Vermeidung von Spätabbrüchen
Dokumentation
Quer durch die Parteienlandschaft wird derzeit wieder über das Thema Spätabtreibung diskutiert. Die Vorschläge reichen von einer Pflichtberatung vor dem Schwangerschaftsabbruch und einer mehrtägigen Bedenkzeit nach der Diagnose bis hin zu einer "Befristung, die sich am Entwicklungsstand des Kindes orientiert" (Bundesärztekammer). Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik weist auf die – in der Diskussion oft zu kurz kommende – Rolle der pränatalen Diagnostik bei der Zunahme später Schwangerschaftsabbrüche hin
Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik nimmt die Diskussion über Spätabbrüche (1) zum Anlass, in aller Klarheit auf die dahinter stehende grundlegende Problematik hinzuweisen: die Einbindung der vorgeburtlichen Diagnostik in die Schwangerenvorsorge und die darin implizierte Geringschätzung von Menschen mit Behinderungen. Das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik tritt deshalb dafür ein, dass das Bemühen um die Vermeidung von Spätabbrüchen bei der Begrenzung des Angebots der Pränataldiagnostik ansetzt und nicht bei ihrem logischen Endpunkt, dem späten Schwangerschaftsabbruch.
I.
Jede Frau wird in der Schwangerenvorsorge mit dem Angebot einer Pränataldiagnostik konfrontiert, die nicht auf die Gesunderhaltung von Mutter und Kind, sondern auf die Aussonderung nicht erwünschter Ungeborener zielt. Diese "Rasterfahndung" beginnt oft schon in der 10. Schwangerschaftswoche mit dem Angebot eines so genannten Frühscreening. Wird dabei eine erhöhte statistische Wahrscheinlichkeit für die Geburt eines behinderten Kindes festgestellt, werden der Schwangeren weitere gezielte Ultraschalluntersuchungen und meist eine Fruchtwasserentnahme empfohlen. Wenn eine Frau diese Untersuchungen durchlaufen hat und danach mit einer sie beunruhigenden Diagnose konfrontiert wird, erscheint die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch oft der einzige Ausweg. Deshalb hält das Netzwerk die Bemühungen, die Zahl der Spätabbrüche durch eine strengere rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zu verringern, für verfehlt. Damit wird das Problem individualisiert und die Verantwortung allein den schwangeren Frauen zugeschoben. Sie sollen, so die Tendenz der diskutierten Regelungsvorschläge, durch das Einschieben einer Bedenkzeit und eine psychosoziale Beratung bei der Vermeidung eines Spätabbruchs unterstützt werden, nachdem sie zunächst durch das Angebot der Pränataldiagnostik zur Vermeidung eines behinderten Kindes angehalten worden sind. Die Pränataldiagnostik ist eingebunden in ein System geteilter, anonymer Verantwortung, an dem Ärztinnen und Ärzte, aber auch andere Berufsgruppen sowie Forschung, Medizinindustrie, Krankenkassen und Gesundheitspolitik beteiligt sind. Dieses System wird von der öffentlichen Meinung insgesamt und auch von vielen schwangeren Frauen unterstützt. Es basiert auf der Überzeugung, dass die Geburt eines behinderten Kindes vermeidbar ist und vermieden werden sollte.
II.
Das Angebot der Pränataldiagnostik ist Ausdruck einer in den kulturellen Werten unserer Gesellschaft tief verankerten Geringschätzung von Menschen mit Behinderungen; die Praxis der Pränataldiagnostik wirkt andererseits auf die gesellschaftliche Abwertung von Menschen mit Behinderung zurück. Um diese Abwertung in ihrer menschlichen und politischen Relevanz zu verstehen, sind drei Ebenen verweigerter Anerkennung (2) in zwischenmenschlichen Beziehungen zu unterscheiden: Es geht darum, Menschen mit Behinderungen gleiche Rechte zuzuerkennen, sie auf der kulturellen Ebene als gleichwertig wertzuschätzen und ihr existenzielles Bedürfnis nach bedingungsloser Annahme anzuerkennen und zu erfüllen. o Die Abwertung von Menschen mit Behinderungen durch Pränataldiagnostik liegt nicht, wie manchmal unterstellt wird, auf der Ebene der Anerkennung der Gleichberechtigung. Es gibt in unserer Gesellschaft Gesetze und Institutionen, die die volle gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sicherstellen sollen und sie vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und Diskriminierung schützen sollen. Die 1995 vorgenommene Abschaffung der embryopathischen Indikation, die einen Schwangerschaftsabbruch aufgrund einer Schädigung des Ungeborenen erlaubte, ist ein Teil dieses Bemühens. o Das Problem liegt vielmehr auf der Ebene der Anerkennung der Gleichwertigkeit von Menschen mit Behinderungen. Die Pränataldiagnostik als Methode bewertet das Ungeborene anhand einer biologischen Norm. Eine Abweichung von dieser Norm führt zur Abwertung des gesamten menschlichen Potentials des Ungeborenen. Damit unterstützt die Pränataldiagnostik die Geringschätzung von Menschen, die mit einer solchen Behinderung in unserer Gesellschaft leben, und verschließt den Blick vor ihren jeweiligen Eigenschaften, Fähigkeiten und Leistungen und ihren Möglichkeiten, ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Insofern ist die Pränataldiagnostik Ausdruck verweigerter kultureller Anerkennung und Wertschätzung von Verschiedenheit. o Die Anerkennung von Gleichwertigkeit ist nur verlässlich, wenn sie von Anfang an und für alle gilt. Kinder, alle Kinder, bedürfen für ihre körperliche und seelische Entwicklung der Erfahrung bedingungsloser Liebe, damit sie Vertrauen zu sich selbst und ein Gefühl ihres eigenen Wertes gewinnen. Durch die Pränataldiagnostik wird die Anerkennung der existenziellen Bedürftigkeit aller Menschen prinzipiell gefährdet, da sie die Annahme und Zuwendung zu einem Kind vorab vom Vorliegen bestimmter Eigenschaften abhängig macht. Gefährdet ist damit auch die bedingungslose Zuwendung zu Menschen in unserer Gesellschaft, die im Laufe ihres Lebens krank oder behindert werden oder anderweitig besonderer Hilfe und Unterstützung bedürfen. Eine solche bedingungslose persönliche Annahme und Zuwendung kann nicht erzwungen werden, weder im Eltern-Kind-Verhältnis noch im Verhältnis zu anderen Menschen, die der Zuwendung bedürfen. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, die Sorge für die existenziellen Bedürfnisse von Menschen institutionell und rechtlich abzusichern und die Wertschätzung von Verschiedenheit auf der kulturellen Ebene zu fördern.
III.
Bei den vorliegenden Vorschlägen zur Vermeidung von Spätabbrüchen (3) wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass diese durch einen pränataldiagnostischen Befund begründet sind. Sie entsprechen damit weiterhin der aus guten Gründen abgeschafften embryopathischen Indikation. Eine Konsequenz ihrer Abschaffung im Bereich des Strafrechts hätte aber sein müssen, die Pränataldiagnostik rechtlich so zu begrenzen, dass keine Schwangerschaftsabbrüche aufgrund unerwünschter Eigenschaften des Ungeborenen mehr vorgenommen werden. Eine Auseinandersetzung darüber und über die zugrunde liegenden kulturellen Normen hat damals nicht stattgefunden und muss angesichts der zunehmenden Inanspruchnahme der Pränataldiagnostik dringend nachgeholt werden. Dabei muss stärker als bisher zwischen der individualethischen und der gesellschaftlichen Ebene unterschieden werden. Die Reformvorschläge beziehen sich auf die Beratung und Begleitung der schwangeren Frauen nach einem pränataldiagnostischen Befund, auf die ärztliche Indikationsstellung und auf die Dokumentation des Abbruchs. Auf der Ebene der persönlichen Verantwortung, sei es der betroffenen Frauen, sei es der beteiligten Ärzte und Ärztinnen, können keine Lösungen des Problems der Spätabbrüche gefunden oder gar verordnet werden. Durch eine Pflichtberatung wird sich die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche kaum verringern lassen. Vielmehr muss die ethische und gesellschaftspolitische Problematik der vorausgegangen Pränataldiagnostik und ihre Einbindung in das System der allgemeinen Schwangerenvorsorge öffentlich diskutiert werden. Es muss ein gemeinsamer Wille entstehen, den dahinter liegenden kulturell verankerten Einstellungen neue Wertorientierungen entgegenzusetzen und Frauen durch rechtliche Absicherungen die persönliche Entscheidung gegen eine auf Selektion zielende Pränataldiagnostik zu erleichtern. Nur so können Frauen und Paare auf der Ebene der individuellen Eltern-Kind-Beziehung in ihrer Bereitschaft unterstützt werden, ein Kind bedingungslos anzunehmen.
Forderungen
Zur Begrenzung des Angebots der Pränataldiagnostik liegen eine Reihe von Vorschlägen auf dem Tisch (4), die umgesetzt werden müssen. Erforderlich sind: - Die Herausnahme aller Maßnahmen aus der allgemeinen Schwangerenvorsorge, die auf Selektion hinauslaufen - die freie, informierte Zustimmung der schwangeren Frau vor jeder pränataldiagnostischen Maßnahme. Das patientenrechtliche Erfordernis der informierten Zustimmung der Frau gilt nicht nur für invasive (5), sondern für alle auf Eigenschaften des Ungeborenen bezogenen Maßnahmen. Sie müssen durch eine besondere Aufklärung und die ausdrückliche Zustimmung als zusätzlich und freiwillig gekennzeichnet werden. - umfassende Aufklärung und Beratung vor allen pränataldiagnostischen Maßnahmen, die in ihrer Konsequenz zu einem Schwangerschaftskonflikt führen können, einschließlich der Aufklärung über die Belastungen eines Spätabbruchs. Das gilt auch für Blutuntersuchungen im 1. und 2. Schwangerschaftsdrittel zur so genannten Risikoabschätzung, die den Weg in eine invasive Diagnostik bahnen, und für die in den Mutterschaftsrichtlinien vorgesehenen Ultraschalluntersuchungen (6), das heißt die Nackenfaltenmessung in der 11. – 12. Woche und die Suche nach Fehlbildungen in der 19. - 21. Woche. - Förderung psychosozialer Beratung vor Inanspruchnahme einer Pränataldiagnostik. Wenn eine Frau Beratung wünscht, sollte sie diese zu einem Zeitpunkt wahrnehmen können, an dem sie nicht unter Zeitdruck steht und sich in Ruhe aufgrund ihrer eigenen Wertmaßstäbe für oder gegen Maßnahmen entscheiden kann, die in ihrer Konsequenz zu einem Schwangerschaftsabbruch führen können. Diese Forderungen sind rechtlich abzusichern durch - die gesetzlich verpflichtende Formulierung von ärztlichen Aufklärungs- und Beratungsstandards mit standesrechtlich abgesicherter Kontrolle und Sanktionierung - die Verpflichtung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, im Rahmen ihrer Aufklärungspflicht auf unabhängige psychosoziale Beratungsangebote empfehlend hinzuweisen - die Verpflichtung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, eine Bedenkzeit zwischen der ärztlichen Aufklärung und Beratung und der ersten pränataldiagnostischen Maßnahme einzuhalten, um Zeit für die Wahrnehmung von unabhängiger Beratung zu geben - die Dokumentation der Aufklärung und Beratung, der Bedenkzeit und der Empfehlung psychosozialer Beratungsangebote im Mutterpass - die Änderung der Abrechnungsmodalitäten, so dass die Entscheidung einer Frau gegen pränataldiagnostische Maßnahmen keine negativen finanziellen Auswirkungen für die behandelnden Ärzte und Ärztinnen hat - Kontrolle und Regulierung des Marktes für privatwirtschaftlich angebotenen Methoden der Pränataldiagnostik; dazu gehört ein Werbeverbot insbesondere für den Ersttrimestertest (Frühscreening) und für ähnliche Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) - die Aufnahme einer Präambel in die Mutterschaftsrichtlinien und in den Mutterpass, die die Aufklärungspflicht der Ärzte und Ärztinnen und den Rechtsanspruch der schwangeren Frau auf Beratung beschreiben - die baldige Verabschiedung eines Gendiagnostikgesetzes, in dem diese Forderungen systematisch festgeschrieben werden Juni 2006
Die Stellungnahme ist Ergebnis der Arbeit auf der Jahrestagung des Netzwerks gegen Selektion durch Pränataldiagnostik 2006; vgl. vor allem das Referat von Sigrid Graumann: Pränataldiagnostik – zwischen persönlicher Betroffenheit und politischer Dimension, abgedruckt in: Rundbrief Nr. 19, Juni 2006, S. 3 – 11.
(1) Spätabbrüche sind, rechtlich gesehen, Abbrüche nach der 12. Woche; in der Praxis handelt es sich meist um Abbrüche ab etwa der 18. Woche. Ab der 22. Woche, also an der Grenze zur Lebensfähigkeit, ist es üblich - und rechtlich zulässig -, dass das Ungeborene im Mutterleib getötet wird ("Fetocid"). (2) nach Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp, Frankfurt/Main 1998. (3) In der vorigen Legislaturperiode hatte die CDU/CSU-Fraktion im Jahre 2003 und erneut 2004 einen Antrag zur "Vermeidung von Spätabbrüchen" eingebracht, der nicht mehr behandelt wurde. Die derzeitige Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag vom Herbst 2005 verpflichtet, diese Diskussion wieder aufzunehmen, und dies für den Sommer 2006 angekündigt. (4) vgl. vor allem die Empfehlung der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" (Hg. vom Deutschen Bundestag, Berlin 2002), dass "den Organen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen eine Überarbeitung ihrer Richtlinien im Sinne einer Beschränkung der PND zu empfehlen" ist (Teil C, 1.3.5 Empfehlung Nr. 2, S. 182). (5) Invasiv ("eindringend") sind vor allem die Chorionzottenbiopsie und die Fruchtwasserentnahme zur Gewinnung von Zellmaterial des Ungeborenen; als nicht invasiv gelten unter anderem Untersuchungen des Blutes der Frau und Ultraschalluntersuchungen Maßnahmen. (6) Zur Begründung vgl. das vom Netzwerk in Auftrag gegebene Rechtsgutachten: R. Franke & D. Regenbogen, Der Schutz des Selbstbestimmungsrechtes der Frau bei der Betreuung nach Mutterschaftsrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, Institut für Gesundheits- und Medizinrecht der Universität Bremen 2001 (www.netzwerk-praenataldiagnostik.de, erschienen als Rundbrief Nr. 13).