Maskiertes Geschäftsfeld

Der Göttinger Organspendeskandal hat System

Der Göttinger Bestechungsskandal macht einmal mehr die Anfälligkeit der Transplantationsmedizin für Korruption deutlich. Zugleich zeigt die öffentliche Aufregung über den Fall, wie fragil das System der Organspende ist und wie sehr sein Funktionieren davon abhängt, dass dem Versprechen eines gleichen Zugangs für alle vertraut werden kann. Warum Bestechung und Vorteilsnahme auf diesem Feld besonders schwer wiegen und zugleich kaum wegzudenken sind.

Das Prinzip der Nachhaltigkeit hat in den vergangenen Jahrzehnten in der gesellschaftlichen Werteskala eine steile Karriere gemacht. Die politisch und pädagogisch mobilisierte Vernunft hält uns an, beim Verbrauch von Ressourcen an die nächsten Generationen zu denken, sparsam zu sein und auf Wiederverwendung zu achten mit dem, was uns die Natur bereitstellt. Das ist ja durchaus vernünftig. Doch in der Bereitschaft zu recyceln machen wir auch vor unserem eigentlich unteilbaren Selbst nicht Halt: Wo es möglich ist, Teile des Menschen zum Nutzen anderer einzusetzen, scheint es verschwenderisch und geradezu obszön, die in der Körperhülle enthaltenen Organschätze dem Feuer oder der Erde zu überlassen. Der Organspende-Gedanke ist aus diesem Geist der Wiederverwertbarkeit geboren. Die Idee, andere Menschen mit Teilen eines Hirntoten weiterleben zu lassen, besticht auch deshalb, weil sie Nützlichkeitserwägungen mit der christlichen Vorstellung von Nächstenliebe verbindet. Außerdem kommt sie dem menschlichen Bedürfnis entgegen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Nur aufgrund dieses komplizierten Motivbündels - Ressourcenausschöpfung, Dienstgedanke und Todesüberwindung - können Menschen überhaupt aufgerufen werden, ihre Organe zu spenden. Dabei rechnet jeder Spender grundsätzlich mit einem Gabentausch: Sollte er selbst ein Organ benötigen, will er es unter den gesellschaftlich akzeptierten Bedingungen auch erhalten. Dieses Prinzip des Gabentausches wird mit jeder Unregelmäßigkeit im ohnehin fragilen Transplantationssystem außer Kraft gesetzt. Allein der Verdacht, man könnte auf der Warteliste schlechter platziert werden, weil man vielleicht raucht oder der behandelnde Arzt einem nicht zutraut, nach einer Transplantation aktiv zur Gesundung beizutragen, schürt schon Misstrauen. Transplantation ist ein System blinden Vertrauens: Spender und Empfänger setzen darauf, dass die raren Organe nach streng medizinischen Kriterien und ungeachtet anderer Einflüsse vergeben werden und dass dabei nicht manipuliert wird. Das Unvorstellbare, dass ein Arzt sich persönlich bereichern könnte, indem er Organe an Patienten außer der Reihe „verschiebt“, kompromittiert das gesamte System. Deshalb ist der - übrigens schon seit längerem bekannte - Göttinger Fall (vgl. Kasten auf Seite 40), bei dem ein Chirurg Patientendaten gezielt gefälscht und auf diese Weise die Warteliste manipuliert haben soll, so spektakulär. Die heilende Hand des Arztes wird, um mit Hans Jonas zu sprechen, zur potenziell henkenden für den leer ausgehenden Patienten auf dieser Liste. Auch der Hinweis, es handele sich nur um einen Einzelfall, um ein schwarzes Schaf inmitten einer unschuldig weißen Herde, wirkt überhaupt nicht beruhigend. Hans Lilie, der der Transplantationskommission bei der Bundesärztekammer vorsteht, berichtet 2009 von 93 „auffälligen und klärungsbedürftigen Vorgängen“ und stellt fest, dass „die Verstöße gegen das Transplantationsgesetz an Schwere zugenommen haben“. Er bemängelt außerdem die unzureichenden Befugnisse der Überwachungskommission und fordert, die „gravierenden Lücken“ im Gesetz zu schließen. Diese Kontrolllücken haben mit dem Göttinger Fall eine neue Qualität erreicht: Denn wenn es so einfach ist, Daten zu manipulieren, dann müssen sich Spender und Empfänger fragen, wie oft und unbemerkt das im Klinikalltag passiert. Solche Überlegungen lassen allerdings außer Acht, dass es bei der medizinischen Beurteilung von Patienten Objektivität ohnehin nicht gibt. Das lässt sich zeigen an den anerkannten, aber sich widersprechenden Prioritäten wie „Dringlichkeit“ und „Erfolgsprognose“: Es ist leicht ersichtlich, dass ein sehr schwer kranker Mensch weit weniger Überlebenschancen hat als ein weniger kranker. Gar nicht zu reden von der Benachteilung, die Patienten mit seltenen Gewebetypen oder ethnische Minderheiten erfahren. Und aus der soziologischen Transplantationsforschung weiß man, dass soziale Kriterien oft als medizinisch „maskiert“ werden. Um das Ansehen des deutschen Transplantationssystems ist es nach den Skandalen um die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO), der unter anderem Vetternwirtschaft vorgeworfen wird, ohnehin nicht gut bestellt. Die Göttinger Vorfälle heben einmal mehr ins Bewusstsein, dass ein Geschäftsfeld, in dem es um sehr viel Geld geht, anfällig ist für Korruption. Ob die angekündigten Kontrollen und das „Zwei-Augen-Prinzip“ hier Abhilfe schaffen? Das muss man bezweifeln. Der Aufruhr könnte aber dazu führen, dass sich eine ohnehin beginnende Entwicklung beschleunigt: Transplantationen sollten auf wenige große Zentren begrenzt bleiben. Und man darf gespannt sein, wie lange die DSO noch Herrin über die Organe bleibt. Aufgeschreckt reagiert Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), der den Erfolg des gerade in Kraft getretenen reformierten Transplantationsgesetzes gefährdet sieht. Allseits ist man um Schadensbegrenzung bemüht, indem man die „Verbrecher“ anprangert. Doch wäre der Göttinger Fall ein geeigneter Anlass, über die systemischen und ethischen Grundlagen des ganzen Transplantationssystems noch einmal nachzudenken - und über seine Grenzen.

Erschienen in
GID-Ausgabe
213
vom September 2012
Seite 39 - 40

Ulrike Baureithel ist freie Journalistin und Lehrbeauftragte an der HU Berlin. Sie arbeitet seit 1990 unter anderem im Bereich Bioethik und Reproduktionstechnologie.

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Der Göttinger Transplantationsskandal

Am Göttinger Universitätsklinikum wurden PatientInnen kränker gemacht, als sie eigentlich waren, um ihnen schneller zu einer Lebertransplantation zu verhelfen. In den bisher nachgewiesenen 25 Fällen in den Jahren 2010 und 2011 fälschte der Leiter der Transplantationsmedizin vor der Meldung an die Stiftung Eurotransplant, die die sogenannten Wartelisten führt, wiederholt Nierenfunktionswerte und gab Dialysebehandlungen an, die nie stattgefunden hatten. Damit galten die Patienten als zusätzlich nierenkrank und rückten auf der Eurotransplant-Warteliste für eine Leber nach oben. Vermutlich waren aber noch mehr Mediziner an dem Vorgehen beteiligt, und es wird befürchtet, dass weitere Manipulationen entdeckt werden. Bezeichnend ist, dass das Vorgehen erst Ende 2011 zu Reaktionen seitens der Leitung der Uniklinik führte - und auch erst, nachdem die DSO anonym auf Unregelmäßigkeiten in der Göttinger Transplantationschirurgie hingewiesen worden war und in Göttingen nachgefragt hatte. Dass die Zahl der jährlichen Lebertransplantationen sprunghaft anstieg, nachdem im Herbst 2008 der Leitungsposten der Abteilung neu besetzt worden war (1), hatte die Klinikleitung bis dahin stillschweigend hingenommen - wenig verwunderlich angesichts der Einkünfte pro Transplantation (siehe dazu auch den Artikel von Richard Fuchs auf Seite 41 in diesem Heft). Erst 2011 sank die jährliche Zahl der Eingriffe wieder - in diesem Jahr kamen allerdings nach Auskunft des Kliniksprechers Stefan Weller auch die in der Göttinger Klinik üblichen Zulagen für die Mediziner, die die Transplantationen vornahmen, „nicht zum Tragen“. Zwar betont die Klinikumsleitung, es seien zu keiner Zeit Vorgaben bezüglich der Zahl der Transplantationen gemacht worden, dennoch bietet nach den bisherigen Ermittlungen das Göttinger Zulagensystem durchaus eine Erklärung für den Skandal. Denn Bestechungen konnten bislang nicht nachgewiesen werden - weder von der Untersuchungskommission, die vom Klinikum Ende vergangenen Jahres eingesetzt worden war, noch von der kurz darauf eingeschalteten Braunschweiger Staatsanwaltschaft oder der sie bei den Ermittlungen unterstützenden Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer. Lediglich ein Hinweis auf eine direkte Geldzahlung eines Patienten an einen Mediziner hat bisher zu einer Strafanzeige wegen des Verdachts auf Organhandel geführt. Als Reaktion auf das Bekanntwerden der Göttinger Meldepraxis hat die Klinikleitung mit sofortiger Wirkung alle finanziellen Anreize für MedizinerInnen, die Zahl der Transplantationen zu erhöhe, abgeschafft. Außerdem wurde das so genannte „Vier-Augen-Prinzip“ eingeführt: Seit dem 1. April muss ein zweiter Arzt, der nicht in der Transplationschirurgie arbeitet, die für die Meldung an Eurotransplant vorgesehenen medizinischen Daten eines Patienten auf ihre Plausibilität hin prüfen. Außerdem werden diese nicht mehr direkt von einem Transplantationsmediziner in die Niederlande übermittelt, sondern vom leitenden Transplantationskoordinator der Göttinger Universitätsmedizin. Ob diese Maßnahmen ausreichen, um künftig Manipulationen zu vermeiden?
(Uta Wagenmann)
Fußnote: (1) 2007 wurde am Göttinger Uni-Klinikum 26 Patienten eine Leber transplantiert, 2009 waren es dann bereits 55 und 2010 58 Transplantationen.
Quellen: SZ, 20.07.12; Ärzte Zeitung, 23.07.12.