Lange Hälse und gelbe Mäuse

Erworbene Eigenschaftlich sind nicht erblich, sagt die klassische Lehre. Neue Forschungen kratzen an diesem Dogma.

In einem Labor von Randy Jirtle an der Duke University (USA) tummeln sich viele Mäuse mit unterschiedlicher Fellfarbe. Einige sind fast gelb, andere ockerfarben bis hin zu einem dunkeln Braun. Diese Farben sind nicht zufälliges Resultat, sondern das Ergebnis einer speziellen Diät ihrer Mütter. Eine Gruppe Mäusemütter erhielt zur normalen Kost eine Zusatzdiät von Folsäure und Vitamin B-12, eine zweite Gruppe erhielt nur normale Kost. Die Nachkommen der ersten Gruppe waren meistens dunkelbraun, die Nachkommen der zweiten Gruppe viel häufiger gelblich bis ockerfarben. Offenbar hat sich die Diät direkt auf die Vererbung ausgewirkt - ein erstaunliches Resultat. "Du bist, was deine Mutter gegessen hat", kommentierte der New Scientist.(1) Damit bricht ein alter Streit wieder los, der Anfang des 19. Jahrhunderts begann: Damals postulierte der französische Biologe Jean Baptiste Lamarck, dass erworbene Eigenschaften auf die Nachkommen weitervererbt werden können. Das führe zu immer neuen Arten. Das klassische Beispiel: Ein Säugetier, das sich vorwiegend von Blättern ernährt hatte, musste seinen Hals immerzu strecken. Daraus entstand die Giraffe. Danach brachten Gregor Mendels Vererbungsregeln Lamarcks Konzept zum Fall: Einzig die Gene, und nicht etwa äussere Einflüsse, seien für die Vererbung maßgeblich. Die Evolution - so schreibt Charles Darwin etwas später - sei das Resultat natürlicher Selektionen rein zufälliger Mutationen. Wenn also ein Säugetier per Zufall mit einem längeren Hals auf die Welt kam, hatte dieses Tier im Konkurrenzkampf ums Überleben eine bessere Chance und konnte sich besser fortpflanzen. Daraus entstand als Zufallsprodukt die Giraffe. Im Grundprinzip gelten Darwins Evolutionstheorie und Mendels Vererbungsdoktrin noch heute für viele. Forscher, die sich als Lamarckisten outeten, wurden belächelt. Einer davon war Paul Kammerer. Er hatte um 1920 Geburtshelferkröten beobachtet, die sich entgegen ihrem üblichen Verhalten im Wasser fortpflanzen mussten. Mit der Zeit bildeten die Männchen Brunstschwielen aus. Diese daumenartigen Schwielen an den Vorderbeinen gaben den Männchen offenbar besseren Halt während der Begattung. Brunstschwielen traten auch dann in den Folgegenerationen auf, wenn diese sich wieder auf dem Lande fortpflanzten. Sie erschienen genetisch fixiert. Oder der mysteriöse "Grossmuttereffekt": In Holland brachten Frauen, die in der Nachkriegszeit an Hunger litten, kleinere Babys zur Welt. Merkwürdig war, dass diese Kinder ihrerseits kleinere Kinder gebaren - so als würde der Einfluss der Hungerzeit auf spätere Generationen weitervererbt.

Dynamisch-epigenetische Netzwerke

Inzwischen ist Lamarck etwas rehabilitiert. In der wissenschaftlichen Gemeinde wächst die Einsicht, dass Gene nicht alleine verantwortlich sind für die Vererbung. Sie werden von einem zweiten Informationssystem reguliert, das ihnen sagt, wann und wie sie aktiv werden sollen und wann nicht. Mit diesem Informationssystem beschäftigt sich die Epigenetik. Einige Wissenschaftler haben die DNA als "Buch des Lebens" bezeichnet, doch viele andere Biologen betrachten heute die DNA einfach als eine zufällige Sammlung von Worten, aus denen eine bedeutungsvolle Geschichte des Lebens geschrieben werden kann. Um diese Geschichte zu schreiben, gebraucht eine lebende Zelle ein zweites Informationssystem. Es ist "dynamisch", weil es Veränderungen in Produkten über die Zeit reguliert, und es ist "epigenetisch", weil es in Bezug auf den Organisationsgrad über der Ebene der Gene liegt. Das Schlüsselkonzept ist hier, dass diese dynamisch-epigenetischen Netzwerke ein Leben für sich haben - sie folgen Netzwerkregeln, die nicht durch die DNA spezifiziert sind. „Und wir verstehen diese Regeln nicht sehr gut," sagt Richard Strohmann, emeritierter Professor der University of California und einer der geistigen Väter der Epigenetik.(2) Im Falle der gelben und dunkelbraunen Mäusekinder vermuten die Forscher, dass die Diät der trächtigen Mütter bei den Eizellen und frühen Embryonen das sogenannte Aguti-Gen beeinflusst hat. Dieses Gen ist für die Fellfarbe mitverantwortlich. Offenbar haben sich durch den Zusatz von Extrastoffen vermehrt chemische Methylgruppen an das Aguti-Gen angehängt und das Gen auf diese Weise stillgelegt. Ein "abgeschaltetes" Aguti-Gen führt zu dunkelbraunen Mäusekindern.

„Springende Gene“

Doch wie kommen die Methylgruppen, die in den Zusatzdiät reichlich vorhanden sind, an das Aguti-Gen? Wie also kann sich eine Diät direkt auf ein Gen auswirken? Da gibt es erst Vermutungen: Ein Modell besagt, dass Gen-Methylierungen zum Teil durch "springende Gene", sogenannte Transposons, bestimmt werden. Transposons sind mobile Gen-Sequenzen, die im ganzen Erbgut verteilt sind. Sie machen beim Menschen etwa 30 Prozent des Erbguts aus. Die meisten Transposons sind ihrerseits durch Methylierungen stillgelegt; einige jedoch sind metastabil (nicht ganz stabil) und diese metastabilen Transposons könnten auf Diät oder Umweltstress reagieren. Sie könnten dann Methylmarker an Gene anhängen oder entfernen, und dieses geänderte Methylierungsmuster könnte auch an die Nachkommen weiterverebt werden. Der Versuch mit den farbigen Mäusen zeigt noch eine andere interessante Tatsache: Die dunkelbraunen Mäusekinder waren meistens schlank und gesund, die gelbfarbenen hingegen dick und Diabetes-gefährdet. Offenbar ist das Aguti-Gen nicht nur für die Fellfarbe entscheidend, sondern es beeinflusst auch die Veranlagung zu Fettsucht, Diabetes und Krebs. Dieses eine Gen hat also viele Funktionen und codiert für viele Proteine. Auch das widerspricht der alten Gendoktrin, die davon ausging, dass ein Gen immer nur für ein einziges Protein codiert. Dass dies nicht stimmen kann, ist eigentlich logisch, denn es gibt mindestens 100mal mehr Proteine als Gene. Das Schlüsselwort heisst auch hier Epigenetik: Enzyme des epigenetischen Systems können Gene in Teilsequenzen aufsplitten und neu kombinieren (alternative splicing), um eine grosse Anzahl verschiedener Proteine zu codieren, so wie wir aus dem englischen Wort TIME die Wörter ITEM, MITE und EMIT kombinieren können. So kann ein Gen aus einer Zelle im Innenohr von Hühnern 576 verschiedene Proteine produzieren. Der bisherige Rekord hält eine Gen der Fruchtfliege, das bis zu 38.000 verschiedene Proteinvarianten erzeugen kann.

Ein neues Bild der Zelle

Diät kann direkt auf Gene wirken und ein Gen kann für hunderte oder tausende unterschiedlichen Proteine codieren - das Bild der Zelle, das sich hier auftut, hat nichts, aber auch gar nichts mehr gemeinsam mit der ursprünglichen Gen-Doktrin. Das ist für die meisten WissenschaftlerInnen keine Neuigkeit - und trotzdem erscheinen laufend neue Meldungen über angebliche Gendefekte, immer noch so, als würden alle Informationen in den Genen liegen und als würden wir von den Genen determiniert. Allein in den letzten Monaten waren dies: ein Gen für Sprinter und Supersportler, ein Gen für Leseschwäche, ein Gen für Arterienverkalkung oder ein Gen für Epilepsie... Das neue Bild einer Zelle jedoch ist höchst faszinierend: eine dynamische und vernetzte Einheit, die Wechsel in der Zellumgebung "spürt", diese Signale interpretiert und dann angemessene Antworten geben kann. Die Epigenese ermöglicht dabei die Verbindung zwischen der Umwelt und dem Genom. "Doch das ist nicht die einzige Ebene der epigenetischen Regulation.", sagt Richard Strohmann. "Denn wir müssen uns fragen: Was kontrolliert die Kontrolle der Genregulation? Und was kontrolliert die Kontrolle der Kontrolle? Es ist dies eine Art unendlicher Regress, und die Antwort, auf die wir uns im Moment einigen können , heisst: die Zelle. Doch was kontrolliert die Zelle? Und so weiter. Da spielen auch Grenzbedingungen eine wichtige Rolle."(2)

Klonen, Retortenbabys und „frozen embryos“

Die geklonten Mäuse von Wolf Reiks Labor waren immer sehr klein und sie paarten sich kaum noch. Deren Mäusekinder waren ebenfalls zu klein, und sie waren ebenfalls Sexmuffel. Vor fünf Jahren war das. Reik fand zwei Gene, die nach dem Klonen "abgeschaltet" blieben, auch bei den nachfolgenden Generationen. So, als würden sich die Gene an den durch das Klonen verursachten Brachialeingriff auf Zellebene "erinnern".(3) Inzwischen musste das Klonschaf Dolly eingeschläfert werden, und die meisten Klonexperimente erwiesen sich als Fehlschläge - aus epigenetischen Gründen, wie heute angenommen wird. Epigenetische Ereignisse könnten auch einen Schatten auf die künstliche Befruchtung werfen, vor allem, wenn die Embryos nachher tiefgefroren werden, um sie später einmal aufzutauen und für eine Schwangerschaft einzusetzen. Wie das englische Institut ISIS (Institute of Science in Society) berichtetet,(4) sind in den letzten zwei Jahren etliche alarmierende Studien erschienen. So berichten gleich drei im Jahr 2003 erschienene Studien, dass die Krankheit Beckwith Widemann Syndrom (BWS) viel häufiger bei Retortenbabies vorkommt als bei normal gezeugten. PatientInnen mit BWS haben eine Unregelmässigkeit auf Chromosom 11; sie leiden an übergroßen Organen, Bauchdeckendefekten und einem erhöhten Tumorrisiko. Auch das Angelman Syndrom (schwere mentale Zurückgebliebenheit, motorische Schwierigkeiten), kommt besonders häufig bei Retortenbabies vor. Bei beiden Krankheiten besteht der Verdacht, dass die Stresssituation, denen Keimzellen während der Befruchtung im Reagenzglas ausgesetzt sind, die Aktivität einzelner Gene verändert hat. Auch andere seltene Krankheiten wurden vermehrt bei künstlichen Befruchtungen nachgewiesen. Eine im November 2003 erschienene Studie legt nahe, dass das Einfrieren von Embryonen nochmals zusätzliche Risiken birgt. David Keefe und sein Team von der Brown University (Providence, USA) verglichen 2452 Schwangerschaften mit "frischen" Retortenembryonen mit 392 Schwangerschaften, bei denen einstmals tiefgefrorene Embryonen verwendet wurden. Das Risiko einer Eileiterschwangerschaft war bei den „frozen embryos“ 17 mal grösser (1,8 Prozent bei der ersten Gruppe und 31,8 Prozent bei der zweiten Gruppe). Für Embryo und Mutter sind solche Eileiterschwangerschaften gefährlich, da der Embryo im Eileiter stecken bleiben kann, wenn dies nicht früh genug entdeckt wird. David Keefe war überrascht: "Eine so hohe Rate haben wir nicht erwartet." Möglicherweise hat der Auftauprozess die Embryonalentwicklung unterbrochen, möglicherweise spielt auch hier die Epigenetik eine Rolle. In den USA sind inzwischen 250.000 Kinder geboren worden, die ihr Leben als „frozen embryo“ begannen.

Fußnoten: (1) New Scientist 9.8.2003, 179, p.14 (2) Richard Strohmann, California monthly, April 2001, A new paradigm for Life, Beyond genetic determinism (3) WOZ3, 1998 (4) ISIS Press Release 3.11.03 www.i-sis.org.uk/wwwART.php

Erschienen in
GID-Ausgabe
162
vom Februar 2004
Seite 34 - 36

Florianne Koechlin ist Geschäftsführerin des Blauen-Instituts (www.blauen-institut.ch).

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