Heilige Kuh oder Fallstrick der Kritik
Der genetische Reduktionismus sitzt auch im „eigenen Haus”
Bis heute fehlt ein rechtlicher Schutz vor „genetischer Diskriminierung“. Ein effektiver Schutz ist deshalb seit langem eine wichtige politische Forderung der Gentechnikkritik. Ohne Frage ist die Kritik gut gemeint, doch in ihrer geläufigen Form läuft sie Gefahr, das Gegenteil des Gewollten zu erreichen. Was läuft schief in der Kritik? Ein neues Buch von Thomas Lemke hinterfragt die Sonderstellung „genetischer Diskriminierung“ gegenüber anderen Formen der Diskriminierung.
Der folgende Fall, der im In- und Ausland erhebliches Aufsehen erregte, verdeutlicht, welche Konsequenzen eine molekulardiagnostische Untersuchung für ArbeitnehmerInnen haben kann. Im August 2003 wurde einer Lehrerin im hessischen Schuldienst die Verbeamtung auf Probe verweigert. Die junge Frau hatte auf Nachfrage der Schulärztin angegeben, dass ihr Vater an Morbus Huntington leide. Die Schulbehörde verwehrte der ansonsten gesunden Bewerberin die Verbeamtung. Sie begründete dies mit der erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass jene in absehbarer Zukunft ebenfalls erkranken und dienstunfähig werde. Die Lehrerin klagte daraufhin ‑ erfolgreich und wurde schließlich in den Staatsdienst übernommen. Ein Erfolg, der nicht selbstverständlich ist!
Seit Jahren befindet sich das so genannte Gentestgesetz in der parlamentarischen Warteschleife. Es liegen verschiedene Entwürfe vor; gestritten wird etwa darüber, wie weit und wie unbedingt der Schutz vor der missbräuchlichen Verwendung genetischer Informationen einer Person gefasst sein soll. Über die prinzipielle Notwendigkeit eines solchen Gesetzes besteht aber Einigkeit. Auch Liberale befinden hierzulande, dass das Diskriminierungspotenzial genetischer Tests hoch ist und persönliche Rechte geschützt werden müssen. Anderswo, in den USA etwa, existieren marktradikale Stimmen, die unverblümt die ungleiche Behandlung von Menschen auf Grundlage genetischer Unterschiede fordern. Genetische Unterschiede, so berichtet Thomas Lemke, sind in diesem Kalkül ein ökonomisches Mittel zur Ressourcenallokation.
Die soziale Realität der Diskriminierung
Lemkes Buch „Die Polizei der Gene“ berichtet aber nicht in erster Linie von solchen Extrempositionen reiner Marktlogik. [1] Es geht vielmehr um die soziale Realität und zwar um die soziale Realität genetischer Diskriminierung – und anderer Formen von Diskriminierung. Eine Reihe von empirischen Studien gibt über die Situation in den USA und Britannien Auskunft. Wohin die Gelder des Deutschen Humangenomprojekts für die ethische Begleitforschung geflossen sind, kann man sich bei der Gelegenheit fragen; denn über die Verhältnisse in Deutschland existiert keine einzige Studie! Lemke hat deshalb eine explorative Studie durchgeführt und Menschen, die direkt oder indirekt von Morbus Huntington betroffen sind, zu ihren Erfahrungen befragt. Der Schluss, der aus den Ergebnissen gezogenen werden kann, ist wichtig: Die Unterscheidung von Diskriminierung wegen „schlechter Gene“ und Diskriminierung wegen äußerlicher Auffälligkeiten – sei es eine bestehende Krankheit, eine Behinderung oder andere Merkmale – ist sinnlos. Politisch ist sie kontraproduktiv und das nicht nur, weil sie droht Betroffenengruppen gegeneinander auszuspielen. Wie absurd die Unterscheidung ist, macht ein anderes Beispiel deutlich, wieder ein Rechtsstreit, der sich zur gleichen Zeit abspielte wie die Klage der erwähnten Lehrerin. Auch in diesem Fall klagte ein Lehrer gegen die Schulbehörde, weil er nicht in den verbeamteten Schuldienst übernommen werden sollte, mit dem Unterschied, dass nicht ein genetischer Test, sondern das große Körpergewicht des Mannes, der 120 kg wog, die Begründung dafür geliefert hatte. Die Klage des Lehrers scheiterte. Das Verwaltungsgericht Frankfurt hielt die Befürchtung der Schulbehörde für berechtigt, dass der jetzt noch gesunde Lehrer wahrscheinlich schwere Gesundheitsschäden davon tragen werde, für die dann der Arbeitgeber, in diesem Fall der Staat aufkommen müsse. Im Gegensatz zur genetischen Diskriminierung der Frankfurter Lehrerin erregte dieser Fall in der Öffentlichkeit kaum Aufsehen. Man kann fragen, warum in beiden Fällen offensichtlicher Diskriminierung so unterschiedlich geurteilt wurde. Denn in beiden Fällen waren die Betroffenen gesund. In beiden Fällen wurde bloß auf Grund von medizinischen Tests eine Vorhersage über den künftigen Gesundheitszustand der Betroffenen gemacht. In dem einen Fall konnte die Antidiskriminierungspolitik einen Erfolg verzeichnen, im anderen nicht. Den Ausschlag dafür gab das molekulargenetische Testergebnis im Fall der Lehrerin. Die Rekapitulation einer fast vollständigen Sammlung von Fallbeispielen, die in den letzten Jahren in der öffentlichen Aufmerksamkeit gestanden haben, bringt immer denselben Befund zu Tage. Das Dilemma der Antidiskriminierungspolitik liegt in falschen Vorannahmen. Die verbreitete Annahme ist, dass genetische Information etwas ganz Außergewöhnliches und Besonderes ist. Genetische Information gilt, wie es gerade mal wieder in der FAZ vorgemacht wurde, selbst im „aufgeklärten Gendiskurs“ als „das Intimste“, was ein Mensch hat. [2] Sie ist seine persönlichste und sensibelste Information und zwar deshalb, weil sie vermeintlich so wirkmächtig und autonom ist. Diese Annahmen finden sich in der gesamten Diskussion um genetische Diskriminierung wieder, und sie werden auch regelmäßig von Kritikern und Kritikerinnen gemacht. Aus diesem Grund wird auch der genetischen Information im allgemeinen Diskurs nahezu einhellig ein Sonderstatus zugebilligt. Was im Endeffekt aber damit auch erreicht wird, ist, dass die „reduktionistischen und essentialistischen Vorstellungen genetischer Regulation“ reproduziert werden und der Genetifizierung von Körper, Krankheit und Devianz weiter Vorschub geleistet wird.Genfatalismus im “eigenen Haus”
Das Problem liegt in den problematischen Vorannahmen. Um gegen genetischen Reduktionismus zu argumentieren, wird zwar gewöhnlich gegen die Macht der Gene anargumentiert. Die Kritik der genetischen Diskriminierung scheint diese aber zu ihrem Ausgangspunkt zu machen und Genen und der Natur vorweg eine übergroße Mächtigkeit zuzuschreiben. Diese Sonderstellung lässt sich aber nicht durch die Ergebnisse der Molekulargenetik begründen; sie wird vor allem medial, in sozialer Interaktion, durch die Forschungspolitik oder durch juristische Regeln permanent verstärkt und stabilisiert. Das ist die soziale und kulturelle Realität des genetischen Wissens. Von dieser Realität kann Lemke einiges berichten. Ein wichtiges Ergebnis aus seinen Umfragen ist etwa, dass die „indirekte“ Diskriminierung in der bisherigen Diskussion völlig unterschätzt wird. Die Diskussion konzentriert sich in erster Linie auf institutionelle Zwänge und Praktiken. Die Umfragen lassen aber erahnen, wie sehr Diskriminierung aus sozialer Interaktion, aus Missachtung, Stigmatisierung oder Ausgrenzung resultiert und genetische und nichtgenetische Diskriminierung dabei ineinander übergehen. Wenn die Sonderstellung des genetischen Wissens ein „Kunstprodukt“ ist, dann stellt sich die politisch relevante Frage nach ihrer Funktion. Dann könnte man etwa dem einschlägig bekannten Bioethiker Hans-Martin Sass, der den Umbau des Gesundheitssystems beschrieb, Glauben schenken: Es geht um die Verwirklichung einer „Risikofaktorenmedizin“, in der Jeder und Jede unabhängig vom momentanen Gesundheitszustand eine „Risikoperson“ darstellt. Die Risikomedizin läuft auf die Individualisierung von Konflikten und Problemen hinaus, da erwartet wird, dass die Einzelnen die „genetischen Risiken für sich selbst und die Gesellschaft kontrollieren“. [2] Das genetische Wissen fungiert dann als die Speerspitze einer moralischen Technologie, die gesellschaftliche Lösungen durch Selbstmanagement ersetzt. Der „Genfatalismus“ sitzt im eigenen Haus – soweit kann man sich noch selbst eingestehen, doch möglicherweise auch schon „die Polizei der Gene“; das ist das beunruhigende Ergebnis des Buchs. Es ist ein politisch relevantes Ergebnis. Es macht nämlich danach keinen Sinn, weiterhin ein eigenständiges Gentestgesetz einzufordern. Die Integration der „genetischen Diskriminierung“ in die bestehende Behindertengleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze wäre der bessere Weg, gegen Diskriminierung anzukämpfen.- Thomas Lemke: Die Polizei der Gene. formen und Felder genetischer Diskriminierung, (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, Bd. 9), Frankfurt: Campus 2006, 173 Seiten, ISBN 978-3-593-38023-0.
- Cord Riechelmann, Was steht wirklich in den Genen?, FAZ, Nr. 215, vom 15.9.2007.
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Alexander v. Schwerin lehrt an der TU Braunschweig Wissenschafts-, Technik- und Pharmaziegeschichte und ist Mitarbeiter im Forschungsprogramm zur „Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin.