Koexistenz und Kontamination bleiben national
Die so genannte Koexistenz von konventionellen, ökologischen und transgenen Kulturen bestimmt derzeit die Diskussion über den Einsatz der Gentechnik in der europäischen Landwirtschaft. Publikationen, Tagungen, Ministergespräche - die aktuelle Situation macht deutlich, dass die Erfahrungen mit dem Anbau von genetisch veränderten Kulturen in der EU nach wie vor sehr begrenzt sind.
Gibt man bei der online-Enzyklopädie Wikipedia den Begriff "Koexistenz" ein, erscheint die folgende Erklärung: "Koexistenz beschreibt das gleichzeitige Vorhandensein. Verstanden wird darunter oft das friedliche, aber unabhängige Nebeneinander zweier (mehrerer) Dinge." Spätestens seit auf der EU-Konferenz in Wien Anfang April intensiv über Möglichkeiten des Nebeneinanders von Landwirtschaft mit und ohne Gentechnik diskutiert wurde, dürfte klar sein, dass Koexistenz für die Zukunft der ökologischen und konventionellen Wirtschaftsweise von entscheidender Bedeutung ist. Begonnen hatte die Auseinandersetzung um konkrete Anwendungen der Agrogentechnik im Jahr 1997 mit der Zulassung der ersten gentechnisch veränderten (gv) Sorten. In den Folgejahren wurden jedoch mit Ausnahme Spaniens in keinem europäischen Land gentechnisch veränderte Pflanzen kommerziell angebaut. In verschiedenen Richtlinien und Verordnungen wurde seitdem der Umgang und die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel seitens der EU geregelt. Das föderalistische System Europäische Union muss dabei zum einen die Vorgaben der Welthandelsorganisation (WTO, World Trade Organization ) erfüllen, zum anderen die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsländer berücksichtigen. Während einige Mitgliedsländer sehr strikte Regelungen zum Umgang mit gentechnisch veränderten Pflanzen (GVP) haben, die einen Anbau großräumig unterbinden, besteht die WTO darauf, dass alle Handelshindernisse in Form von strengen Kontrollen, Haftungs- und Kennzeichnungsregeln abzubauen seien. Hintergrund ist das Ziel, einen weltweiten freien Warenstrom zu gewährleisten. Im Zusammenhang mit GVP betrifft dies momentan vor allem als Futtermittel genutzten Mais und Soja aus Amerika.
Allgemeine EU-Regeln
Neben dem Import von Genmais und Gensoja für den Futtermittelsektor bekommt der Anbau von GVP in Europa eine zunehmende Bedeutung. Der Anbau wird derzeit durch die Freisetzungsrichtlinie (1) und die EG-Verordnung Nr. 1829/2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel geregelt. In Artikel 26a der Freisetzungsrichtlinie werden die Mitgliedsstaaten aufgerufen, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das unbeabsichtigte Vorhandensein von GVP in anderen Produkten zu verhindern und Koexistenz zu ermöglichen. Die EU-Kommission hat bisher nur so genannte Leitlinien verabschiedet, die aber nicht rechtsverbindlich sind. Auf der Koexistenztagung in Wien hat die EU-Kommission nochmals deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es derzeit keine EU-einheitlichen rechtsverbindlichen Regelungen zur "Guten fachlichen Praxis" und damit zur Koexistenz von transgener, konventioneller und ökologischer Landwirtschaft gibt. Von der EU wird allerdings überprüft, ob die einzelstaatlichen Lösungen das Inverkehrbringen von zugelassenen GVP nicht generell verbieten, einschränken oder behindern. Diese Vorgehensweise wurde vom Europäischen Rat, das heißt den Ministerinnen und Ministern für Landwirtschaft der Mitgliedsstaaten, auf ihrem Treffen im Mai nochmals bestätigt. Helen Holder von der Europa-Sektion der Umweltorganisation Friends of the Earth zufolge ist auch klar, dass die Kommission bis 2008 keine Schritte in Richtung einer gemeinsamen Regelung machen wird. Denn im Jahre 2008 ist der nächste Bericht der Kommission in dieser Sache fällig. Die Mitgliedsstaaten würden - so Holder - damit auch die Gelegenheit verpassen, Kontaminationen mit GVP in Nahrungspflanzen und der Umwelt zu stoppen. Die Fachminister der Mitgliedsstaaten nehmen in ihren ,Conclusions' Bezug auf besagte Leitlinien der Kommission aus dem Jahre 2003 und die Ergebnisse der Konferenz "Freiheit der Wahl", die im April diesen Jahres in Wien stattgefunden hat.
Kommission kneift
So vermeidet es die EU-Kommission mit Unterstützung des Ministerrates, in den für die Koexistenz entscheidenden Fragen für Rechtssicherheit zu sorgen. Dies sind: Mindestabstände zwischen transgenen und nicht-transgenen Kulturen, Grenzwerte für Ernte und im Saatgut und die Haftung bei Auftreten von Verunreinigung gentechnikfreier Partien. Vor dem Hintergrund einer europäischen Landwirtschaftspolitik und eines gemeinsamen Marktes wäre eine einheitliche Regelung wünschenswert, denn schon die Betrachtung der von den Mitgliedsländern festgelegten Mindestabstände zeigt, dass sehr unterschiedlich vorgegegangen wird (siehe Tabelle). In Dänemark zum Beispiel wurde der Abstand, den ein Genmaisfeld zu einem konventionellen Feld haben muss, mit 200 Metern festgelegt, während in den Niederlanden bei vergleichbaren Rahmenbedingungen der Abstand mit 25 Metern angegeben wird. Diese großen Unterschiede legen die Vermutung nahe, dass es bisher entweder keine allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt oder aber politische Interessen Grundlage für die Regelungen sind. Teilnehmer von Gesprächsrunden im deutschen Bundeslandwirtschaftsministerium (BMELV) berichten von einem schmunzelnden Minister Horst Seehofer (CSU). Er habe den Eindruck, so Seehofer sinngemäß, dass in seinem Hause die vorgeschlagenen Abstände für den Anbau von gv-Mais mit jeder Ebene - vom Referenten zum Abteilungsleiter, zum Planungsstab, zum Staatssekretär - um jeweils 50 Meter vergrößert werden.
Anbau in Deutschland
In Deutschland gibt es derzeit fünf vom Bundessortenamt für den kommerziellen Anbau zugelassene gv-Mais-Sorten. Ein Anbau findet statt und muss im staatlichen Standortregister gemeldet werden. Nachdem zunächst etwa 1.900 Hektar Fläche für den Anbau und die Erprobung gentechnisch veränderter Sorten angemeldet worden waren, scheint sich die Zahl bei knapp 1.000 Hektar einzupendeln.(2) Obwohl das deutsche Gentechnikgesetz Anbau und Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen regelt, fehlen derzeit konkrete Angaben (zum Beispiel Mindestabstände) für die Praxis. Diese werden derzeit vom BMELV erarbeitet. Mindestabstände zwischen gv-Sorten und konventionellen oder ökologischen Kulturen werden den Kern der Verordnung (der Strategie) zur Vermeidung des Austrags aus gentechnischen Beständen in Nachbarflächen darstellen. Weiterhin geregelt werden müssen der überbetriebliche Einsatz von Maschinen und Vorkehrungen, die bei der Erfassung und Lagerung der Ernte zu treffen sind, um eine Verunreinigung zu verhindern. Der Entwurf für diese so genannte Koexistenz-Verordnung soll den Ländern und Verbänden noch im Laufe des Sommers zur Stellungnahme vorgelegt werden.
Grenzwert-Debatte
Grenzwerte für eine Kontamination sind in der im April 2004 in Kraft getretenen EU-Kennzeichnungsverordnung festgehalten.(3) Ab einem Schwellenwert von 0,9 Prozent ist eine Partie generell zu kennzeichnen. Das Besondere an diesem Grenzwert ist jedoch, dass das Unterschreiten nur dann von einer Kennzeichnungspflicht befreit, wenn die Verunreinigung zufällig oder technisch unvermeidbar war. Wäre eine Verunreinigung von zum Beispiel 0,5 Prozent technisch vermeidbar gewesen, muss die Partie gekennzeichnet werden, Grenzwert 0,9 hin oder her. Eine genaue Definition der Begriffe "zufällig" und "technisch unvermeidbar" fehlt jedoch bisher, obgleich dringender Handlungsbedarf besteht. "Die Kommission muss die Begriffe 'zufällig' und 'technisch unvermeidbar' rechtsverbindlich definieren", forderte deshalb auch Friedrich WilhelmGraefe zu Baringdorf, Berichterstatter des EU-Parlaments, auf der Tagung in Wien. "Wenn Auskreuzungen in einer - zum Beispiel kleinstrukturierten Region - auf Nachbarfelder nicht ausgeschlossen werden können, muss die 'technische Vermeidung' darin bestehen, auf den Anbau zu verzichten. Es gibt kein Recht auf Kontamination, sondern die Pflicht, Kontaminationen zu verhindern", so Graefe zu Baringdorf weiter.
Entlang der Kette
Die Frage der Koexistenz bleibt nicht auf den Acker beschränkt, sondern zieht sich durch die gesamte Verarbeitung bis zum Handel. Vor allem die Erfahrungen der Futtermittelindustrie zeigen, dass eine Koexistenz, also ein Nebeneinander von konventionellen und gentechnisch veränderten Partien, am gleichen Standort nicht möglich ist. Die Lebensmittel verarbeitenden Betriebe schließen deshalb eine Verarbeitung gentechnisch veränderter Rohstoffe gänzlich aus. Üblicherweise liegen die von Lebensmittelproduzenten akzeptierten gentechnischen Verunreinigungen zwischen 0,1 und 0,3 Prozent. Die bisherigen Erfahrungen, vor allem im Bereich der Futtermittelproduktion, zeigen, dass eine Trennung der Warenströme mit erheblichem Aufwand und Kosten verbunden ist. Bisher schlagen diese Kosten ausschließlich bei den konventionellen, ohne gentechnisch veränderte Organismen (GVO) hergestellten Produkten zu Buche. Die Mehrkosten resultieren dabei ausschließlich aus der notwendigen Trennung und Zertifizierung gentechnikfreier Ware. "Ohne diesen Aufwand hätten wir in Kürze nur noch GVO-Produkte. Daher ist es völlig inakzeptabel, dass Verbraucher die höheren Kosten für GVO-freie Produkte zahlen sollen", sagt Jutta Jaksche, Agrar- und Ernährungsexpertin vom Verbraucherzentrale Bundesverband.
Saatgut
Auch für Saatgut muss geregelt werden, ob und wenn ja, welche Verunreinigung zulässig sein kann. Dabei darf nicht riskiert werden, dass in Zukunft überhaupt kein gentechnikfreies Saatgut mehr existiert. In der Vergangenheit wurden unterschiedliche Grenzwerte diskutiert. Die Vertreterinnen und Vertreter der gentechnikfreien Landwirtschaft fordern einen Grenzwert von 0,1 Prozent für Saatgut. Nur so könne sichergestellt werden, dass auch in Zukunft bestehende Grenzwerte für die Ernte einzuhalten sind. Der Präsident des Deutschen Bauernverbandes hat sich auf der diesjährigen Messe für Bioprodukte BioFach zu der Formulierung durchgerungen, ein Grenzwert müsse "nahe 0,1 Prozent" liegen. Dass die Einhaltung dieses Grenzwertes funktioniert, zeigt seit mittlerweile mehr als vier Jahren die Praxis in Österreich.(4) Befürchtet wird vor allem ein Ansteigen der Kosten des Saatguts, da der Aufwand für die Reinhaltung steigt.
Fußnoten
- Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt (2001/18/EG).
- Nach: Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL), 25.06.2006, im Netz unter: www.bvl.bund.de, dort "Standortregister".
- Verordnung des Europäischen Parlamentes und Rates über genetisch veränderte Futtermittel und Lebensmittel (2003/1830/EG).
- Die Bundesregierung von Österreich definiert "realistisch" anders und ist damit zum Vorreiter in Europa avanciert. In der österreichischen "Saatgut-Gentechnik-Verordnung" heißt es: "Zufällige oder auf technisch nicht vermeidbare Weise entstandene Verunreinigungen von Saatgut nicht gentechnisch veränderter Sorten mit GVO dürfen in der Erstuntersuchung (...) nicht vorhanden sein und bei der Nachkontrolle (...) den Wert von 0,1 Prozent nicht überschreiten." 0,1 Prozent gilt derzeit als Nachweisgrenze für die Verunreinigung mit GVO.
Quelle:
Für Daten zu Mindesabständen in Ländern der EU siehe www.biosicherheit.de
Christof Potthof war bis Ende April 2020 Mitarbeiter im GeN und Redakteur des GID.
Marcus Nürnberger ist Redakteur der Unabhängigen Bauernstimme, im Netz unter www.bauernstimme.de.