Die Grammatik der Vorsorge
Ein Blick auf die Ökonomie des Zuvorkommens
Vorbeugen ist besser als Heilen – das Motto besitzt eine fraglose Plausibilität. Dass es sinnvoller ist, künftige Übel durch geeignete Interventionen in der Gegenwart zu vermeiden, als sie erst dann zu bekämpfen, wenn sie manifest geworden sind, erscheint selbstverständlich. Ein Blick auf die Ökonomie des Zuvorkommens bringt allerdings so manche Frage an die Logik der Prävention zum Vorschein.
Prävention bezeichnet in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs ein Handlungsprinzip: Praevenire heißt zuvorkommen. Etwas wird getan, bevor ein bestimmtes Ereignis oder ein bestimmter Zustand eintreten, damit diese nicht eintreten oder zumindest der Zeitpunkt ihres Eintretens hinausgeschoben oder ihre Folgen begrenzt werden. Dabei ist der Gegenstandsbereich vorbeugenden Handelns offen: Indem Prävention, um überhaupt gezielt intervenieren zu können, einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit herauslöst und Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen Phänomenen und künftigen Ereignissen oder Zuständen postuliert, konstruiert sie ihr eigenes Aktionsfeld. Und da es nichts gibt, was nicht als Bedrohung wahrgenommen oder zur Bedrohung deklariert werden könnte, kann alles zur Zielscheibe präventiver Anstrengungen werden. Die Logik der Prävention ist die der antizipierenden Säuberung: Gegen welche Übel auch immer die vorbeugenden Maßnahmen antreten, sie sollen eliminiert werden. Ob es gegen die Pocken oder den Tabakkonsum geht, ob körperlicher Deformation oder psychischer Krankheit vorgebeugt werden soll, Präventionsprogramme gleichen Kreuzzügen. Auch wenn ein endgültiger Sieg den Protagonisten selbst utopisch erscheint und sie sich mit bescheideneren Vorgaben zufrieden geben - als regulative Idee leitet dieses Ziel ihre Praxis. Wer vorbeugen will, muss nicht nur wissen, was zu tun ist, sondern muss es auch durchsetzen können. Prävention impliziert deshalb die Fähigkeit, Verhalten zu steuern und Verhältnisse zu ändern. Sie faltet sich auf in ein komplexes Bündel heterogener Technologien, die sich hinsichtlich ihrer Reichweite, ihres Zeithorizonts, ihrer Angriffspunkte und Wirkmechanismen sowie der beteiligten Akteure unterscheiden und ergänzen.(1) Verhaltens- steht neben Verhältnis-, Spezial- neben Generalprävention, individuumzentrierte konkurrieren mit risikogruppen- oder bevölkerungsbezogenen Ansätzen, Zwangsmaßnahmen mit Aufklärungskampagnen. Aber unabhängig davon, ob die vorbeugenden Maßnahmen autoritär die individuelle Freiheit beschneiden oder – als Selbstkontrolle – die Autonomie des Individuums fordern und bestätigen, ihre Legitimität und Attraktivität beziehen sie aus dem Versprechen, mögliche Schäden abzuwehren. Prävention ist ein modernes Phänomen. Vorsorgepraktiken sind zwar vermutlich so alt wie die Menschheit, doch kommen Schutzvorkehrungen gegen Angreifer oder wilde Tiere, das Anlegen von Nahrungsvorräten oder Opferrituale, welche die Götter günstig stimmen und so Schaden abwenden sollen, noch ohne systematische Datenerhebung, Ursachenforschung und Prognostik, ohne minutiöse Steuerungsprogramme und Planbarkeitsutopien aus, wie sie das Zeitalter der Prävention kenn¬zeichnen. Seither ist „der Mensch“ als ein durch Techniken des Selbstmanagements auf der einen, durch eugenische, pädagogische, medizinische, recht¬liche oder sozialpolitische Maßnahmen auf der anderen Seite zu ent¬werfendes und zu optimierendes Wesen bestimmt. Prävention übersetzt die Frage nach der conditio humana in die praktische Aufgabe „Defizitmenschen“ zu verhindern und „Voll-“ beziehungsweise „Normalmenschen“ zu erzeugen.
Vorbeugung als unerreichbares Sicherheitsversprechen...
Prävention bezieht sich auf Risiken. Risiken sind, folgt man Niklas Luhmanns Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr, mögliche künftige Schäden, deren etwaiges Eintreten als Folge eigenen Handelns oder Unterlassens gedeutet, während es bei Gefahren der Umwelt zugerechnet wird.(2) Prävention transformiert Gefahren in Risiken, weil sie künftige Zustände an gegenwärtige Entscheidungen koppelt. Wo Vorbeugung möglich erscheint, wie begründet oder unbegründet diese Erwartung auch sein mag, wird es riskant, darauf zu verzichten. Umgekehrt erzeugt präventives Handeln selbst neue Risiken – das Problem jeder Schutzimpfung. Die Entscheidung für oder gegen diese oder jene vorbeugende Maßnahme wird damit zur Abwägung zwischen verschiedenen Risiken und Risikoeinschätzungen. Darin liegt die Brisanz aller Prävention: Weil auch Nicht-Entscheiden eine Entscheidung darstellt, wird in jedem Fall entschieden. Welche Entscheidung aber die richtige ist, dafür gibt es keine absoluten Kriterien, sondern bestenfalls Wahrscheinlichkeitsaussagen. Obwohl Antrieb aller präventiven Anstrengungen, muss Sicherheit deshalb ein unerreichbares Ziel bleiben. Das verleiht der Prävention den Charakter des Unabschließbaren: Vorbeugen kann man nie genug und nie früh genug.
...und als Raum endloser Wissensproduktion
Wer die Wahrscheinlichkeit des Eintretens oder das Ausmaß von Schadensvorfällen minimieren will, muss die Bedingungen kennen, die sie hervorbringen. Ohne Ätiologie keine Prognostik, ohne Prognostik keine Prävention. Vorbeugung impliziert daher systematische Wissensproduktion. „Sehen um vorauszusehen, so lautet der Spruch der wahrhaften Wissenschaft“, heißt es schon bei Comte.(3) Biologische Prozesse, menschliches Verhalten und erst recht soziale Phänomene lassen sich jedoch in den meisten Fällen nicht auf eindeutige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge reduzieren, und selbst wenn Kausalerklärungen Plausibilität beanspruchen können, gilt das nur in der nachträglichen Betrachtung. In Bezug auf die Zukunft sind dagegen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich. Die ätiologische Forschung isoliert und korreliert deshalb Risikofaktoren, ohne diese jemals vollständig erfassen zu können. Das Präventionswissen bleibt stets lückenhaft und erheischt weitere Forschungsprogramme: Wer vorbeugen will, weiß nie genug. Weil Risiken nur probabilistisch erfassbar sind, genera¬lisiert der präventive Blick den Verdacht und sucht Indizien aufzuspüren, die auf künftige Übel hindeuten und an denen die vorbeugenden Maßnahmen ansetzen können. Das kann der Erreger sein, von dem eine Infektionsgefahr ausgeht, oder das geschwächte Immunsystem, das jenem keinen ausreichenden Widerstand entgegenzusetzen vermag. Das kann ein überschrittener Grenzwert sein, ein individuelles Risikoverhalten, ein genetischer Defekt - die Reihe ließe sich fortsetzen. Zum Ausgangspunkt präventiven Handelns kann letztlich alles werden, was von Sollwerten abweicht oder, besser noch: was sich als Vor¬zeichen solcher Abweichungen identifizieren lässt. Ob dabei soziale oder biologische Normen oder statistische Mittelwerte als Richtschnur dienen, ist zunächst gleich¬gültig, entscheidend ist, dass überhaupt Normen be¬stimmt und Normalverteilungen erhoben worden sind, auf welche die vorbeugenden Interventionen dann geeicht werden. Weil aber die Normalitätsnormen selbst flexibel sind, kann die vorbeugende Anpassung nicht endgültig sein: Wer vorbeugen will, darf niemals aufhören.
Zwischen Biopolitik und Gesundheitsvorsorge
Besonders augenfällig ist die präventive Dimension biopolitischer Maßnahmen: Wie die Mechanismen der Disziplin den individuellen Körper analysieren, ihn einer Ordnung der Sichtbarkeit unterwerfen und entsprechend den Postulaten gesteigerter Nützlichkeit wie vertiefter Unterwerfung zurichten (4), so konstruieren die biopoliti¬schen Interventionen soziale Körper und wirken auf diese ein. Die Anstrengungen zur Sicherung, Verbesserung und Verlängerung des Lebens erschöpfen sich dabei nicht in Gesundheitsfürsorge und -vorsorge, sie greifen weit über den Bereich der Medizin hinaus und schließen die Steigerung materieller Wohlfahrt wie den Schutz vor phy¬sischer Gewalt ein. Die Schranke der Vorbeugung liegt wiederum in ihrer Negativität. Sie vermag das Leben nur insoweit zu fördern, als sie seine Gefährdungen mindert. Um eine diffuse, räumlich wie zeitlich weit verstreute Menge von Menschen in eine Bevölkerung zu verwandeln, die dann zum Adressaten von Kontroll- und Steuerungsmaßnahmen werden kann, bedarf es Verfahren, welche die Regelmäßigkeiten ihrer Lebensäußerungen sichtbar machen und deren Einflussfaktoren ermitteln. Selbst wo vorbeugende Interventionen beim Individuum ansetzen, bleiben sie durch ihre Orientierung an Normalwerten rückgebunden an die Gesamtpopulation, aus welcher die statistische Fiktion des Durchschnittsmenschen destilliert wurde. Die Geschichte der Prävention ist daher untrennbar verbunden mit der Geschichte der Datenerhebung und -verarbeitung, der Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Flankiert werden die Methoden der Formalisierung und Quantifizierung von qualitativ-hermeneutischen Verfahren, die subjektive Sinnwelten und Handlungsmuster ausdeuten. Verhaltensbeobachtungen, Interviews, Tagebücher oder Krankengeschichten etwa generieren ein individualisierendes Wissen, das Vorbeugung an die Fähigkeit zur Introspektion und den Aufbau von Selbststeuerungspotentialen koppelt. So bilden epidemiologische Erhebungen auf der einen, Individualdiagnostik und Case-Management auf der anderen Seite die beiden unverzichtbaren Säulen der Gesundheitsvorsorge.
New Prudentialism
Ihre Legitimation bezieht Prävention aus dem Versprechen, die gewünschten Effekte mit weniger Aufwand beziehungsweise mit dem gleichen Aufwand größere Effekte zu erzielen als therapeutische Maßnahmen, Sanktionierung von Abweichungen oder Schadensausgleich. Vorbeugen ist besser, nicht zuletzt weil es billiger ist. Aber auch Prävention hat ihren Preis und gerät deshalb insbesondere dort unter Beschuss, wo sie die öffentlichen Kassen belastet. In Frage steht dabei nicht die präventive Vernunft als solche, sondern wer ihr Geltung verschaffen soll. Im Zuge der gegenwärtigen Ökonomisierung des Sozialen verwandelt sich der „Vorsorgestaat“(5) zum aktivierenden Staat, der seine Bürger und Bürgerinnen aus der fürsorglichen Belagerung in die Freiheit der Selbstsorge entlässt und ihnen zumutet, ihre Lebensrisiken eigenverantwortlich zu managen. Nicht die pastorale Umsicht einer gleichermaßen behütenden wie kontrollierenden Verwaltung, sondern marktförmige Selbstregulation soll die optimale Allokation knapper Ressourcen gewährleisten und Risikominimierung mit Autonomiemaximierung verbinden. Prävention wird wichtiger denn je, aber sie wird zunehmend zur Sache der Individuen, die gehalten sind, sich selbst ökonomisch zu regieren. Aktuelle Präventionsdiskurse ersetzen die traditionellen Mechanismen des Überwachens und Strafens deshalb durch ein Regime freiwilliger Selbstkontrolle. Ohne Drohszenarien kommt indes auch der Appell an die Selbstverantwortung nicht aus: Wer es an Einsicht fehlen lässt und etwa auf Tabak oder Alkohol nicht verzichten will, wer keinen Sport treibt oder regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen versäumt, der hat auch die Folgen selbst zu tragen – sei es in Form höherer Versiche¬rungsprämien, sei es in Form von Erkran¬kungs¬wahr¬scheinlichkeit und geringerer Lebensdauer. Je dichter das Netz präventiver Kontrollmöglichkeiten, desto fahrlässiger handelt, wer sie nicht wahrnimmt. Vorbeugung avanciert zum moralischen Imperativ, dessen Unabweisbarkeit gera¬de darauf beruht, dass er nicht an hehre Ideale, sondern an das Eigeninteresse appelliert. Weil dieser Imperativ sich auf alle Lebensbereiche erstreckt, ist ihm eine ebenso universelle Schuldzuweisung eingeschrieben. Welche kleinen oder großen Katastrophen den Einzelnen auch ereilen mögen, in letzter Konsequenz sind sie stets ein Ergebnis seiner unzureichenden Sorge um sich. Dieser Schuld entgeht niemand, denn der Ausgang allen präventiven Bemühens steht immer schon fest: In the long run we are all dead. Vorbeugung gewährt allenfalls Aufschub. Vielleicht ist das der Grund für das konstitutiv schlechte Gewissen, dass Präventionisten haben – und anderen machen.
- In der Medizin wird von Primärprävention gesprochen, wenn die Inzidenzrate, das heißt die Zahl der Neuerkrankungen verringert werden soll; Sekundärprävention soll die Prävalenzrate senken, das heißt die Krankheitsdauer verkürzen und Chronifizierungsprozessen vorbeugen, Tertiärprävention schließlich soll Folgeschäden verhindern oder begrenzen. Die Unterscheidung geht zurück auf Gerald Caplan, Principles of Preventive Psychiatry, New York/London 1964
- Vgl. Niklas Luhmann, Risiko und Gefahr, in: ders.: Soziologische Auf¬klärung 5, Opladen 1990, S.131-169 und ders., Soziologie des Risikos, Berlin/New York 1991, zur Prävention insbesondere S.38-40
- Vgl. Auguste Comte, Die Soziologie, Stuttgart 1974, S.470
- Vgl. dazu umfassend Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976
- Vgl. François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M. 1993
Ulrich Bröckling studierte nach einer Ausbildung zum Heilpädagogen Soziologie, Neuere Geschichte und Philosophie und ist Professor für Ethik, Politik und Rhetorik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig.