EU: Neuartige Therapien

Gen-, Zell- und Gewebetherapie sollen künftig europaweit einheitlich geregelt werden. Zu diesem Zweck hat die Europäische Kommission Produkte und Verfahren, die weder Arzneimittel noch Medizinprodukte sind, in einem Verordnungsentwurf unter dem Begriff der "Neuartigen Therapien" zusammengefasst und sieht für diese ein zentralisiertes Zulassungsverfahren vor. Der GID hat den Entwurf, der nun dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat unterbreitet wird, einer ersten Prüfung unterzogen.

Bislang wurden Produkte und Verfahren der so genannten "regenerativen Medizin" in den einzelnen Mitgliedsstaaten unterschiedlich geregelt. Ein Beispiel: Eine Skifahrerin hat sich bei einem Sturz am Knie verletzt. Der Knorpelersatz, der zur Wiederherstellung ihres beschädigten Gelenks verwendet wird, enthält neben lebenden Zellen auch verschiedene technische Elemente. Bisher ist es so, dass die Zulassung und Qualitäts-Kontrolle eines solchen Produktes unterschiedlich sind, je nachdem, in welchem Land die Patientin sich befindet: In einigen Staaten gelten Produkte aus Ersatzgewebe als Kunstgelenke, in anderen fallen sie unter das Transplantations- oder das Arzneimittelgesetz. Die Folge: Ein Produkt oder Verfahren muss immer wieder neue Zulassungsprozeduren durchlaufen, sobald es in einem weiteren der EU-Staaten auf den Markt gebracht wird ­ eine Situation, die den Herstellern natürlich Kopfschmerzen bereitet. Da die Kosten für die Forschung noch sehr hoch und die Patientenzahlen relativ klein sind, lohnt sich die Investition in vielen Fällen nämlich erst, wenn sicher ist, dass ein Produkt in ganz Europa vermarktet werden kann. Die Industrie hat folglich bereits seit Jahren einen einheitlichen Rechtsrahmen für Zell- und Gewebeprodukte eingefordert. "Wir sind sehr erfreut über diesen Vorschlag", lobt Heidi de Wit, Vorsitzende der Arbeitsgruppe Advanced Therapies (Neuartige Therapien) bei der Lobbyvereinigung der europäischen Biotechnologieunternehmen, EuropaBio, die Kommission. Der weltweite Markt für Ersatzgewebe wird von der Medizinprodukte-Industrie auf 400 Billionen Euro geschätzt. Durch die geplante Harmonisierung, so sagt der Europäische Dachverband Eucomed voraus, würde die EU "einen großen Teil" des Kuchens abbekommen.

Neues Expertengremium

Bei soviel Lob lohnt es sich, den Vorschlag der Kommission genauer zu betrachten: Betroffen sind gen-therapeutische Produkte, somatische Zelltherapie und das so genannte Tissue-Engineering (Gewebezüchtung). Diese drei Arten "neuartiger Therapien" zeichnen sich laut Kommission durch einen "komplexen hochinnovativen Herstellungsprozess" aus, bei dem Verfahren der Medizin, Molekularbiologie und Werkstoffkunde miteinander kombiniert werden. Dadurch mangele es "an regulierungstechnischem und wissenschaftlichem Fachwissen zur Beurteilung" dieser Therapien. Ein neuer Ausschuss für neuartige Therapien (Committee for Advanced Therapies, CAT) soll deshalb bei der europäischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte EMEA gegründet werden, der "das beste in der Gemeinschaft vorhandene Fachwissen über Arzneimittel für neuartige Therapien in sich vereinen soll." Im Klartext könnte dies bedeuten, dass die Entwickler und Hersteller über die Bedenklichkeit und Wirksamkeit ihrer Therapien und Produkte selbst urteilen.

Mehr Deregulierung?

Der Verdacht liegt nahe, dass die geplante Verordnung tatsächlich zu einem Weniger an Regulierung führen könnte. Verwunderung löst beispielsweise aus, dass die Kommission beabsichtigt, Gen- und Zelltherapien neu zu regeln, denn für diese ist eigentlich die Arzneimittelrichtlinie zuständig. Werden diese Therapieformen unter die neue Kategorie gefasst, so würde dies eine Änderung der Zulassungskriterien nach sich ziehen: Arzneimittel für neuartige Therapien könnten nicht "denselben technischen Anforderungen unterliegen wie "konventionelle" Arzneimittel, betonen die Kommissare. Wie solche Anforderungen aussehen könnten, bleibt freilich völlig unklar. Die Kommission wird sogar dazu ermächtigt, "gegebenenfalls erforderliche Änderungen in Bezug auf die technischen Anforderungen an Zulassungsanträge für Arzneimittel für neuartige Therapien, die Zusammenfassung der Produktmerkmale, die Etikettierung und die Packungsbeilage vorzunehmen". Sprich: Wenn sich die Technik ändert, kann sich auch die Qualitätskontrolle ändern.

Stammzellforschung durch die Hintertür?

Als seien diese Probleme nicht genug: Nach Ansicht von Beobachtern könnte die Verordnung außerdem die Einführung ethisch umstrittener Therapieformen begünstigen. Die Europaabgeordnete Hiltrud Breyer MdEP (Bündnis 90/Die Grünen) warnt vor einer "Anerkennung embryonaler Stammzelltherapie durch die "Hintertür"".(1) Denn würden Produkte aus humanen embryonalen Stammzellen erst einmal für den europäischen Binnenmarkt zugelassen, dann haben die Mitgliedsstaaten über die EMEA gewissermaßen an diesem Zulassungsverfahren mitgewirkt. Deutschland müsste dann, was schwierig wäre, "extra ein Gesetz erlassen, dass besagt, dass die Zulassung hierzulande eben doch nicht gilt."(2) Breyer und der Christdemokrat Peter Liese (EVP-ED) fordern daher, ethisch umstrittene Therapieformen aus der Verordnung auszuschließen. Doch wo fangen ethisch umstrittene Therapien an? Beim Dissens zwischen einem oder mehreren Staaten? Was ist mit neuen Therapieformen, deren ethische Brisanz zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgesehen werden kann? Im Europäischen Parlament, wo die Verordnung als nächstes beraten werden muss, werden diese Fragen für einigen Diskussionsstoff sorgen. Auch Abgeordneter Liese, der den Vorschlag der Kommission insgesamt "begrüßt", betont, dass "selbstverständlich am Text noch einiges geändert werden muss". Es ist offensichtlich, sagt Liese, "dass einige Scharniere fehlen". Schließlich müsse in einer solchen Verordnung auch stehen, "was nicht zugelassen wird".

Fußnoten

  1. PM Hiltrud Breyer, Geplante Verordnung birgt Gefahr der Anerkennung embryonaler Stammzelltherapie durch die "Hintertür", 19.05.2005
  2. Vortrag des EU-Abgeordneten Peter Liese am 04.02.2005 in Bonn
Erschienen in
GID-Ausgabe
174
vom Februar 2006
Seite 48 - 49

Monika Feuerlein ist freie Journalistin und arbeitete mehrere Jahre lang als Redakteurin für den Gen-ethischen Informationsdienst (GID).

zur Artikelübersicht

Stichwort: EU-Kommission

Die EU-Kommission ist die Exekutive, also die ausführende Gewalt der Europäischen Union. Jeder der Mitgliedsstaaten entsendet einen Kommissar beziehungsweise eine Kommissarin. Die Kommission hat das Initiativrecht, das heißt, sie schlägt Gesetzestexte vor, die dem Rat und/oder dem Europäischen Parlament unterbreitet werden. Unterschieden werden Richtlinien, die per Gesetz in nationales Recht umgesetzt werden (zum Beispiel die Biopatentrichtlinie der Europäischen Union), und Verordnungen, die bei Verabschiedung unmittelbar gültiges Gesetz für alle Mitgliedsstaaten werden. Die Verordnung für neuartige Therapien wird im Mitentscheidungsverfahren entschieden, das heißt, dass nicht nur der Rat, sondern auch das Parlament beteiligt werden. (mf)