Lizenz unter Zwang

Regierungen des Südens sichern Zugang zu günstigen Medikamenten

Im letzten Jahr machten gleich mehrere Länder des Südens von ihrem Recht Gebrauch, günstigere Nachahmermedikamente von lokalen Herstellern produzieren zu lassen oder zu importieren. Pharmaunternehmen befürchten den Verlust von Marktanteilen und kämpfen mit harten Bandagen – unterstützt von einigen einflussreichen Regierungen des Nordens.

Es ist wie ein Lehrstück aus der Werkzeugkiste der Diplomatie: Innerhalb eines Zeitraums von zehn Tagen erhielt die thailändische Regierung im vergangenen Juli je einen Brief vom europäischen Handelskommissar Peter Mandelson und vom US-amerikanischen Botschafter in Thailand Ralph Boyce. Zwei wichtige Handelspartner des südostasiatischen Landes hatten sich augenscheinlich abgesprochen. Nur – besonders diplomatisch war der Ton dieser Briefe nicht. Vielmehr wurde die thailändische Regierung darin vor ihrem eigenen Vorgehen gewarnt, Zwangslizenzen für lebenswichtige Medikamente zu erteilen. Sie würde der Entwicklung neuer Arzneimittel schaden, indem sie das Hauptinstrument zur Förderung von Innovation aushebele: geistige Eigentumsrechte in Form von Patenten. Bevor die Regierung zu solch „außerordentlichen“ Maßnahmen greife, solle sie lieber mit den Patentinhabern über einen angemessenen Preis für die entsprechende Arznei verhandeln.

Zwangslizenzen: Eine Ausnahmeregelung

Zwangslizenzen ermöglichen es einer Regierung, im Falle eines Gesundheitsnotstands oder für die nicht-gewerbliche Nutzung in öffentlichen Gesundheitsprogrammen die Produktion von günstigeren Nachahmerpräparaten zu genehmigen. Die Zwangslizenz ist eine der wichtigsten Ausnahmeregelungen des Abkommens über handelsbezogene geistige Eigentumsrechte (TRIPS) der Welthandelsorganisation (WTO), die zur Anwendung kommen dürfen, um die öffentliche Gesundheitsfürsorge sicherzustellen. Nachdem 1998 eine hochumstrittene Klage von 41 Pharmaunternehmen gegen die südafrikanische Regierung massive Proteste zivilgesellschaftlicher Organisationen und von Entwicklungsländern hinsichtlich des verteuernden Effekts von Patenten hervorgerufen hatte, bekräftigten die WTO-Mitgliedsstaaten bei der Ministerkonferenz in Doha 2001, dass „das [TRIPS]-Abkommen so interpretiert und implementiert werden kann und soll, dass es das Recht der WTO-Mitgliedsstaaten unterstützt, die öffentliche Gesundheit zu schützen und insbesondere den Zugang zu Medikamenten für alle zu befördern“. Die Doha-Erklärung über das TRIPS-Abkommen und die öffentliche Gesundheit wird nicht nur gern von EU-Kommissar Mandelson oder Botschafter Boyce zitiert, sondern häufig auch von VertreterInnen der Pharmaindustrie für ihre Öffentlichkeitsarbeit herangezogen. Doch wenn die TRIPS-Ausnahmeregelungen tatsächlich angewandt werden, ziehen die Industrie und ihr wohl gesonnene politische Entscheidungsträger alle Register: Gerichtsverfahren von Novartis in Indien oder von Pfizer auf den Philippinen, Investitionsstopp oder Nichtregistrierung von neuen Medikamenten bis hin zur Ignoranz der Beschlüsse des Europäischen Parlaments auf Seiten der Europäischen Kommission oder die Aufnahme Thailands in die sogenannte Watch List der US-amerikani-schen Handelsbeauftragten. Dennoch trotzen von Bangkok bis Brasilia, in Delhi oder Kigali, Regierungen den hohen Preisen für unter Patentschutz stehende Arzneimittel und umgehen damit den Widerstand der Pharmaindustrie und einiger mächtiger Regierungen des Nordens, die Medikamentenpreise den Gegebenheiten der armen Länder anzupassen. Dass sich das für die öffentlichen Gesundheitsprogramme lohnt, zeigt das Beispiel Thailand. Für das Herz-Kreislauf-Medikament Clopidogrel – Markenname Plavix – des französischen Unternehmens Sanofi-Aventis liegt der thailändischen Regierung ein indisches Generika-Angebot vor, dessen Pillenpreis ein Siebzigstel des Originalpreises beträgt. Statt 70 Baht (circa 1,60 Euro) kostet eine Tablette nur noch 1 Baht. Eine Jahresbehandlung kann bisher bis zu 28.000 Baht (circa 635 Euro) pro Patient kosten, weshalb das öffentliche Gesundheitssystem nur etwa 7900 Patienten (teilweise) mit Clopidogrel behandeln kann. Laut Schätzungen benötigen aber etwa 65.000 Patienten aufgrund ihrer Aspirin-Resistenz eine Behandlung mit Clopidogrel. Da die thailändische Regierung eine Politik des universellen Zugangs zu essentiellen Medikamenten verfolgt und die Versorgung von 78 Prozent der Bevölkerung ausschließlich aus Steuergeldern bewältigt werden muss, ist eine Zwangslizenz für den nicht-gewerblichen Gebrauch der beste Weg die Kosten zu reduzieren – und sie ist vollkommen kompatibel mit internationalem Recht. Im Laufe des letzten Jahres hatte Thailand daher ebensolche Lizenzen für zwei antiretrovirale Mittel der Firmen Merck und Abbott erteilt. Brasilien zog Anfang Mai diesen Jahres mit einer Zwangslizenz für das HIV-Medikament Stocrin (Efavirenz) der Firma Merck nach.

Gegenwind aus dem Norden

Wie eingangs beschrieben bekommt insbesondere Thailand erheblichen Gegenwind. Handelskommissar Mandelson stört sich zum Beispiel besonders daran, dass die thailändische Regierung erklärt hat, sie würde Originalpräparate höchstens zu einem Preis einkaufen, der fünf Prozent über dem günstigsten Generikapreis liegt. Mandelson ignoriert allerdings nicht nur, dass auch Mitglieder der EU – vor allem die südeuropäischen – Referenzpreise in der Regulierung von Medikamentenpreisen anwenden, sondern auch, dass dies lediglich für Arzneien gilt, die die Regierung über ihre öffentlichen Programme verteilen will. Dies kommt sogar einem Kompromissangebot an die Industrie gleich, denn als Lizenzgebühr für die Zwangslizenz würde sie in Anlehnung an in anderen Fällen übliche Gebühren nur 0,5-2 Prozent des Verkaufswerts – also 3-4,5 Prozent weniger – zahlen. Zudem würden Privatpatienten sowie etwa zwei Millionen ImmigrantInnen weiterhin den vollen Preis für das Originalpräparat bezahlen. Der Pharmakonzern Abbott ging zunächst mit noch härteren Bandagen vor. Als Reaktion auf die Zwangslizenz auf sein AIDS-Medikament Kaletra, zog das Unternehmen die Registrierungsanträge für sieben neue Medikamente zurück. Damit könnten diese gar nicht erst auf dem thailändischen Markt verkauft werden. Lediglich für eine neue Version von Kaletra bot Abbott schließlich an, diese zu einem wesentlich günstigeren Preis als das Generikum in Thailand anzubieten. Von den sogenannten TRIPS-Flexibilitäten kann aber auch auf andere Weise Gebrauch gemacht werden, zum Beispiel über eine enge Auslegung dessen, was als neu und somit als patentierbar gilt. Indien, dessen Patentgesetz bis 2005 keine Produktpatente auf Medikamente kannte, hat in den letzten Jahrzehnten die größte Generika-Industrie der Welt aufgebaut. Diese exportiert heute etwa 67 Prozent seiner Generika in andere Entwicklungsländer und hat sich so als „Apotheke der Armen“ etabliert. Das neue indische Patentgesetz, das die Minimalstandards des TRIPS-Abkommens in nationales Recht übersetzt, ist beispielhaft, indem es die Patentierung nur geringfügiger Verbesserungen schon bekannter Wirkstoffe verbietet. Es verhindert so die gängige Praxis des Evergreening von Patenten, mit der die Lebensdauer eines Patents und damit das Marktmonopol weit über 20 Jahre ausgedehnt werden kann. Der Schweizer Pharmariese Novartis hatte genau gegen diesen Passus geklagt und behauptet, er sei weder verfassungsmäßig noch TRIPS-konform. Anfang August wurde die Klage vom High Court in Chennai zurückgewiesen – ein Gewinn nicht nur für Patienten in Entwicklungsländern, die auf indische Generika angewiesen sind, sondern auch für die beinahe 500.000 Menschen, die sich per e-mail oder Unterschrift dafür eingesetzt hatten, dass Novartis die Klage zurückziehe. Nur zwei Wochen später erklärte das Unternehmen jedoch, dass es voraussichtlich hunderte Millionen Dollar geplanter Investitionen von Indien in andere Länder umleiten würde, wo die Investitionsbedingungen besser seien. Die defensive Haltung im Hinblick auf geistige Eigentumsrechte kann kaum überraschen: In den nächsten Jahren laufen zahlreiche Patente auf umsatzstarke Medikamente aus, während nicht ausreichend neue Produkte in der Entwicklungsphase sind. Um dem Wettbewerb durch Generika Einhalt zu gebieten, versuchen die Unternehmen, ihre Monopolrechte zu verlängern und weltweit zu sichern. Doch das auf Patenten basierende Anreizsystem für Forschung und Entwicklung im Arzneimittelsektor ist zumindest mit Blick auf die Entwicklungsländer großenteils gescheitert. Zahlreiche Krankheiten, die nur in Entwicklungsländern auftreten, können noch immer nicht medikamentös behandelt werden, weil die noch zu entwickelnden Arzneien nicht genügend Gewinn versprechen. Oder die vorhandenen Formulierungen sind ohne durchgehende Kühlketten nicht zu gebrauchen. Neuere Debatten, wie Forschung und Entwicklung anders organisiert werden kann, um auch arme PatientInnen zu versorgen, wie sie derzeit zum Beispiel in der Weltgesundheitsorganisation geführt werden, sind daher dringend angeraten.

Erschienen in
GID-Ausgabe
184
vom Oktober 2007
Seite 58 - 59

Corinna Heineke promoviert zur Globalisierung geistiger Eigentumsrechte und berät Oxfam Deutschland e.V. zu Fragen des Medikamentenzugangs.

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