Charakterisierung von Biobanken im Hinblick auf Gesundheitspolitik und Medizin

Die Entstehung weit verbreiteter, komplexer Erkrankungen wird heute auf ein Zusammenspiel genetischer Dispositionen mit Umwelteinflüssen und Lebensgewohnheiten zurückgeführt.

Der derzeit dominante Ansatz in der Forschung nach Krankheitsursachen, die genetische Epidemiologie, ist auf umfangreiche Proben und Datensammlungen angewiesen, um mittels Korrelation beziehungsweise Assoziation Genvarianten mit diesen Erkrankungen statistisch signifikant in Verbindung bringen zu können. Funktion und Bedeutung von Genvarianten ebenso wie molekulare Pathways bei der Entstehung komplexer Erkrankungen werden dabei zumeist erst in Ansätzen verstanden. Die Forschung mit Biobanken hat daher den Charakter von Grundlagenforschung.
Der Umfang der Sammlungen tendiert systematisch zur Ausweitung: Aufgrund der Komplexität weit verbreiteter Erkrankungen wächst die benötigte Anzahl an Proben und Daten in dem Maße, in dem genetische zu anderen Krankheitsrisiken in Beziehung gesetzt und statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen Interaktionen von Genen und Umwelteinflüssen mit Erkrankungshäufigkeiten hergestellt werden sollen.
Grundsätzliche Zweifel an der zentralen Ausrichtung der medizinischen Forschung auf die genetische Epidemiologie sind angebracht, weil die Entstehung weit verbreiteter Krankheiten sich durch ein dynamisches Wechselspiel zwischen sehr unterschiedlichen Einflüssen und Bedingungen auszeichnet. Es ist fraglich, ob mit der Assoziation von Genvarianten, Interaktionen zwischen Genen oder zwischen Genen und Umwelteinflüssen mit Krankheit ein probater Weg gefunden ist, diese Erkrankungen in ihrem komplexen Entstehungs- und Wirkungsgefüge zu verstehen. Der Ansatz reduziert das komplexe Krankheitsgeschehen auf ein Zusammenspiel statistisch operationalisierbarer Faktoren und ist deshalb wenig geeignet, der sozialen, psychischen und personalen Wirklichkeit von Krankheit gerecht zu werden.
Da es sich um Grundlagenforschung handelt, kann die Bedeutung der genetischen Epidemiologie für die Medizin nicht abschließend bewertet werden. Der praktische Wert der Forschungsergebnisse für eine bessere Behandlung und Versorgung von Patienten ist bisher allerdings gering geblieben. Weil Nebenwirkungen von Medikamenten nicht allein von genetischen Faktoren abhängen, stehen nur wenige phar-makogenetische Tests vor der klinischen Anwendung. Selten konnten bisher auch Medikamente auf der Basis genetisch-epidemiologischer Studien entwickelt werden. Sie wirken nur bei einem sehr kleinen Teil der jeweiligen Patientengruppe, weil Zielmoleküle für neuartige Wirkstoffe vor allem bei sehr seltenen Formen einiger weit verbreiteter Erkrankungen gefunden wurden, bei denen molekulare Besonderheiten eine wesentliche Rolle spielen. Ob umfangreiche Biobanken für diese Forschungen unerlässlich sind, kann solange nicht beantwortet werden, wie andere Ansätze zur Entdeckung molekularer Targets nicht realisiert werden.
Ergebnisse aus der Forschung mit Biobanken finden vor allem in Form von Aussagen über Erkrankungsrisiken und –wahrscheinlichkeiten Eingang in die medizinische Praxis. Im Gegensatz zu den Aussagen der klassischen Epidemiologie quantifizieren genetische Tests die individuelle Wahrscheinlichkeit zu erkranken. Solche individuellen Risikoberechnungen haben weder positive Effekte auf die Behandlung und Versorgung von Patienten, noch verbessern sie die Lebenswirklichkeit gesun-der Menschen substanziell.
Dem geringen praktischen Nutzen der genetisch-epidemiologischen Forschung steht eine Forschungspolitik gegenüber, die Aufbau und Betrieb von Biobanken großzügig fördert. Wirtschafts- und strukturpolitische Zielsetzungen stehen dabei im Vordergrund. Die Umsetzung der Strategie der „wissensbasierten Gesellschaft“ in die Förderpolitik überführt biomedizinische Grundlagenforschung in marktförmige Strukturen. Biobanken sind dabei Ausgangspunkt und Instrument eines Prozesses, der auf die Entfaltung ökonomischer Potenziale der Forschung gerichtet ist. Sie bieten nicht nur die notwendige Infrastruktur für die Assoziation von Genvarianten mit komplexen Erkrankungen, sondern fungieren auch als Basis für unternehmerische Aktivitäten der sie tragenden Forschungsverbünde und -institutionen und als Reservoir für verwertbare Ergebnisse. Dass diese Ergebnisse vor allem in Wahrschein-lichkeitsaussagen über individuelle genetische Erkrankungsrisiken bestehen, ist dem Ansatz der genetischen Epidemiologie inhärent. Ihre praktische Umsetzung in Form genetischer Tests wird mit den durch die Förderpolitik entstehenden Forschungsstrukturen befördert und beschleunigt.
Hinzu kommen die gesundheitsökonomischen Potenziale der Forschung an geneti-schen Dispositionen für weit verbreitete Erkrankungen. Das Konzept der genetischen Risikoprävention hat die Macht eines Leitbildes entwickelt, dessen Wirkungen zum Teil über die Medizin hinaus reichen. Neben der Entwicklung gesundheitspolitischer Strategien wie der frühzeitigen Feststellung individueller genetischer Risiken und einer darauf abgestimmten Prävention generiert dieses Leitbild auch sozialethische Vorstellungen, die Grundlagen von Gesellschaft wie Solidarität und Autonomie in Frage stellen.
Vor dem Hintergrund des geringen praktischen Wertes der Forschung mit Bioban-ken und den weit reichenden sozialen und gesellschaftlichen Implikationen individueller Risikoberechnungen sind Aufbau und Betrieb von Biobanken gründlich zu überdenken. Eine offene und ernsthafte gesellschaftliche Diskussion der verfolgten wissenschaftlichen Zielsetzungen, des medizinischen Wertes der zu erwartenden Ergebnisse und deren Verbindung mit wirtschafts- und gesundheitspolitischen Ziel-setzungen ist deshalb dringend geboten.
(Das Gutachten im Rahmen des Projektes "Biobanken für die humanmedizinische Forschung und Anwendung" des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag - TAB - wurde für das Gen-ethische Netzwerk erstellt von Uta Wagenmann. November 2005.)
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Der gesamte TAB-Arbeitsbericht Nr. 112 "Biobanken für die humanmedizinische Forschung und Anwendung" ist kostenlos aus dem Netz zu laden unter http://www.bundestag.de/bic/a_prot/2007/ap16118.html (Tagesordnungspunkt 34 m)
Direkter Link: TAB-Arbeitsbericht (1,1 MB)
Die Zusammenfassung des TAB-Arbeitsberichtes unter http://www.tab.fzk.de/de/projekt/zusammenfassung/ab112.htm
Biobanken sind wissenschaftlich angelegte Sammlungen von Proben menschlicher Körpersubstanzen (Gewebe, Zellen, Blut u.a.m.) sowie von DNA, die für die biomedizinische Forschung eingerichtet bzw. verwendet werden. Mit den Proben gemeinsam oder von ihnen getrennt werden oftmals Daten aufbewahrt, die Informationen über den Spender (familiäre bzw. demografische Daten, lebensstilbezogene Informationen, Krankheitstyp und Krankheitsverläufe, aber auch genetische Daten) enthalten. Durch die zunehmende Orientierung der medizinischen Forschung bei der Ursachensuche von Erkrankungen auf die molekulare und genetische Ebene entstand ein neuer Typ von Proben- und Datenbanken, der etwa seit Mitte der 1990er Jahre eben mit der – eher unspezifischen – Bezeichnung »Biobanken« versehen wurde. Die Besonderheit der Biobanken besteht in dem Doppelcharakter: Probensammlungen erlangen ihre Bedeutung eben durch die Zusammenführung mit Daten und Informationen. Ein wesentlicher Aspekt ist auch die umfangreiche und schnelle elektronische Verarbeitung der Daten und Informationen.
Das Buch:
Christoph Revermann, Arnold Sauter: "Biobanken als Ressource der Humanmedizin - Bedeutung, Nutzen, Rahmenbedingungen", edition sigma, Berlin, 2007, ISBN 978-3-8360-8123-8, Studien des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag, Bd. 23 (zugleich TAB-Arbeitsbericht Nr. 112 "Biobanken für die humanmedizinische Forschung und Anwendung")

4. Januar 2006

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