäischen Agrarpolitik: Es sind unsere industriellen Emissionen, unsere politischen Entscheidungen (zum Beispiel die Agrarsubventionen oder die Freihandelsverträge) und nicht zuletzt unser Lebensstil, die ihnen die Lebensgrundlagen geraubt haben. Wir können diese Menschen nicht einfach als „Fremde“ aus unserer Verantwortung wegreden.

... „ohne für ihre Rechte einzustehen“

In einem globalisierten Wirtschaftssystem mit globalen ökologischen Auswirkungen kann Verantwortung nicht einfach auf die nationale Ebene zurückgedreht werden, als lebten wir in kleinen autarken Horden in unberührten Urwäldern ohne Kontakt zu anderen Stämmen.

Erschienen in
GID-Ausgabe
200
vom Juli 2010
Seite 18 - 19

Tanja Busse ist Journalistin und Buchautorin.

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