Profit vor Medizin?

Die Ökonomisierung des deutschen Gesundheitssystems

Big Data-Gesundheitsforschung verspricht die Entwicklung einer Präzisionsmedizin der Zukunft. Doch angesichts der Ökonomisierung des Gesundheitssystems ist es fraglich, ob die Investition in diesen Forschungszweig tatsächlich den größtmöglichen Nutzen für Patient*innen bringt.

streikende Beschäftigte der Charité Berlin auf der Straße

Am zweiten Tag ihres unbefristeten Streiks riefen die Charité-Beschäftigten zur ver.di-Charité-Streik-Demo auf. Foto: flickr.com/linksfraktion

Während im Sommer 2015 an der Charité Berlin erstmals Pflegekräfte gegen Personalmangel streikten, ging an anderer Stelle des Campusgeländes die Fertigstellung einer neuen Zentralen Biobank (ZeBanC) in die Endphase. Das Universitätskrankenhaus und das Berliner Institut für Gesundheitsforschung hatten gemeinsam insgesamt 3,9 Millionen Euro investiert, um in Zukunft Biomaterialien aus der klinischen Praxis und Forschung langfristig sammeln und lagern zu können.1 Die sorgfältig aufbewahrten Bioproben sowie Behandlungsdaten von Patient*innen der Charité fließen in modernste, „international wettbewerbsfähige Forschung“ ein, deren Erkenntnisse als neue Therapien und Präventionsmaßnahmen Menschenleben retten und verlängern sollen. Doch während an einem Ende des Gesundheitswesens in die Verwertung persönlicher Daten von Patient*innen investiert wird, gefährden die zunehmenden Einsparungen am anderen Ende die Sicherheit derselben.

Schrittweise Ökonomisierung

Die heutige gesundheitsgefährdende Versorgungs­lücke ist das Produkt einer „geistig-moralischen Wende“ (Helmut Kohl) in Richtung Kommerzialisierung jeglicher Lebensbereiche, auch des Gesundheitswesens. War es zuvor gesetzlich verboten Gewinne in Krankenhäusern zu erwirtschaften, wurde mit dem Krankenhausneuordnungsgesetz von 1984 und der Novellierung der Bundespflegesatzverordnung ein Paradigmenwechsel eingeleitet. Begründet wurde dieser mit einer vermeintlichen „Kostenexplosion“ des Gesundheitssystems. Im Grunde alle Krankenhäuser waren zu diesem Zeitpunkt in öffentlicher Hand und galten als ineffizient und zu teuer. Die Entstehung privater Krankenhausketten erschien als logische Konsequenz – heute sind 36,2 Prozent der Krankenhäuser in privater Hand.2 Deren Ziel ist es, Dividende an ihre Aktionär*innen auszuschütten.
Diese Entwicklungen lieferten den geistigen Vorlauf, um 2003 das Fallpauschalensystem mit Diagnosis-Related Groups (DRGs) einzuführen. Seitdem werden nicht mehr die tatsächlich entstandenen Kosten vergütet, sondern ein festgelegter Betrag für eine codierte Diagnose von den Krankenkassen an das Krankenhaus gezahlt. In diesem System machen die Krankenhäuser Verluste, sobald Patient*innen länger als die mittlere Liegezeit in Anspruch nehmen, sie sind anders ausgedrückt Risikokapital. Um die Versorgungsqualität trotzdem nicht zu gefährden, müssen bestimmte Qualitätsmarker erfüllt werden – sonst muss ein Festbetrag vom Krankenhaus an die Kassen gezahlt werden. Effektive Einsparungen lassen sich daher insbesondere bei den Personalausgaben erzielen. Die große Last tragen prekär beschäftigte Service- und nicht zuletzt die Pflegekräfte.

Einfluss auf die Versorgungsqualität

Die Konsequenz für Patient*innen zeigt sich in Befragungen des Pflegepersonals im Rahmen des Pflege-Thermometers.3 Mängel in der Pflege stellen die Regel dar: Die Hälfte der Befragten gab an, dass es innerhalb der letzten Wochen Schwierigkeiten bei der eigenen Handhygiene und bei der Gewährleistung der Nahrungsaufnahme sowie der Körperhygiene der Patient*innen gab. Für rund 90 Prozent lässt sich in diesem einstmals sozialen Beruf die nötige emotionale Unterstützung kranker Menschen nicht mehr sicherstellen. Neben typischen Pflegefehlern wie Druckgeschwüren, werden durch den Personalmangel Komplikationen zu spät erkannt und behandelt, was zu Folgeschäden oder gar dem Versterben von Patient*innen führen kann.
Mit dem DRG-System wird auf einmal die Rentabilität ganzer Fachbereiche in Frage gestellt. Private Krankenhäuser werden häufig zu spezialisierten Fachkliniken und richten ihr Leistungsspektrum auf die profitabelsten Diagnosen aus. Unrentable Bereiche wie Kinder-, Geburts-, Intensiv- und Notfallmedizin überlässt man den öffentlichen Trägern. Diese Entwicklung geht so weit, dass Notfälle von Krankenhäusern abgewiesen werden – nicht selten mit tödlichen Folgen.

Falsche Heilsversprechen

Die Behauptung, das frühere Kostendeckungsprinzip führe zu schweren Fehlanreizen hat sich retrospektiv nicht bewahrheitet. Die marktgesteuerte Variante, wie sie heute besteht, hat hingegen die eigentliche Kostenexplosion verursacht. Diverse Tricksereien haben sich etabliert, um das meiste aus den DRGs herauszuholen. Ebenfalls beobachtet wurde eine stetige Steigerung der Fallzahlen in den Krankenhäusern und der Zahl der codierten Nebendiagnosen. Spezielle Interventionen lassen sich gesondert abrechnen und der Verdacht der Überversorgung mit solchen Behandlungen entsteht. So stieg beispielsweise die Zahl der operativen Wirbelsäulenversteifung seit der Einführung der DRGs um 202 Prozent. Der Vorsitzende des Orthopädenverbands im Jahr 2015, Prof. Dr. Rüdiger Krauspe, schließt „eine angebotsgetriggerte Nachfrage nach Operationen an der Wirbelsäule“ nicht aus.4
Investitionen in die Infrastruktur und die Gebäude der Kliniken müssen indes von den Bundesländern getragen werden. In Deutschland befinden wir uns in der bezeichnenden Situation, dass wir mit unserer nach dem Solidarprinzip funktionierenden gesetzlichen Krankenversicherung und durch Steuergelder die Dividende der Krankenhauskonzerne mittragen. Zugespitzt formuliert: Die 192 Millionen Euro Gewinn, die allein der Konzern Asklepios 2016 zu verzeichnen hatte, zahlt die Allgemeinheit.5

Menschen werden zu Zahlen

In diesem System ist die Big Data-Forschung mit Patient*innen-Material nur der krönende Abschluss der Verwandlung kranker Menschen in abstrakte Zahlen. Die Diagnostik sowie die Therapie der Menschen im Krankenhaus kreisen konstant um die ihnen zugeordnete DRG und das dazugehörige Liegezeitmaximum. Wünsche der Patient*innen und die Expertise der Gesundheitsberufe treten hinter finanziellen Gesichtspunkten zurück. Aus dem Diktum „was können wir für den*die Patient*in tun“ wurde „was bringt uns der*die Patient*in“.
Die angestrebte Big Data-Medizin der Zukunft wird diesem Trend nichts entgegensetzen, sondern ihn verstärken. Gerade bei der Auswahl einer Krebstherapie ist eine Vielzahl von Faktoren ausschlaggebend. In einer partizipativen Entscheidungsfindung, dem „shared decision making“, werden die Therapieoptionen, Lebenserwartung und die Wünsche der Patient*innen miteinander ausgelotet. Eine solch komplexe Entscheidung kann nicht auf die Sequenzierung eines Gens reduziert werden.

Vertrauensverlust

Durch die immer offensichtlicheren Fehlstellen im Gesundheitssystem und die Umlenkung von Ressourcen auf Forschungsansätze, deren Versprechen möglicherweise nie erfüllbar sein werden, steuert die medizinische Profession auf eine schwere Glaubwürdigkeitskrise zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass zukünftige Forschungserfolge diesen Vertrauensverlust therapieren werden, ist gering. Einige Mediziner*innen, wie der US-amerikanische Krebsspezialist Vinay Prasad, bezweifeln, dass die versprochene Präzisionsmedizin jemals mehr als in Einzelfällen wirksam sein wird. Prasad schätzt, dass allenfalls 1,5 Prozent der Tumorpatient*innen von neuen Therapien, die auf genetischen Analysen basieren, profitieren werden.6
Das Verhältnis zwischen Ärzt*innen und Patient*innen basiert auf Vertrauen. Doch wie soll dieses Verhältnis aussehen, wenn ich mir als Patient*in nicht sicher sein kann, ob ärztliche Behandlungen unter medizinischen oder finanziellen Aspekten stattfinden? Es überrascht nicht, dass 46 Prozent der Chefärzt*innen bei einer Umfrage der Universität Duisburg-Essen angaben, „aus ökonomischen Gründen bereits nützliche Maßnahmen vorenthalten oder durch weniger effektive, aber kostengünstigere Alternativen ersetzt zu haben.“7 25 Prozent der kardiologischen und 20 Prozent der unfallchirurgisch-orthopädischen Chefärzt*innen bestätigen eine „ökonomisch motivierte Überversorgung.“8 Ein weiteres Problem entsteht durch das Abschließen von finanziellen Zielvereinbarung mit angestellten Ärzt*innen und einer Sanktionierung mit Betten- und Stellenabbau sowie einer Reduktion der Mittel für die Station. Das verändert die medizinische Entscheidung der Ärzt*innen zugunsten finanzieller Abwägungen.

Zeit zu Handeln

Viele Pfleger*innen lassen sich die Ausbeutung zum Wohle der Aktionär*innen nicht mehr gefallen. Seit den Streiks an der Charité haben sich viele Häuser der Forderung nach einer einheitlichen Personalbemessung angeschlossen. Ein solches Bemessungsinstrument wurde in den Gesetzesvorschlägen von drei Volksentscheiden für mehr Personal verankert, und zwar in Berlin, Hamburg und Bayern. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat seinerseits die Herausrechnung der Pflegepersonalkosten aus den DRGs in die Diskussion eingebracht. Beide Maßnahmen bedeuteten demnach aller Wahrscheinlichkeit das Ende des DRG-Systems. Genau das fordert das Bündnis „Krankenhaus statt Fabrik“: die Rückkehr zum Kostendeckungsprinzip.
Moderne medizinische Forschung konnte in den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung steigern und unheilbare Erkrankungen therapierbar machen. Doch bevor erwiesen ist, dass Big Data-Forschung tatsächlich das Versprechen einer Präzisionsmedizin für alle erfüllen kann, muss die schon jetzt verfügbare beste und wirksamste Behandlung und Pflege bei den Patient*innen ankommen. Momentan wird ein zynisches Spiel auf dem Rücken eben dieser als auch auf dem des Krankenhauspersonals ausgetragen.

  • 1Charité Berlin (2015): Berlins neue Biobank für zukunftsweisende biomedizinische Forschung feiert Richtfest. Online: www.kurzlink.de/gid248_h oder www.charite.de [18.01.2019].
  • 2Statistisches Bundesamt (2018): Grunddaten der Krankenhäuser. In: Fachserie 12, Reihe 6.1.1.
  • 3Pflege-Thermometer des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung. Online: www.dip.de/projekte/pflegearbeit-beruf.
  • 4Hollersen, W. (2015): Geschäftsmodell Rücken. In: Welt [01.11.2015].
  • 5Aerzteblatt.de (2017): Asklepios-Klinik­Konzern mit Gewinnzuwachs. [27.04.17]
  • 6Prasad, V. (2016): Perspective: The precision-oncology illusion. In: Nature, 537, S.63, doi: 10.1038/537S63a.
  • 7Reifferscheid, A. et al. (2015): Ausmaß von Rationierung und Überversorgung in der stationären Versorgung. In: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 140, e129-e135, doi: 10.1055/s-0041-102550.
  • 8Bündnis Krankenhaus statt Fabrik. Fakten und Argumente zum DRG-System und gegen die Kommerzialisierung der Krankenhäuser. Online: www.krankenhaus-statt-fabrik.de.
GID Meta
Erschienen in
GID-Ausgabe
248
vom Februar 2019
Seite 16 - 17

Marinus Fislage ist Medizinstudent an der Charité Berlin und engagiert bei den Kritischen Mediziner*innen.

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