Pränataldiagnostik - mehr Nutzen als Schaden?
Bei der Anwendung und Ausweitung pränataldiagnostischer Untersuchungen entstehe mehr Nutzen als Schaden – dieses Fazit des an der Universität Würzburg durchgeführten "Forschungsprojekts zur Einstellung von Eltern zu ihrem Kind mit Down-Syndrom vor und nach Einführung der Pränataldiagnostik" wird derzeit häufig zitiert. Unerwähnt bleibt dabei, dass der Nutzen der PND lediglich für die wenigen Eltern dokumentiert ist, die sich für ein Kind entschieden haben, unabhängig davon, ob es behindert oder nicht-behindert sein wird. Dabei bleiben die Auswirkungen für das Leben von Menschen mit Behinderung gänzlich unbeantwortet.
Ich möchte niemand anders sein als ich selber", sagt eine Frau mit Down-Syndrom von sich selber. (1)"Schätzungen zufolge lassen 90 Prozent der Frauen, bei denen die Fruchtwasseruntersuchung ein Down-Syndrom diagnostiziert, abtreiben."(2) "Der Nutzen einer klaren Diagnose scheint (…) die potentiellen Risiken der Pränataldiagnostik zu überwiegen. Die Anwendung und Neuentwicklung pränataldiagnostischer Untersuchungen ist demgemäß nicht abzulehnen, aber die Aufklärung der Bevölkerung und die non-direktive Beratung schwangerer Frauen vor Inanspruchnahme von Untersuchungen muss wesentlich forciert werden, damit die freie Entscheidungsmöglichkeit der Frau für oder gegen ein Kind mit Behinderung gesichert ist."(3) Diese drei Aussagen seien vorangestellt, um die Ergebnisse des "Forschungsprojekts zur Einstellung von Eltern zu ihrem Kind mit Down-Syndrom vor und nach Einführung der Pränataldiagnostik" aus der Sicht einer Aktivistin der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen zu beleuchten. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Forschungsergebnisse, insbesondere deren Bewertung durch die Projektmitarbeiter. Denn gerade mit der Bewertung wird in wissenschaftlichen Kreisen gearbeitet. Sie wird in diversen Artikeln und von Verbänden auch zur Ausweitung pränataldiagnostischer Untersuchungen genutzt. Dabei lassen die Forschungsergebnisse durchaus auch andere Schlussfolgerungen zu.
Das Forschungsprojekt
Nachdem es bereits in den Jahren 1969-1972 ein Forschungsprojekt zur Einstellung von Müttern zu ihren Kindern mit Down-Syndrom und ihrer Akzeptanz in der Gesellschaft gab, wollten Forscher der Universitäten Würzburg und Homburg wissen, wie sich die Entwicklungen der Pränataldiagnostik auf die Situation der betreffenden Menschen und ihrer Familien auswirken. Dazu entwickelte ein interdisziplinär besetztes Forschungsteam aus Medizinern und Sonderpädagogen unter der Leitung von Erwin Breitenbach (Universität Würzburg) ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziertes Forschungsprojekt. In diesem wurden Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom und - zusätzlich zu dem Forschungsprojekt aus den 70er Jahren - als Kontrollgruppen Eltern nicht-behinderter Kinder, Eltern von Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung unbekannter Genese sowie Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom, die eine integrative Einrichtung besuchen, befragt. Durch ein nur leicht modifiziertes Vorgehen sollte verglichen werden, wie sich die Situation innerhalb der letzten 30 Jahre aus Sicht der Eltern verändert hat. Dabei ging es vor allem darum, mögliche Folgen der zu erwartenden Einführung neuer nicht-invasiver pränataler Screenings wie zum Beispiel das Ultraschall-Nackenfaltenscreening oder der Aneuploidie-Test (Blutuntersuchung fötaler Zellen aus dem Blut der Schwangeren) abzuschätzen. Außerdem sollten die Forschungsergebnisse als Hilfsgröße für die Akzeptanz und psychosoziale Auswirkungen anderer genetischer Screeningverfahren, zum Beispiel zur Erkennung einer Anlage von Brustkrebs oder Mukoviszidose, dienen.
Forschungsfragen und -ergebnisse
Die These zu Beginn der Forschung lautete verkürzt: Pränataldiagnostik leistet durch die potentielle Vermeidbarkeit behinderter Menschen einer Ausgrenzung der betroffenen Menschen und ihrer Familien Vorschub. Entsprechend müssten sich Eltern durch die vermehrte Anwendung dieser Techniken heute stärker ausgegrenzt fühlen als noch vor 30 Jahren, als die PND so noch nicht angeboten wurde. Das Forschungsergebnis zeigt aber, dass sich Mütter von Kindern mit Down-Syndrom im Jahr 2002 im Vergleich zu 1972 "gleichermaßen aus der Gesellschaft ausgegrenzt" fühlten. "Demgegenüber berichteten sie wesentlich häufiger von Unterstützung und Hilfsbereitschaft aus dem sozialen Umfeld."(4) Außerdem äußerten weniger Mütter den Wunsch, ihr Kind würde nicht leben. Allerdings wurde ihnen häufiger aus dem nahen Umfeld vorgeworfen, ihr Kind sei vermeidbar gewesen. Dennoch befürworteten viele Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom die Einführung neuer nicht-invasiver Diagnostik-Methoden, wenngleich sie befürchteten, dass das Lebensrecht ihrer Kinder dadurch gefährdet werden könnte. Im Gegensatz zu Eltern, die ein Kind mit sogenannter geistiger Behinderung mit unklarem Befund haben, gelang den Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom außerdem die Annahme ihres Kindes besser. So weit die verkürzte Zusammenfassung der Forschungsergebnisse. Daraus schließt die Forschungsgruppe Folgendes:
- Aufgrund der PND ist die Stellung von Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom gesellschaftlich bedroht, weil sie häufiger mit Schuldvorwürfen konfrontiert sind.
- Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom können ihr Kind besser akzeptieren als Eltern mit einem behinderten Kind mit unklarem Befund.
- Der Nutzen der Pränataldiagnostik mit einer klaren Diagnose scheint ihren Schaden zu überwiegen. Daher ist sowohl die Anwendung als auch die Weiterentwicklung der PND nicht abzulehnen. Damit sich die Frau frei für oder gegen ein Kind mit Behinderung entscheiden kann, muss sowohl die Aufklärung der Bevölkerung als auch die non-direktive Beratung der schwangeren Frau vor Inanspruchnahme der PND forciert werden.(5)
Mögliche weitergehende Schlussfolgerungen
Basierend auf der Ausgangsthese des Projekts hätten sich Eltern von Kindern mit Down-Syndrom heute unter anderem aufgrund vermehrter Schuldzusprüche infolge der potentiellen Vermeidbarkeit durch PND verstärkt ausgegrenzt fühlen müssen. Die Eltern fühlen sich nach Angaben der Forschungsgruppe heute im Vergleich zu 1972 jedoch "gleichermaßen aus der Gesellschaft ausgegrenzt" (6) und können ihr Kind infolge der frühen Diagnostik sogar besser annehmen als Eltern, die keinen klaren Befund über die Behinderung ihres Kindes haben. Die Forscher ziehen daraus den Schluss, dass PND nicht verstärkt zu einer Ausgrenzung behinderter Menschen und ihrer Familien führt. Eine andere Bewertung ist jedoch ebenso möglich, insbesondere, wenn man die Veränderung der gesamtgesellschaftlichen Situation in den letzten 30 Jahren berücksichtigt. Die Frage, ob sich behinderte Menschen und ihre Familien gesellschaftlich akzeptiert fühlen, hängt nämlich im großen Maße auch von der Präsenz von Hilfsangeboten und der gesellschaftlichen Akzeptanz ab. Diese haben in den vergangenen 30 Jahren in Form von Selbsthilfeorganisationen, Integrationsbemühungen und verbesserten Teilhabechancen durch Gesetze enorm zugenommen. Wenn sich Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom trotz dieser verbesserten Hilfen "gleichermaßen aus der Gesellschaft ausgegrenzt" fühlen, kann dies ebenso gut ein Indiz für die wachsende Ausgrenzung infolge der PND sein. Einem verbesserten Unterstützungsangebot einerseits stünden verstärkte Ausgrenzungen aufgrund der Schuldzuweisung in Folge der Angebote der PND andererseits gegenüber, so dass sich Eltern in der Summe in gleichem Maße ausgegrenzt fühlen wie vor 30 Jahren.
Selbstbestimmung der Frau?
Das Projektteam argumentiert, dass es für die Selbstbestimmung der Frau und die Annahme eines behinderten Kindes positiv sei, in der frühen Schwangerschaft mit Hilfe neuer diagnostischer Methoden von einer möglichen Behinderung des Ungeborenen zu erfahren. Diese These müssen wir jedoch aus ethischer und frauenpolitischer Sicht genau betrachten. Denn die PND hilft nicht nur bei der Annahme eines behinderten Kindes. Sie dient auch der Selektion und wirft damit ethische Fragen auf, die bei der Ausweitung der PND berücksichtigt und von der Gesellschaft beantwortet werden müssen. Was das Selbstbestimmungsrecht der Frau in der Schwangerschaft angeht, so wird dessen Anrufung von kritischen Feministinnen im Zusammenhang mit den Gen- und Reproduktionstechnologien durchaus in Frage gestellt. So schreibt Margaretha Kurmann: "Der Kampf um Selbstbestimmung hat seine Wurzeln in der Einforderung grundlegender Menschenrechte auch für Frauen. Er definierte sich über die Abwehr von Fremdbestimmung und Herrschaftsansprüchen. Im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik erleben wir aber eine unzulässige Umdeutung: Selbstbestimmung wird zur individuellen Interessenverfolgung. Mit der Ausweitung der medizinischen Kontrolle über Schwangerschaft und Geburt – und damit über Frauen – geht eine Pathologisierung von Frauen einher. Frauen werden zu defizitären Wesen, die der medizinischen Hilfe benötigen, um wirklich gute Kinder zu machen."(7). Auch ist zu fragen, inwieweit sich das Selbstbestimmungsrecht auch auf die "Beschaffenheit" des Nachwuchses erstrecken kann. Ob Frauen zudem losgelöst von gesellschaftlichen Bedingungen, zum Beispiel Schuldzuweisungen bei der Geburt eines behinderten Kindes, eine wirklich selbstbestimmte Entscheidung treffen können, darf bezweifelt werden. An dieser Stelle ist mir wichtig zu betonen, dass das Recht von Frauen auf einen Schwangerschaftsabbruch nicht in Frage zu stellen ist. Keine Frau darf verurteilt werden, wenn sie sich zu diesem Schritt – der keiner Frau leicht fällt – aus welchen Gründen auch immer entschieden hat. Problematisch hingegen sind Angebote, die gesellschaftlich getragen und ausgeweitet werden und in zunehmendem Maß sowohl gesellschaftlich als auch persönlich erwünscht für die Selektion von Menschen mit Behinderung genutzt werden. Dabei findet gleichfalls die Verlagerung der gesellschaftlichen Frage des Umgangs mit Behinderung und behinderten Menschen und deren Beantwortung auf die individuelle Ebene der einzelnen Frau/des Paares statt. Und diese Verlagerung der gesellschaftlichen Verantwortung dann auch noch mit der Stärkung der Selbstbestimmung von Frauen zu etikettieren, ist der falsche Weg.
Methodisch fragwürdig
Dass die in diesem Projekt befragten Eltern der Kinder mit Down-Syndrom selten den Wunsch äußerten, ihr Kind würde nicht leben, verwundert nicht. Schließlich haben sie – sofern sie die PND in Anspruch genommen haben – gewusst, dass Ihr Kind mit Down-Syndrom auf die Welt kommen wird und gehören zur seltenen Gruppe der Frauen, welche in einer vergleichbaren Situation die Schwangerschaft nicht unterbrochen haben. Das heißt, ihre Ausgangslage war eine andere als die der Mütter vor 30 Jahren und ist nicht vergleichbar. Auch die Tatsache, dass die Befragten gegenüber dem Forschungsteam angaben, weitere nicht-invasive Diagnostik-Methoden zu befürworten, hängt mit ihrer persönlichen Erfahrung zusammen. Es handelt sich hier um Elternteile, die sich für das Kind – unabhängig von einer möglichen Behinderung – entschieden haben. An dieser Stelle wird jedoch ausgeblendet, dass sich circa 90 Prozent der Frauen, die im Rahmen der PND von der Diagnose Down-Syndrom erfahren, für einen Abbruch der Schwangerschaft entscheiden. Was die persönliche und gesellschaftliche Einstellung Menschen mit Down-Syndrom gegenüber angeht, so wäre diese Gruppe mindestens ebenso relevant für die eventuellen Auswirkungen der PND wie die tatsächlich beforschten Personengruppen. In einem Punkt bestätigen die befragten Eltern des Forschungsprojekts die Erfahrung vieler Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien: Sie werden häufig mit Schuldvorwürfen, dass Menschen mit Behinderungen heute doch vermeidbar seien, konfrontiert. "Pränataldiagnostik stellt eine Bedrohung für die gesellschaftliche Stellung von Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom dar …", so die Forscher.(8) Auch sahen die Eltern von Kindern mit Down-Syndrom das Lebensrecht ihrer Kinder durch die Angebote der PND gefährdet. Dennoch kommen die Forscher zu dem Schluss, dass der Nutzen der PND überwiegt – zumindest für die 10 Prozent der Eltern, die sich bewusst für ein Kind mit Down-Syndrom entscheiden. Der Nutzen für Menschen mit Down-Syndrom oder die gesamtgesellschaftliche Einstellung Menschen mit Down-Syndrom gegenüber wird in der Studie jedoch nicht thematisiert. Obwohl explizit als Forschungsthese formuliert, bleiben daher durch die Konzeption des Projektes die Auswirkungen der routinemäßig eingesetzten PND auf die Einstellung/Akzeptanz gegenüber Eltern aber vor allem gegenüber den betroffenen Menschen selbst weitestgehend ausgeblendet. Eingedenk der Tatsachen, dass sich 90 Prozent der werdenden Mütter/Eltern gegen eine Elternschaft mit einem "solchen" Kind entscheiden, sowie den Erkenntnissen aus der Studie in Bezug auf gesellschaftliche Stellung der Eltern und Lebensrecht der Kinder ist es aus Sicht von Menschen mit Down-Syndrom mehr als zynisch, als Endergebnis festzuhalten, dass der Nutzen den Schaden überwiegt. Und einmal mehr kommen bei einem Forschungsteam, zusammengesetzt aus Medizinern und Sonderpädagogen, Menschen mit Behinderung nicht zu Wort – und das, obwohl sie in der Ausgangsthese als Zielgruppe explizit genannt sind. Svenja Giesler schreibt über sich: "Ich habe Down-Syndrom Aber ich stehe da zu und ich bin kein Alien denn ich bin so wie ich bin und jeder soll es verstehen und mich respektieren" (9) Svenja Giesler gehört zu den Menschen, die an erster Stelle in der gesellschaftlich ethischen Auseinandersetzung über den Umgang mit Behinderung und Selektion gefragt werden müssen!
Quelle:
"Einstellung betroffener Familien zum Down-Syndrom vor und nach Einführung der Pränataldiagnostik: Langzeitvergleich 1969 – 2003" Projektbericht, Universität Würzburg, http://www.uni-wuerzburg.de/sopaed1/praenatal/
Fußnoten
- aus: Ohrenkuss-Kalender… da rein, da raus 2005
- vom Hofe, Jutta: Pränatale Diagnostik – Die stille Selektion. Dossier aus www.1000fragen.de
- Abschlussbericht zum Forschungsprojekt "Einstellung betroffener Familien zum Down-Syndrom vor und nach Einführung der Pränataldiagnostik: Langzeitvergleich 1969 – 2003" aus: http://www.uni-wuerzburg.de/sopaed1/praenatal/
- ebd.
- ebd.
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- Kurmann, Margaretha: Pränataldiagnostik im Alltag der Schwangerenvorsorge in: ReproKult – Frauen Forum Fortpflanzungsmedizin (Hg): Positionspapiere
- Abschlussbericht zum Forschungsprojekt "Einstellung betroffener Familien zum Down-Syndrom vor und nach Einführung der Pränataldiagnostik: Langzeitvergleich 1969 – 2003" aus: http://www.uni-wuerzburg.de/sopaed1/praenatal/
- Giesler, Svenja: Ich habe Down-Syndrom in: Ohrenkuss… da rein, da raus, Nr. 9 2002
Martina Puschke ist Diplom-Pädagogin und arbeitet als Projektkoordinatorin in der Politischen Interessenvertretung behinderter Frauen des Weibernetz e.V.. Sie ist Mitbegründerin von ReproKult Frauen Forum Fortpflanzungsmedizin und aktiv in der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung behinderter Menschen und der Frauenbewegung.