Mensch ist Mensch
Das gängige Bild von Menschen mit Behinderung wird immer in Verbindung mit "Leid, schweres Schicksal, Tragödie, Bürde, Strafe und Prüfung" gebracht. Selbst positiv gemeinte Äußerungen im Umgang mit Behinderung wie "Mitleid, Aufopferung, Fürsorge, gute Tat" oder "trotz der Behinderung" beinhalten diese negative Grundeinschätzung. Diese Beurteilung eines Lebens mit Behinderung findet sich auch in Gesetzestexten sowie in der Forschung wieder. Bei einem Schwangerschaftsabbruch in Folge eines auffälligen pränataldiagnostischen Befundes gilt Behinderung als "unzumutbare Belastung"; in der Präimplantationsdiagnostik und im Zusammenhang mit den neuen Gentechnologien als "Leid" und hier immer häufiger als "vermeidbares Leid".
Vermittelt wird in jedem Fall das Bild der Unfähigkeit, des Unglücks sowie der Belastung für die Person mit Behinderung selbst sowie für andere. Dies verhindern zu wollen und auch zu können versprechen die neuen Technologien. Für die Pränatal- sowie die Präimplantationsdiagnostik heißt das: das direkte oder indirekte Versprechen gesunder Kinder. Es entsteht der Eindruck, dass Krankheit und Behinderung in Zukunft vermeidbare Zustände sind, sofern sie nur früh genug, d.h. bereits im Mutterleib oder im Falle der Präimplantationsdiagnostik in der Petrischale entdeckt und beseitigt werden. Gesunde Kinder scheinen machbar.
Dieses Versprechen, das "Unglück Behinderung" verhindern zu können, greift auf der persönlichen Ebene der zukünftigen Mutter, der Eltern oder Angehörigen. Nebenbei geschieht eine andere, ebenfalls ungültige Gleichsetzung. Da Krankheit und Behinderung Unglück bedeuten, wird mit Gesundheit Glück assoziiert. Glück und Unglück sind jedoch Zustände, die von vielfältigen Faktoren abhängig sind; gerade auch das soziale Miteinander sowie gesellschaftliche Akzeptanz spielen dabei eine maßgebliche Rolle.
Der Text ist in der Broschüre der Frauengruppe Reprokult erschienen. Unter www.reprokult.de können noch Stellungnahmen der Gruppe zu weiteren Themen der Fortpflanzungstechnologie wie Embryonenforschung, PID oder Pränataldiagnostik nachgelesen werden.
Der Kostenfaktor
Häufig wird im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik und den neuen Medizintechniken die Frage nach den Kosten aufgeworfen: Menschen mit Behinderung kosten einfach viel (zuviel?). Die Frage nach der Belastbarkeit der Solidargemeinschaft wird immer lauter gestellt. Immer häufiger fallen Sätze wie: "Das können wir uns nicht mehr leisten." Mit dem Verweis auf das Allgemeinwohl wird der Lebenswert eines Menschen zunehmend nach rein ökonomischen Gesichtspunkten beurteilt. Diese Argumente greifen auf der gesellschaftlichen Ebene. Menschen mit Behinderung werden zunehmend als eine unzumutbare Belastung für die Solidargemeinschaft dargestellt. Die neuen Technologien die selbst mit einem immensen finanziellen Aufwand verbunden sind geben vor, zukünftige Kosten für die Gemeinschaft zu sparen.Relationen
Lediglich rund 5 Prozent der Schwer-Behinderungen (ab einem Grad von 50 Prozent) sind angeboren. Von diesen können zur Zeit etwa 0,5 Prozent durch die Pränataldiagnostik erkannt werden. Angesichts dieser Zahlen erscheinen die Versprechen "Leid und Kosten zu verhindern" absurd. Es stellt sich die Frage, ob mit dem "Schreckgespenst Behinderung" und der Behauptung, dieses verjagen zu können, nicht eine gesellschaftliche Akzeptanz für Technologien erreicht wird, deren Interessen zu einem nicht unerheblichen Teil auf wissenschaftlicher sowie marktwirtschaftlicher Ebene zu suchen sind.Die Frage der "Schuld"
Nach den Versprechungen der vorgeburtlichen Diagnostik sowie der Gentechnik wird ein gesundes Kind zur herstellbaren Ware. Qualitätskontrollen garantieren die Güte des "Produktes Kind". Krankheit und Behinderung werden nicht mehr als etwas gesehen, das alle angeht, alle betreffen kann und zum Leben dazugehört, sondern als etwas, das in der persönlichen Verantwortung der einzelnen Person liegt. Behinderung wird so zu einer Frage der persönlichen Schuld: Schuld der Frau, wenn sie die angebotenen Möglichkeiten nicht nutzt oder sich gar bewusst für ein Kind mit Behinderung entscheidet. Schuld der Ärzte und Ärztinnen, wenn sie eine Behinderung nicht "entdecken" und nicht deutlich genug zu einer Abtreibung raten bzw. dazu drängen. Die Rechtsprechungen der letzen Jahre verdeutlichen diese Entwicklung. So wurden Kinder mit Behinderung wiederholt als "Schaden" deklariert und Ärzte/Ärztinnen zu Schadensersatz in Form von Unterhaltszahlungen verurteilt. Konsequent in diesem Sinne sind auch Bestrebungen von Versicherungen z.B. in den USA und in Frankreich, die behinderungsbedingten Kosten für Neugeborene mit einer angeborenen Behinderung nicht mehr zu übernehmen.Trennung in Behinderung und Menschen mit Behinderung
Um nicht in den Verdacht einer neuen Eugenik zu geraten, wird eine Trennung in die Behinderung an sich und Menschen mit Behinderung vollzogen. Menschen mit Behinderung werden selbstverständlich nicht abgewertet. Sie haben das uneingeschränkte Recht auf Leben. Lediglich der Tatbestand der Behinderung soll verhindert werden. Diese Trennung ist jedoch ein theoretisches Konstrukt, da zu dem Tatbestand der Behinderung auch immer Menschen gehören, die eine Behinderung haben. Die Trennung in Behinderung und in Menschen mit Behinderung legitimiert die angewandten Methoden und befreit sie von dem Vorwurf der Eugenik. Die Konsequenzen daraus betreffen jedoch nicht nur die Behinderung an sich, sondern die Menschen mit Behinderung.Heilsversprechungen
Das Versprechen gesunder Kinder sowie Schlagzeilen von gentechnisch hergestellten Heilmitteln oder zukünftigen "Ersatzteilen" für bisher unheilbare Krankheiten und Behinderungen wecken bei betroffenen Menschen (häufig unerfüllbare) Hoffnungen und sorgen somit auch bei Menschen mit Behinderung für eine Akzeptanz der neuen Technologien. Gleichzeitig verstärkt sich jedoch insgesamt der gesellschaftliche Druck, auch gesund und heil zu werden beziehungsweise zu sein. Die "Wunderwelt" von Medizin und Technik lässt den Eindruck entstehen, dass bereits heute fast nichts mehr unheilbar ist. Und für Krankheiten, die trotz aller bisheriger Bemühungen noch nicht heilbar sind, braucht die Wissenschaft lediglich noch geeignetes Forschungsmaterial. Dies wird zum einen in "überflüssigen" Embryonen, aber auch in Menschen gesehen, die sich selbst zu einer entsprechenden Forschung nicht äußern können. Dabei wird argumentiert, dass einwilligungsunfähige Personen sich sicherlich für Forschungszwecke zur Verfügung stellen würden, wenn sie sich denn äußern könnten, um ihren Beitrag zur "Besiegung von Krankheit und Leid" zu leisten. Auch bei bereits bestehenden Krankheiten und Behinderungen werden die betroffenen Personen somit zunehmend selbst dafür verantwortlich gemacht. Sie haben dann entweder noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft oder aber als Gruppe ihren Beitrag als Forschungsobjekte zum Wohle anderer und der Solidargemeinschaft nicht geleistet.Gleichberechtigung und Autonomie
Während in vergangenen Zeiten die Vermeidung und Vernichtung von "behindertem Leben" gelegentlich staatliches Programm war, steht es heute jedem Menschen vermeintlich frei, sich für oder gegen ein Kind mit Behinderung zu entscheiden. In einer Solidargemeinschaft, die auf dem Gesundheitssektor zunehmend nur noch jene zu unterstützen bereit ist, die möglichst wenig oder keine Unterstützung benötigen, ist es jedoch fraglich, inwieweit noch von Freiheit und eben auch Gleichberechtigung und Akzeptanz von Menschen mit Behinderung gesprochen werden kann. Gleiches gilt auch in Bezug auf die Autonomie der Frau. Frauen sind auch heute noch überwiegend für Versorgung und Erziehung der Kinder zuständig, unabhängig davon, ob sie berufstätig sind oder nicht. Gesellschaftliche Unterstützung erhalten sie dabei nur wenig. So werden "gesunde Kinder" als ein Garant für die Möglichkeit der Selbstverwirklichung der modernen Frau proklamiert. In Kombination mit der zunehmenden Schuldzuweisung, sollte doch eine Behinderung vorliegen, wird aus der vermeintlichen Möglichkeit gesunder Kinder schnell ein Zwang zu gesundem Nachwuchs.Krankheit und Behinderung gehören zum Leben
Ungeachtet der vielfältigen möglichen Ursachen für Behinderung und Krankheit (Unfälle, Arbeitsbelastung, Umweltbelastung, "Verschleiß", soziale Missstände) werden Gesundheit und "Normalität" zunehmend als persönlich herstellbare Zustände dargestellt, für die jede Person selbst verantwortlich zu machen ist. Gesundheit wird zu einem persönlichen Leistungskriterium und zu einem Merkmal "sozialen, verantwortungsbewussten" Verhaltens. Die Verantwortung der Gemein-schaft (z.B. auch von Wirtschaft und Industrie) für das Wohlergehen aller gerät dabei zunehmend aus dem Blick. Und während jede Person aufgefordert ist, alles für das Wohlergehen der Gemeinschaft zu leisten, wird ihr von dieser zunehmend die Unterstützung versagt, sollte sie nicht mehr leistungsfähig sein. Dieser Prozess betrifft alle Menschen. Doch mit dem "Schreckgespenst Behinderung" und dem Versprechen der technologischen Beseitigung lässt sich der steigende Druck zu Gesundheit, Schönheit, Leistungsfähigkeit und ewiger Jugend besser vermarkten. Doch entgegen den Versprechungen werden Krankheit und Behinderung immer zum menschlichen Leben dazugehören. Entsprechend vertreten wir folgende Grundsätze: - Jeder Mensch ist wertvoll, so wie er/sie ist, unabhängig von der jeweiligen körperlichen, geistigen oder psychischen Beschaffenheit. - Jede Frau und jeder Mann hat das Recht auf "Unvollkommenheit", denn es gibt keine Garantie auf ein Leben ohne körperliche, seelische oder geistige Einschränkung. - Jeder Mensch hat das Recht zu leben. Niemand hat das Recht zu definieren, ob das Leben eines anderen lebenswert ist oder nicht. - Niemand hat das Recht, andere Menschen für wissenschaftliche Versuche "freizugeben". - Niemand hat das Recht, Frauen für die Erfüllung eigener Wünsche zu gebrauchen. - Die Geburt eines behinderten Kindes ist nicht eine Frage der persönlichen Schuld. Es darf keine Schuldzuweisungen aufgrund der möglichen Vermeidbarkeit einer pränatal bedingten Behinderung geben.Der Text ist in der Broschüre der Frauengruppe Reprokult erschienen. Unter www.reprokult.de können noch Stellungnahmen der Gruppe zu weiteren Themen der Fortpflanzungstechnologie wie Embryonenforschung, PID oder Pränataldiagnostik nachgelesen werden.
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