Neue Sozialhygiene oder lokale Biologie?
Umweltepigenetik und gesellschaftliche Ungleichheit
Die sogenannte Umweltepigenetik bringt sozialwissenschaftlich und gesellschaftlich brisante Fragen auf. Das in Laboren produzierte Wissen hat zwar das Potenzial, Ungleichheit und soziale Verhältnisse zu naturalisieren, bietet zugleich aber die Chance, die Verflechtung sozialer und biologischer Aspekte von Lebenswegen in den Blick zu nehmen, ohne einer umfassenden Biologisierung gesellschaftlicher Bedingungen anheimzufallen. Eine Analyse neuerer Erkenntnisse der umweltepigenetischen Forschung aus sozialanthropologischer Perspektive.
Gerade wird es etwas ruhiger um die epigenetische Forschung. Die erste Aufregung der letzten Jahre hat sich gelegt, Forschungsthemen sind priorisiert, internationale Konsortien gegründet - Normalwissenschaft hat Einzug gehalten. Ein guter Zeitpunkt, um kurz innezuhalten und zu fragen, wie wir die epigenetischen Entwicklungen der letzten zehn Jahre bewerten und welche Konsequenzen sich für unsere Gesellschaft daraus ergeben könnten oder sollten. Bei der sogenannten Umwelt- beziehungsweise sozialen Epigenetik geht es im Kern um zwei Fragen. Erstens: Wie wirken sich Veränderungen der sozialen und materiellen Umwelt von Menschen auf deren Genexpression aus? Und zweitens: Wie stabil sind diese Veränderungen? Anders formuliert: Schreibt sich unsere Lebenswelt vielleicht doch tiefer in uns ein als wir das bisher angenommen haben? Und geben wir vielleicht nicht nur unsere Gene, sondern auch die Auswirkungen unseres Lebensstils an unsere Nachkommen weiter? Um dies gleich vorab klarzustellen: Die molekularbiologische Forschung steht hier am Anfang. Deutlich wird schon jetzt, dass Auf-/Abbau und Transmission epigenetischer Marker von einer immensen Vielzahl von Faktoren abhängen; den ersten spektakulären Beweisen von Wirkprinzipien folgt deshalb eine Menge harter Forschungsarbeit, um den oft subtilen Einfluss von Umweltbedingungen zu verstehen. Vollmundige utopische, aber auch dystopische Beurteilungen sind also mit Vorsicht zu genießen. Trotzdem lassen sich bereits jetzt einige Befunde und Trends skizzieren: Umweltepigenetik tendiert dazu, Umwelt, Biographie und Milieu zu molekularisieren und Erziehung und soziale Differenz zu naturalisieren.
Die Molekularisierung von Biographie und Milieu
Eine entscheidende Veränderung, die die umweltepigenetische Forschung mit sich bringt, liegt weniger in den eigentlichen Forschungsergebnissen begründet, als vielmehr in der Art und Weise, wie geforscht wird. Bisher hat molekularbiologische Forschung fast ausschließlich auf das Innere einzelner Organismen oder Zellpopulationen, wenn nicht sogar auf einzelne Zellen fokussiert. Die Epigenetik beginnt nun, diesen Blick auf die „Umwelt" zu richten: Das typische Forschungsdesign nimmt einen klar definierten Umwelteffekt und untersucht dessen Auswirkungen auf die Genexpression in einem Organismus. Dabei kann ein Umwelteffekt entweder im Labor experimentell erzeugt werden, zum Beispiel in dem man Rattennachwuchs im Käfig stresst. Oder ein Umwelteffekt wird durch einen epidemiologischen Datensatz erfasst, zum Beispiel der Wechsel von rumänischen Waisenkindern aus Heimen im Rumänien Ceaucescus in britische oder amerikanische Obhut zu Beginn der 1990er Jahre. Die Molekularbiologin möchte dann wissen, ob sich der Aufenthalt in einem rumänischen Waisenhaus unter Bedingungen von Mangelernährung und inadäquater sozialer Fürsorge als epigenetische Signatur bei den Betroffenen nachweisen lässt. Neu und beobachtungswürdig an diesen Forschungen ist, dass hier soziale und materielle „Umwelt“ unter molekularen Gesichtspunkten beschrieben und analysiert wird. Das ist an und für sich nicht problematisch. Doch wird mit diesem Ansatz zumindest außerhalb der Molekularbiologie oft ein Kurzschluss in der Argumentation produziert. In der öffentlichen Vermittlung werden molekularbiologische Befunde selten en detail und unter Berücksichtigung des Forschungsdesigns diskutiert. Stattdessen heißt es dann: Stress in der frühen Kindheit hinterlässt lebenslange Spuren. Der Sammelbegriff „Stress“ wird so eine Black Box für ein breites Sammelsurium an Umweltveränderungen bei Mensch und Tier. Dass das Umsetzen einer Ratte in einen neuen Käfig verglichen werden kann mit der traumatischen Erfahrung in einem rumänischen Waisenhaus, liegt an dem molekularen Blick auf „Umwelt“, in dem die Art des Stressors nur eine untergeordnete Rolle spielt. Mit dem Konzept Stress werden so häufig Unterschiede nivelliert, die hohe gesellschaftliche Relevanz haben. Sozialforscher_innen sprechen daher von der Molekularisierung von Umwelt, Biographie und Milieu. Sie meinen damit, dass sozialer Wandel, persönliche Biographie oder Umweltveränderungen als Forschungsobjekte entlang einer molekularbiologischen Logik zugerichtet werden. Aus Sicht der biologischen Forschung und vor dem Hintergrund aktueller Aufmerksamkeits- und Förderpolitiken ist das nur zu verständlich. Als Beobachter_innen dieser Entwicklungen tun wir aber gut daran, die Formen dieser Zurichtung, das jeweils Spezifische des molekularen Zugriffs im Blick zu behalten. Dabei muss es darum gehen, die Befunde als Beitrag zur Grundlagenforschung zu würdigen und gleichzeitig groben Lesarten kritisch zu begegnen, die Forschungsergebnisse über die tatsächlichen experimentellen Parameter hinaus interpretieren.
Experimentelle Ergebnisse und ihre Interpretation
Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Zellen beziehungsweise DNA-Abschnitte in bestimmten Zeitfenstern empfänglicher für epigenetische Veränderungen sind als in anderen.1 Eines dieser Zeitfenster ist die frühe Kindheit. Ergebnisse von Experimenten an Nagern wie auch epidemiologische Studien an Menschen werden dahingehend generalisiert, dass Nachwuchs, der während oder kurz nach der Schwangerschaft einem Stressor ausgesetzt ist, davon ein Leben lang geprägt ist, weil sich diese Exposition deutlich in die epigenetische Landschaft einschreibt. Mit solchen Mechanismen wird beispielsweise erklärt, dass Kinder, die aus Schwangerschaften während des holländischen Hungerwinters 1944/45 hervorgingen, ihrerseits Kinder zur Welt gebracht haben, die ein erhöhtes Risiko für Herzkreislauferkrankungen tragen. Die epidemiologische Datenlage zu diesem Phänomen ist sehr gut, auch wenn der genaue Mechanismus bisher weder erklärt noch belegt werden konnte. Problematisch werden diese Forschungsergebnisse immer dann, wenn ihre Interpretation suggeriert, dass es eine optimale frühe Kindheit gibt, die mit einer möglichst geringen Krankheitsanfälligkeit beziehungsweise Sterberate korreliert. Denn die Forschung zeigt lediglich, dass Stressoren einen negativen Effekt haben: Die experimentelle Kontrollgruppe zeichnet sich durch die Abwesenheit des untersuchten Stressors aus, nicht durch eine wie auch immer geartete positive Bestimmung von Eigenschaften. Ein Optimum lässt sich aus solchen Studien also nicht ableiten.
Politik der Naturalisierung
Fehlinterpretationen dieser Art können dazu führen, dass komplexe Sozialisierungs- und Erziehungsprozesse auf einfache Umweltbedingungen reduziert werden. Deutlich wird das auch, wenn zum Beispiel das Brutfürsorgeverhalten von Rattenweibchen auf den Menschen übertragen wird, wie das immer wieder im öffentlichen Diskurs und - seltener - auf Fachtagungen zu beobachten ist. Unbeschwert werden hier Ergebnisse biologischer Experimente mit Vorstellungen von Erziehung, Familie, Mutterrollen und Familienpolitik vermischt. Erziehung wird damit schnell eine Frage der Bereitstellung des richtigen Milieus, wobei ‚richtig’ über krude Lesarten molekularer Studien definiert wird. Diese Argumentationsfigur versucht, über den Rückgriff auf die Biologie eine gesellschaftlich zu verhandelnde Frage - was sind die Rahmenbedingungen für Kindererziehung in Deutschland? - durch vermeintliche naturwissenschaftliche Fakten aus der Diskussion herauszuhalten, indem sie sie naturalisiert und steht in einer historischen Linie in der Biologie, die im späten 19. Jahrhundert mit der Eugenik beginnt, in den 1970er und 1980er Jahren mit dem soziobiologischen Denken einen neuen Höhepunkt erreicht und zuletzt in genetischen Debatten der Jahrtausendwende wieder auftaucht. Damit soll selbstverständlich nicht gesagt sein, dass belastbares biologisches Wissen keinen Platz in Diskussionen über Kindererziehung haben sollte. Nur: Welchen Platz es hat, bleibt immer eine gesellschaftliche Entscheidung.
Epigenetik als Instrument der Sozialhygiene
Wenn epigenetische Befunde dazu genutzt werden, um komplizierte gesellschaftliche Gemengelagen auf ein einfaches biologisches Fundament zu reduzieren, droht eine neue Form der Sozialhygiene. Diese Denkrichtung aber hat in der Vergangenheit - häufig in enger Verbindung mit eugenischem Denken - normativ eng aufgeladene Eingriffe in gesellschaftlichen Alltag wiederholt mit medizinischen Argumentationen zu legitimieren versucht.2 In Deutschland hat man sich zwar seit dem zweiten Weltkrieg weit von dieser Logik entfernt und im internationalen Trend eher auf individuelle Aktivierung, geteilte Entscheidungsfindung und Selbstsorge gesetzt. Gerade humangenetisches Wissen wird seit den frühen 1990er Jahren aber immer wieder genutzt, um auf vermeintlich biologischer Basis Bevölkerungsgruppen für Interventionen zu identifizieren. Und auch die Verschränkung von Übergewichts- und Unterschichtsdebatte der 2000er Jahre hat deutlich gemacht, wie rasch biologisches Wissen in den Dienst gesellschaftspolitischer Maßnahmen genommen wird.3 Gerade die epigenetischen Befunde zu frühkindlichen Widrigkeiten (early life adversity) sind dafür bestens geeignet. Vorstellbar sind weitreichende Programme zur primordialen Prävention, das heißt zur Verringerung von Risikofaktoren, während der Schwangerschaft und der Betreuung in den ersten Lebensjahren in staatlichen und privaten Einrichtungen. Aufgrund der Stabilität epigenetischer Effekte ist auch eine Form der nachgehenden Fürsorge denkbar, etwa indem Kinder mit niedrigem Geburtsgewicht über die gängigen Gesundheitsuntersuchungen hinaus unter Beobachtung gestellt werden. Maßnahmen dieser Art ziehen zur Lösung gesellschaftspolitischer Probleme nicht nur biologisches Wissen heran, sondern nutzen es auch, um das Problem überhaupt erst zu rahmen. Auf diese Weise werden sozial schwache Schichten als biologisch problematisch ausgemacht.
Lokale Biologie und gesellschaftliche Ungleichheit
In Zukunft wird es darauf ankommen, eine feine Balance zwischen therapeutischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Risiken zu finden, die sich aus der umweltepigenetischen Forschung ergeben, aber für Interpretation und Analyse auch Möglichkeiten der Kooperation zwischen natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen zu suchen. Denn die epigenetische Forschung stößt die Debatte zu einem bekannten Phänomen neu an: Soziale Ungleichheit und Krankheit hängen zusammen. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion besteht häufig die Tendenz, soziale Ungleichheit und Biologie strikt voneinander zu trennen. Zum einen sei biologisches Wissen sozial konstruiert, zum anderen, so das Argument, sei Ungleichheit ein gesellschaftliches und kein „natürliches“ Phänomen. Die epigenetische Forschung setzt diese Vereinfachung aus naturwissenschaftlicher Perspektive unter Druck und stellt die wichtige Frage, wie sich soziale und biologische Aspekte von Lebenswegen miteinander verflechten. Wir sollten daher die jüngsten epigenetischen Befunde zum Anlass nehmen, in der Forschung nach neuen Wegen zu suchen, wie wir mit diesen Verflechtungen umgehen können. Dies ist eine gewaltige Herausforderung, denn Biologie wird gemeinhin als eine Wissenschaft verstanden, die Wissen über den Menschen produziert, nicht über die Menschen. Die bleiben den Sozialwissenschaften überlassen. Die Epigenetik verwischt diese Unterscheidung und fragt, wie der menschliche Körper in soziale und materielle Umwelten eingebettet ist. Die neuere Medizinanthropologie spricht hier von lokaler Biologie - Soziales und Biologisches sind in der Alltagspraxis untrennbar miteinander verwoben. Das Feld der Epigenetik wird in den nächsten Jahren an dieser Schnittstelle arbeiten. Wie sich die Forschung gestaltet, wie genau Natur und Kultur in dieser Forschung Form annehmen, wird für die Ergebnisse eine wichtige Rolle spielen - und damit auch für unseren gesellschaftlichen und politischen Umgang mit Ungleichheit.
- 1Ähnliches hat man lange Zeit für Nervenzellen und Synapsen im menschlichen Gehirn angenommen, bis Ende der 1990er deutlich wurde, dass das Hirn wohl ein Menschenleben lang veränderbar bleibt.
- 2Ursprünglich war die Sozialhygiene am Übergang zum 20. Jahrhundert als Gegenmodell zu engen biologischen Erklärungen von Krankheiten entworfen worden. Alfred Grotjahn und seinen Kollegen ging es um eine Transformation der Gesellschaft hin zu einer gesünderen „hygienischen Kultur“, die von der Demographie bis zur Ernährung reichte.
- 3Zu der Debatte vgl. den Artikel „Der Ausschluss der Armen” auf S. 7ff. in diesem Heft. Ein Beispiel für Interventionen, mit denen gesundheitsförderndes Verhalten erzwungen werden soll, ist das Konzept der „aufsuchenden Prävention“. Dem liegt die Idee zugrunde, dass Bevölkerungssgruppen mit geringem sozio-ökonomischen Status weder biologisch noch kulturell in der Lage sind, sich angemessen selbst um ihre Gesundheit zu kümmern.
Jörg Niewöhner forscht und lehrt als Juniorprofessor am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Ko-Sprecher des Interdisziplinären Forschungsinstituts THESys: Transformationen von Mensch-Umwelt Systemen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der ökologischen Anthropologie, der ethnographischen Wissenschafts- und Technikforschung und der Stadtforschung.