Rezension: „Gradmesser der Demokratie“
Reproduktive Rechte sind Menschenrechte, dennoch stellen sie längst keine Selbstverständlichkeit dar. Gesine Agena, Patricia Hecht und Dinah Riese, Autor*innen des Buchs „Selbstbestimmt“, geben einen Überblick über die rechtlichen und gesellschaftlichen Umstände, in denen reproduktive Entscheidungen getroffen wurden und werden. Sie vermitteln Fakten und Zahlen, stellen historische und aktuelle feministische Kämpfe und Forderungen vor und zeigen Ambivalenzen, Diskussionsbedarfe sowie offene Fragen auf. In fünf Kapiteln gehen die drei Autorinnen auf die Themen Bevölkerungspolitik, Verhütung, Schwangerschaftsabbruch, Reproduktionstechnologien und Geburt ein. Das Buch schafft auf den gut 200 Seiten einen informativen und kurzweiligen Rundumschlag. Plakative Einstiege in die verschiedenen Abschnitte, in denen teilweise mit drastischen Worten von u.a. handgreiflichen Gehsteigbelästigungen, tödlichen Anschlägen und „gestrandeten Babys“ in ukrainischen Kinderwunschkliniken erzählt wird, provozieren umgehend Bilder im Kopf und machen die Komplexität des Themas und die Notwendigkeit einer intersektional feministischen Debatte deutlich. Der Fokus liegt auf dem deutschen Kontext, gleichzeitig werden Entwicklungen in anderen Ländern exemplarisch angeführt und Zusammenhänge aufgezeigt. Viel Raum nehmen eine aufschlussreiche kritische Analyse der Anti-Choice-Bewegung sowie deren Verbindung zu rechten Akteur*innen und die Rolle der katholischen Kirche ein. Schade ist, dass gerade die häufig vernachlässigten Fragen zu den potenziell selektiven Verfahren der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik unthematisiert bleiben. Dabei prägen diese diagnostischen Möglichkeiten und Angebote im Kontext einer leistungsorientierten und ableistischen Gesellschaft maßgeblich die Bedingungen, unter denen Fortpflanzung stattfindet und reproduktive Entscheidungen getroffen werden (müssen). „Selbstbestimmt“ liefert viele Anknüpfungspunkte für eine noch tiefgreifendere feministische Auseinandersetzung mit reproduktiven Rechten und zahlreiche Gründe dafür, sich weiterzubilden, zu organisieren, zu protestieren und für reproduktive Gerechtigkeit zu kämpfen.
➤ Agena, G./Hecht, P./Riese, D. (2022): Selbstbestimmt – Für reproduktive Rechte. Berlin: Wagenbach, 208 Seiten, 22,- Euro, ISBN: 978-3-8031-3715-9.
Taleo Stüwe ist Mediziner*in und Mitarbeiter*in des GeN.
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