Aufruf an die Mitglieder des Deutschen Bundestags zur Kultur der Ethikdebatte in Deutschland
Sehr geehrte Damen und Herren,
die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass wissenschaftlicher und technischer Fortschritt auf den Gebieten der Biomedizin, der Reproduktionstechnologie, der Hirnforschung, der Nano-Technik und der IT-Technologien sich nicht mehr nur in kleinen oder großen Schritten, sondern nahezu kontinuierlich vollzieht. Dieser Trend wird auf nicht absehbare Zeit anhalten und sich womöglich noch verstärken. Die öffentliche ethische Reflexion dieses Prozesses in Bezug auf den Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde gerät dabei immer mehr in Verzug. Der einstmals gute Vorsatz, der Entwicklung nicht immer nur nachzueilen, sondern begleitende rechtliche Rahmenbedingungen schon vorausschauend zu bedenken, ist von der Realität längst eingeholt und überholt, er hat sich vielfach sogar als undurchführbar erwiesen. Zudem wohnt der zunehmend international organisierten Forschung eine eigene Dynamik inne, die nur beschränkt von außen steuerbar ist. Ein vierjähriger Rhythmus, wie derjenige der parlamentarischen Legislaturperioden, ist ihr fremd. Darunter hat die im übrigen hoch zu lobende Arbeit der Enquete-Kommissionen über Ethik und Recht der modernen Medizin des 14. und 15. Deutschen Bundestags gelitten. Zwei Legislaturen haben nicht ausgereicht, auch nur die wichtigsten unter den derzeit anliegenden Themen abschließend zu beraten. Wir möchten daher unserem Wunsch Ausdruck geben, dass Sie sich bei den inner- und interfraktionellen Beratungen über die Enquete-Kommissionen der 16. Legislaturperiode dafür einsetzen mögen, dass die Arbeiten, wie sie im Kommissionsbericht "Über den Stand der Arbeit" vom 06.09.2005 beschrieben sind, zum Abschluss gebracht werden können. Darüber hinaus aber sollte über eine geeignete Form für die ständige ethische Beratung des Parlaments nachgedacht werden. Wir weisen darauf hin, dass die Enquete des 14. Bundestags in ihrem Schlussbericht von 2002 bereits selbst den Vorschlag einer ständigen Kommission formuliert und ausführlich begründet hat (S.452). Dort heißt es u.a.: "Die Enquete-Kommission empfiehlt daher dem Bundestag, sich mit der Frage der Kultur der Ethikdebatte in Deutschland und ihrer adäquaten Förderung und Organisierung zu befassen und eine geeignete Institution zu schaffen, die im Dialog mit der Öffentlichkeit die parlamentarische Debatte und Entscheidung in medizin- und bioethischen Fragen angemessen vorbereitet und begleitet. Dies sollte in der Arbeitsweise einer Enquete-Kommission oder in Form einer ständigen Kommission geschehen." Wir verstehen unseren Aufruf auch als eine Anmahnung an den Bundestag, diese Empfehlung endlich aufzugreifen. Themen wie "Ethik der Forschung und Biomedizin" und zu verwandten Bereichen wie Sterbehilfe, Patientenverfügung oder Kriterien für die Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, halten sich nicht an Wahlperioden, sie müssen immer wieder neu gesellschaftlich und parlamentarisch diskutiert werden. Auch sollte überlegt werden, ob brisante und ethisch hochrelevante Themen wie das Foltern dem Themenkreis der ethischen Politikberatung zugeordnet werden sollten. Wenn sich aus den Debatten ein gesetzgeberischer Handlungsbedarf ergeben sollte, ist eine etablierte ethische Beratung des Bundestags wichtig, weil Ethikthemen aus der "Mitte des Parlaments" parlamentarisch behandelt und nicht von Regierungsseite vorgelegt werden sollten. Als Übergangslösung können wir uns vorstellen, dass eine weitere Enquete-Kommission für Ethik und Recht der modernen Medizin eingesetzt wird, zu deren Mandat neben der Fertigstellung der noch nicht abgeschlossenen Arbeiten der Auftrag gehört, einen konkreten Vorschlag für die Einrichtung eines ständigen Beratergremiums beim Deutschen Bundestag vorzulegen. Am 6. Januar 2006 Dieser Aufruf wird von folgenden Initiativen, Arbeitsgruppen und Organisationen getragen:
- Tübinger Initiative gegen die Bioethik-Konvention
- Gen-ethisches Netzwerk e.V., Berlin
- Konvent evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland e.V.
- Diakonisches Werk Württemberg, Stuttgart
- Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V., Detmold
- Arbeitskreis Christen und Bioethik Bonn
- Diakonisches Werk Tübingen
- Verein "Niedersächsische Gespräche zwischen Ärztinnen, Juristinnen und Theologinnen e.V.", Celle
- Solidarische Kirche im Rheinland
- InteressenGemeinschaft Kritische Bioethik Bayern, München
- Koordinationstreffen Tübinger Behindertengruppen e.V.
- BundesElternVereinigung für anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie e.V., Berlin
- Landesarbeitsgemeinschaft der Angehörigenvertretungen in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung in Baden-Württemberg e.V.