Betroffenenkontrolle als Alternative

Tagungsbericht: „Auf der Suche nach dem Rosengarten“

Organisiert vom Träger des antipsychiatrischen Wohnprojekts Weglaufhaus, dem „Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt“, fand am 2. und 3. September 2011 in Berlin eine internationale Konferenz statt, auf der sich Betroffene und UnterstützerInnen unter dem Motto „Auf der Suche nach dem Rosengarten“ mit Alternativen zur Psychiatrie beschäftigten. Ein Konferenzbericht.

Ziel der von Aktion Mensch und Paritätischem Wohlfahrtsverband geförderten Veranstaltung war es, Alternativen zum psychiatrischen Hilfesystem vorzustellen und zu diskutieren. Eingeladen waren psychiatriebetroffene PraktikerInnen und ForscherInnen unter anderem aus Australien, den USA, Großbritannien, Schweden und Deutschland. Die ReferentInnen stellten ihre Unterstützungskonzepte und theoretischen Ansätze vor und gaben daneben auch Einblicke in die soziale Versorgungssituation verschiedener Länder. Mehr als 220 TeilnehmerInnen reflektierten in Vorträgen und Arbeitsgruppen Konzepte und Ansätze im Umgang mit extremen Zuständen. So diskutierten sie beispielsweise über alternative Umgangsweisen mit Psychopharmaka-Einnahme, selbstverletzendem Verhalten oder Suizidalität. Auch die Veränderungen in Praxis und Forschung, die durch die aktive Mitarbeit von Psychiatriebetroffenen angestoßen werden, waren ein wichtiges Thema. Eine zentrale Veränderung in den Rahmenbedingungen, auf die sich die Akteure aus allen Ländern beziehen konnten, stellt die 2006 verabschiedete UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen dar. Diese Konvention wird als ein echter Meilenstein auf dem Weg zu Selbstbestimmung, gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe und im Kampf gegen Diskriminierung betrachtet.

Betroffenenkontrolle als Konzept

Benjamin-Immanuel Hoff, Staatssekretär für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz im Land Berlin, betonte in seinem Grußwort die große Bedeutung der Beteiligung Psychiatriebetroffener an der Planung und Ausgestaltung der professionellen Hilfesysteme. Ohne diese bestehe die Gefahr, dass die Versorgungsangebote dem tatsächlichen Hilfebedarf nicht gerecht würden. Peter Beresford, Professor für Sozialpolitik in London, reflektierte die Rolle des Wissens der Betroffenen beim Aufbau von Alternativen zur Psychiatrie und unterstrich, wie wichtig betroffenenkontrollierte Forschung ist. Beresford setzte sich ausführlich mit dem Konzept der sozialen Behinderung auseinander, das von Menschen mit Behinderungen entwickelt worden ist und massiv zu Veränderungen ihrer rechtlichen Stellung beigetragen hat. Nach diesem Konzept sind unter Behinderung die starken Barrieren zu verstehen, die eine Gesellschaft setzt, und nicht etwa die körperliche Schädigung an und für sich. Psychiatriebetroffene sind solchen Barrieren ebenso ausgesetzt. Zugleich verfügen sie aber über eine große Wissensbasis, um andere gesellschaftliche Antworten auf Erfahrungen von Verrücktheit zu entwickeln. Gerade in der betroffenenkontrollierten Forschung ist die eigene Erfahrung eine wertvolle Ressource. „Wir müssen noch mehr darüber herausfinden, was uns gut tut“, so Beresford. Deshalb sei es notwendig, dass Betroffene nicht nur reagieren, sondern die Initiative ergreifen und PolitikerInnen und EntscheidungsträgerInnen Vorschläge vorlegen. Dabei sind eigene betroffenenkontrollierte Organisationen unerlässlich. Sich in Organisationen einzugliedern, die von Nichtbetroffenen dominiert werden, kostet viel Kraft und nutzt häufig wenig. Allerdings muss es Allianzen geben, auch mit Organisationen, die nicht betroffenenkontrolliert sind, so Beresford. Nicht zuletzt müssten alle möglichen Formen von Verschiedenheit gerade auch in betroffenenkontrollierten Organisationen berücksichtigt werden, ob in Bezug auf Gender, Glauben, Alter oder Kultur.

Alternativen in der Praxis - ein Beispiel

Ein bislang einmaliges Beispiel für die konsequente Umsetzung von ‚unterstützter Entscheidung‘ - als radikalem Gegenmodell zur Vormundschaft - stellte Maths Jesperson vor: Das Angebot des Persönlichen Ombuds (PO) in der Provinz Skåne in Süd-Schweden klingt im Vergleich zu den Kontrollansprüchen, die Ämter und Institutionen in Deutschland haben, geradezu phantastisch: Der PO ist ein persönlicher Assistent, der ausschließlich im Auftrag des KlientInnen agieren darf; nur der_die KlientIn bestimmt, welche Hilfe er_sie für welchen Zweck in Anspruch nehmen möchte. Dabei kommt der Kontakt gänzlich ohne Formalisierung aus: Ein PO hat zum Beispiel kein Büro, denn, so Jesperson, „ein Büro bedeutet, Macht zu haben“. Auch ist der PO niemandem gegenüber berichtspflichtig. Unterlagen des PO werden den KlientInnen am Ende der Zusammenarbeit ausgehändigt oder in ihrer Anwesenheit vernichtet. Viele der Ombuds-Kontakte werden nach etwa drei Jahren beendet, und die KlientInnen nehmen danach deutlich weniger Gesundheits- und Sozialleistungen in Anspruch als vorher. Das Angebot besteht seit 1995 und bewährt sich gut. Im Kontext der Behindertenrechtskonvention bekommt es zunehmend auch internationale Anerkennung, zum Beispiel durch die Weltgesundheitsorganisation.

Betroffenenperspektiven: Die Beispiele Selbstverletzung und Suizidalität

Über „Selbstverletzung und Überleben“ sprach Clare Shaw (England). Aus eigener Erfahrung beschrieb sie eindringlich die Bedeutung von Selbstverletzung für Betroffene. Im Kern geht es dabei eben nicht, wie meistens angenommen, nur um Selbstzerstörung. Schon die gängige Verbindung mit Suizidalität - selbstverletzendes Verhalten wird zuweilen auch als „Parasuizid“ bezeichnet - trifft für Betroffene emotional oft nicht zu. Sie ist überdies auch statistisch nicht überzeugend nachzuweisen. Selbstverletzung ist, wie Shaw betonte, nichts Abseitiges, Fremdes. Viel eher steht sie weit verbreiteten, selbst schädigenden Verhaltensweisen wie dem Rauchen, ewig langem Fernsehen oder dem Verschlingen großer Mengen Schokolade nahe. Sie ist eine Bewältigungsstrategie, die funktioniert - ein Ausdruck von Not, aber auch von Hoffnung und Stärke, ein Teil des persönlichen Kampfes eines Menschen um Selbstbestimmung. Aus der Perspektive eines betroffenen Forschers sprach David Webb (Australien) eindrucksvoll über Suizidalität. Er argumentierte überzeugend gegen das vorherrschende Verständnis von Suizid als Folge einer psychischen Krankheit Depression, welche mit Antidepressiva zu behandeln sei. Eine radikal andersartige Suizidprävention sei nicht von professioneller Hilfe zu erwarten, so Webb. Vielmehr müssten Communities dafür sensibilisiert werden, über Suizid zu sprechen, suizidale Gefühle zu respektieren und Suizidalität „out of the closet“ zu führen, das heißt als öffentliches Thema ohne Tabus und Vorurteile zu behandeln. Damit Betroffene ihre persönliche Stärke individuell und kollektiv zurückerobern können, müssen Menschen in psychosozialen Versorgungszentren mitarbeiten, die über eigene Erfahrungen mit Suizidalität verfügen.

Das Recht auf einen Rosengarten

Es bleibt also noch viel zu tun, bis Rosengärten blühen können. Dass zumindest hierzulande eher noch von einer Wüste gesprochen werden muss, machte ein Beitrag des Berliner Landesbeauftragten für Psychiatrie deutlich: Betroffenenkontrollierte Projekte sind in Nischen des Hilfesystems angesiedelt, so Heinrich Beuscher, und das werde absehbar auch so bleiben. Peter Beresford, selbst psychiatriebetroffen, empörte diese Äußerung. In Großbritannien würde sich heutzutage niemand, nicht einmal ein konservativer Politiker, solche Äußerungen erlauben. Dort ist der Einfluss der Betroffenen in Praxis, Wissenschaft und Politik stark genug, und sei es nur, weil sie so viele Wählerstimmen repräsentieren, dass niemand sie mehr auf Nischen zu verweisen wagt. Den PolitikerInnen und VerbandsvertreterInnen schrieb Beresford ins Stammbuch: Hört den Menschen zu, die von euren Entscheidungen betroffen sind! Das Erfahrungswissen der Betroffenen muss eine führende Rolle bei der Konzipierung von Hilfe bekommen, das war die klare Botschaft der Konferenz. Alle im Hilfebereich Tätigen müssen die UN-Behindertenrechtskonvention mit ihrem Entstehungsmotto „Nichts über uns ohne uns!“ beachten. Mit ihren Erfahrungen und ihrem breiten Verständnis für die Vielfalt von Lebenslagen, so hieß es im Abschlussplenum der Konferenz, sind Psychiatriebetroffene und ihre Organisationen Hoffnungsträger für andere Betroffene und für Professionelle. Die Konferenz hat die TeilnehmerInnen ermutigt und darin bestärkt, dass wir alle das Recht auf unseren Rosengarten haben und ihn eines Tages finden werden.
Das Programm der Konferenz war wesentlich umfangreicher, als hier nachgezeichnet werden kann. Eine Dokumentation ist für Anfang 2012 vorgesehen. Weitere Informationen auf www.weglaufhaus.de.

GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
208
vom Oktober 2011
Seite 26 - 27

Christina Winsloe und Stefan Bräunling engagieren sich im „Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt“ in Berlin.

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