Rezension: Genetik und Psychologie

Die Autorin Vanessa Lux, Kulturwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin, untersucht die Beziehung von Genetik und Psychologie. Ihre zentrale Botschaft: Die Bedeutung der Genetik - vor allem die Bedeutung der DNA - für die Psychologie wird noch immer weit überschätzt und muss entschieden relativiert werden. Denn der genetische Determinismus beherrscht weiterhin die psychologische Praxis. Das Buch versucht, die wirkliche Bedeutung der Genetik für die Psychologie zu klären. Dazu erläutert Vanessa Lux zunächst den aktuellen Stand der genetischen Forschung und zeigt, dass das zentrale Dogma der Molekulargenetik: „DNA makes RNA, RNA makes Protein, makes all the rest“, revidiert werden muss. Denn nach jahrzehntelanger genetischer Forschung ist eindeutig: Die meisten phänotypischen Eigenschaften des Organismus werden nicht von Genen oder Basenpaaren, sondern von der zellulären Umgebung der DNA bestimmt, also von Phänomenen, die den Proteinen nachgelagert sind. Die Genetiker nennen diese Phänomene epigenetisch. Damit können einige komplexe, bisher unverstandene biologische Eigenschaften erklärt werden. Doch dieser Stand der Forschung, so Lux’ Kritik, werde in der Psychologie nicht rezipiert. Hier gelte weiterhin der genetische Determinismus. Die Autorin versucht deshalb, die am weitesten entwickelten biologischen Konzepte der Molekulargenetik für die Psychologie fruchtbar zu machen. Dazu diskutiert sie verschiedene epigenetische Entwicklungstheorien und untersucht deren Vereinbarkeit mit - wie sie es nennt - „subjektwissenschaftlichen“ Ansätzen. Das am weitesten entwickelte Konzept sei das des „biopsychosozialen Modells“ von Krankheit, welches auch für psychische Erkrankungen zur Anwendung komme und die Forschung weitgehend dominiere. Doch dieses sei - so ihre Kritik - auf rein materielle Faktoren reduziert, was für psychische Erscheinungen zu kurz greife, da Umwelt ohne Gesellschaft konzipiert werde. Auch bei psychischen Erkrankungen wie ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom) und PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) müssten gesellschaftliche Bedingungsfaktoren und die subjektiven Gründe für Handeln und Verhalten aber berücksichtigt werden. Das biopsychosoziale Modell, so Lux’ These, müsse deshalb in ein „subjektwissenschaftliches“ Konzept eingebettet und um die Idee einer „gesellschaftlichen Natur“ des Menschen ergänzt werden, wie sie an der Freien Universität Berlin 1983 von Heinz Holzkamp mit seiner „kritischen Psychologie“ entwickelt wurde. Dieser Ansatz berücksichtige gesellschaftliche Einflussfaktoren und die „kulturell kumulierte Erfahrung“ des Menschen als prinzipiell offen und - im Gegensatz zum bio­psychosozialen Modell - nicht determiniert. Damit ist der subjektwissenschaftliche Ansatz, wie ihn Vanessa Lux vertritt, nicht weit von jener Soziologiekonzeption entfernt, in der Jürgen Habermas ein den Teilnehmern am sozialen Geschehen zugängliches Reich der Gründe und ein dem objektiven Beobachter zugängliches Reich der Ursachen der Dingwelt unterscheidet und beides durch eine „methodisch duale Epistemologie“ trennt, nach der die zwei wissenschaftlichen Diskurse - der Beobachter- und der Teilnehmerdiskurs - nicht aufeinander reduziert werden können. Sie besitzen vielmehr jeweils eine eigenständige „Ontologie“ und „Semantik“. Die in der Psychologie derzeit vorherrschenden Modelle verschleiern, dass beide Diskurse aufeinandertreffen. Deshalb wäre eine Auseinandersetzung mit Habermas spannend gewesen, die Lux leider nicht führt. Aber ihr Buch macht unmissverständlich klar, dass der Anteil der gesellschaftlichen Natur des Menschen an der Psyche, die Vergesellschaftung des Psychischen ein offenes Problem der Forschung ist, das nicht mit dem Hinweis auf die Genetik und ein biopsychosoziales Modell erledigt werden kann, und allein das macht es - neben den kenntnisreichen Darstellungen aktueller Forschungsergebnisse - lesenswert.
Rainer Hohlfeld
Vanessa Lux: Genetik und psychologische Praxis. Springer VS (2012), 442 Seiten, 36,99 Euro, ISBN ISBN 978-3-531-19334-2./em>

Erschienen in
GID-Ausgabe
220
vom Oktober 2013
Seite 45