„Das subtile Grundrauschen der Sklaverei“

Assistierte Reproduktion und Leihschwangerschaft in dystopischen Romanen

Wenn wir uns mit Reproduktionstechnologien beschäftigen, schauen wir oft auf die biologischen Vorgänge oder medizinischen Risiken. Um die gesellschaftlichen Auswirkungen zu verstehen, wenden wir uns in der Regel den Sozialwissenschaften zu. Alys E. Weinbaum findet, dass uns Romane noch etwas anderes verraten können. 

Nahaufnahme von Alys Weinbaum. Sie hat grau-blonde Locken und trägt einen blauen Pullover mit rundem Ausschnitt sowie eine Halskette.

Alys E. Weinbaum – Foto: © privat

Alys Weinbaum, was verrät Literatur uns über die Rolle von Reproduktion, insbesondere assistierter Reproduktion in der Gesellschaft, das wir mithilfe anderer Disziplinen nicht sehen können?

Diskussionen um assistierte Reproduktionstechnologien (ART) in den Sozialwissenschaften sind meist sehr policy-orientiert und sehr in der Gegenwart verhaftet. In der Regel fokussieren sie Fragen wie: Ist das ethisch vertretbar? Was kann jetzt getan werden? Was sind die Bedürfnisse der Nutzer*innen dieser Technologien?

Die Art der Fragen, die ich als Literaturwissenschaftlerin stelle, ist eine etwas andere. Ja, ich finde Politik wichtig und auch die Frage nach individuellen Zugängen. Aber was mir noch wichtiger ist, ist: An welchen tief eingeschriebenen Geschichten und Ideologien rühren wir, wenn wir diese Technologien nutzen? Wenn wir Literatur und Kultur analysieren, erlangen wir Zugang zu Antworten auf diese Fragen, die uns mit anderen wissenschaftlichen Methoden nicht zur Verfügung stünden.

So können wir fragen, wie ART verknüpft sind mit lange andauernden Geschichten von reproduktiver Entfremdung und Enteignung. Diese Geschichten können uns zurückführen zu Besitzsklaverei1, zum transatlantischen Handel mit versklavten Menschen – sie bringen uns zurück zum Kolonialismus. Sie könnten uns auch zur Geschichte von Eugenik und Faschismus im späten 19. und 20. Jahrhundert führen. Und wenn sich die Fragen verändern, fangen wir an zu sehen, wie ART eingebettet sind in diese Geschichten. Sie haben ein Nachleben, das beeinflusst, wie wir über assistierte Reproduktion denken und wie wir diese Technologien nutzen.

Literatur kann uns auch zeigen: Wie stellen wir uns eine Zukunft vor, die Fortpflanzungstechnologien beinhaltet? Als befreiend oder als etwas unterdrückerisches? Und wie können wir zu einem Verständnis von ART gelangen, das diese Technologien für einen freiheitlicheren Gebrauch öffnet, anstatt jene Unterdrückungsregime zu verfestigen, die historisch die menschliche Reproduktion geprägt haben?

In Deutschland spiegelt die Erzählung der Geschichte und der Kämpfe um Reproduktion vor allem die Perspektive weißer, nicht-behinderter cis Frauen wider und fokussiert meist das Thema Abtreibung. Würden Sie sagen, dass es in der englischen Literatur ein ähnlich dominantes Narrativ von Reproduktion gibt?

Ja, es gibt in der englischsprachigen Literatur und auch in der Politik eine starke Betonung des Zugangs zu Abtreibung, aber zumindest in den USA (und ich denke, auch anderswo), ist dieser Fokus sehr stark kritisiert worden, insbesondere von Frauen of Colour und Schwarzen Feminist*innen, die deutlich gemacht haben, dass wir uns am Modell der Reproduktiven Gerechtigkeit2 orientieren müssen. Es ist ein antikapitalistisches Argument, eines, wo es um Ressourcen geht, um Verteilung. 

Es gibt Literatur, die sich in dieser Stoßrichtung bewegt, mit diesem Fokus auf Abtreibung. Aber es gibt auch Repräsentationen, die unsere Vorstellung davon, was Fortpflanzung ist, erweitern. Gerade seit den 1980ern, als Leihschwangerschaft sich als Praxis global verbreitete, und ganz bestimmt ab der Jahrtausendwende, als sie zumindest in den USA weitestgehend normalisiert wurde, gibt es einen Trend von Literatur, der ART und Leihschwangerschaft in den Mittelpunkt stellt und nicht nur die Abtreibungsfrage thematisiert. 

Autor*innen können menschliche Reproduktion völlig neu entwerfen. Finden Sie, dass Autor*innen von dieser Freiheit Gebrauch machen? Oder reproduzieren sie eher bestimmte soziale Normen, was Fortpflanzung angeht? 

Das ist eine interessante Frage. Diese feministischen Utopien und Dystopien tauchen ab dem 19. Jahrhundert auf. Einige der allerersten dieser Romane handeln von komplett weiblichen Gesellschaften, in denen Fortpflanzung parthenogenetisch (Anm.: sogenannte unisexuelle Fortpflanzung) stattfindet. Ich denke da zum Beispiel an Charlotte Perkins Gilmans „Herland“. Die Idee in diesen Romanen ist, dass man eine feministische Utopie erschaffen kann, in denen Frauen in der Lage sind, spontan neue Familienformationen zu gestalten, neue Gesellschaftsformen zu schaffen, indem sie die Kontrolle über ihre Reproduktion übernehmen. Es gibt einen richtigen Boom in den feministischen dystopischen Romanen der 1970er, einhergehend mit dem Beginn des Zweite-Welle-Feminismus.3 In manchen dieser Werke ist durchaus ein solcher Ansatz zu sehen. Beispielsweise bei „The Female Man“ von Joanna Russ und bei einigen Romanen von Octavia Butler aus den 80ern, in denen Reproduktion wirklich ganz anders gedacht wurde: Sie involviert vielleicht nicht nur zwei Personen, sondern drei. Da gibt es vielleicht Personen, die kein Geschlecht haben – oder viele Geschlechter. Da werden reproduktive Prozesse zwischen den Geschlechtern ausgetauscht. 

Und was so interessant an diesen Romanen ist: Es ist schwer zu sagen, ob sie nun Utopien oder Dystopien sind. Sie haben utopische Momente, zum Beispiel da, wo sie Reproduktion aus hetero und cis Kontexten herauslösen. Und gleichzeitig sind sie am Ende dystopisch. Etwa weil es darum geht, dass Außerirdische die Menschheit dominieren. Und ob das wiederum wirklich dystopisch ist? Vielleicht müssen Menschen dominiert werden, um sich zu verändern? Ich denke, das ist eine der radikalen Implikationen dieser Werke, besonders bei Octavia Butler.

Viele unserer Leser*innen kennen vermutlich Margaret Atwoods Roman „The Handmaid's Tale“ – auch durch die gleichnamige Netflix-Serie. In den USA wurden Symboliken aus dem Buch, indem es um reproduktiven Zwang geht, von Pro-Choice-Initiativen in ihre Proteste eingebunden. Aber der Roman wurde auch heftig kritisiert, wegen der Art und Weise, wie er Rassismus thematisiert bzw. ihn eben nicht thematisiert.

Margaret Atwoods „The Handmaid's Tale“ ist 1985 rausgekommen, deutlich vor dem Boom von Reproduktionstechnologien und Leihschwangerschaft. Trotzdem ist es eine Art Leihschwangerschaftsdystopie. Die Art und Weise der Fortpflanzung im Roman ist sehr low-tech und beinhaltet erzwungene Leihschwangerschaft. Frauen werden gezwungen, die Kinder anderer Familien auszutragen, die diese Kinder dann als ihre eigenen aufziehen. Und das passiert wiederholt, Reproduktion wird also zu einer Industrie gemacht. 

Wie Rassismus in diesem Buch verhandelt wird, ist tatsächlich problematisch. Es gibt da eine Art Reproduktion der weißen Gesellschaft, in einer totalitären Form, die in vielen Aspekten faschistisch erscheint. Und in der stümperhaften, „farbenblinden“ Netflix-Adaption gibt es keine Kritik daran. Das ist irgendwie noch schlimmer, weil das alles zu einem verwaschenen neoliberalen Multikulturalismus verkommt, der überhaupt nicht kritisch gegenüber dem Weißsein der Gesellschaft von Gilead [Anm.: der theokratische Staat in „The Handmaid´s Tale“] ist, die auf Kosten von People of Colour reproduziert wird.

Natürlich kam die Serie genau nach Trumps Wahl raus und viele Leute haben sie deswegen als eine Geschichte verstanden, in der es um die Unterdrückung von Frauen im Nachgang der Wahlen geht. Aber ich denke, es gibt eine tiefere Lesart dieses Texts: Es ist tatsächlich auch ein Roman über die lange Geschichte der Besitzsklaverei. Der transatlantische Sklav*innenhandel und 400 Jahre der Ausbeutung Schwarzer Frauen als Maschinen für die Reproduktion von Waren für den Sklav*innenmarkt, einer Praxis, die sich mit dem Ende des transatlantischen Sklav*innenhandels nochmals verschärft hat. Die als einzige Möglichkeit, neue Sklav*innen für die heutigen USA und die Karibik zu bekommen, war, sie zu „züchten“. Ich habe viel über die Industrie der „Sklav*innenzucht“ geschrieben und denke, dass das wirklich DAS ist, was wir mitdenken müssen, wenn wir über gegenwärtige reproduktive Entfremdung sprechen. 

Der Roman gewährt uns auf eine Art und Weise Zugang zu dieser Wahrheit, die mit den Sozialwissenschaften oder konventioneller Geschichtsforschung nicht möglich wäre. Was so interessant ist an „The Handmaid's Tale“: Die Geschichte basiert eigentlich auf dem klassischen „slave narrative“. Die Form des Romans ist exakt die gleiche, wie bei den Erzählungen aus dem 19. Jahrhundert, die von ehemals versklavten Menschen produziert wurden, um damit den Diskurs für die Abschaffung der Sklaverei zu stärken. Diese „slave narratives“ folgen einer ganz bestimmten Form. Und genau diesem Weg folgt auch Atwoods Roman.

Es gibt eine enge Verbindung zwischen dem Missbrauch von versklavten Frauen als Gebärerinnen und der gegenwärtigen Ausnutzung von Leihschwangeren als Produzentinnen von Waren, die von Menschen weltweit gekauft werden. Weltweit ist Leihschwangerschaft in der Regel kein Geschenk, keine Spende – sondern es sind arme Frauen, die sich zur Leihschwangerschaft bereit erklären, weil sie das Geld brauchen, um ihren Alltag zu bestreiten oder zu überleben.

Und obwohl Leihschwangerschaft nicht das gleiche ist wie Versklavung, weist sie viele Merkmale von Versklavung auf und das deutet darauf hin, dass Sklaverei und „slave breeding“ ein Nachleben in der Gegenwart haben. Es ist das subtile Grundrauschen der Sklaverei, das den Roman verständlich macht. Und das macht uns die tieferliegenden Geschichten reproduktiver Enteignung bewusst, die moderne Leihschwangerschaft stützen. Ich glaube, dass es die gegenwärtige Leihschwangerschaft nicht gäbe, hätte es die Sklaverei nicht gegeben. 

In „The Handmaid's Tale“ gibt es diese Unsichtbarmachung von Rassismus und gleichzeitig immer wieder Bezüge zu diesen Geschichten – kommt das häufig vor?

In Texten von Schwarzen Frauen und auch in antirassistischer Phantastik gibt es ein tiefes Verständnis von Sklaverei als einem Urtext – als etwas, das herausgearbeitet, diskutiert und nachvollzogen werden muss. Aber ganz viel Literatur ist da weniger bewusst. Ich denke, Atwoods Werk fällt in letztere Kategorie. Möglicherweise ist es ihr auch bewusst, aber egal. Ich bin mir nicht sicher, was zutrifft. Sklaverei informiert den Text, doch das wird von der Autorin nicht benannt. 

Das am schwierigsten herauszuarbeitende Narrativ ist das koloniale – aber es ist da. Es ist nicht explizit Teil von Atwoods Erzählung. Es gibt Kolonien im Text, wo die unfruchtbaren Frauen zusammengepfercht werden. Sie ähneln deutlich Vernichtungslagern, in denen die Leute zu Tode gearbeitet werden. 

Aber Kolonialismus schwingt noch auf eine andere Art im Text mit: der reproduktive Körper als terra nullius [Anm.: kolonial geprägter Begriff – „Niemandsland“, bewohntes Land, das keinem Staat zugerechnet wird und somit besetzt werden kann], wo der menschliche Körper selbst als ein Territorium verstanden wird, das erobert, besetzt und kolonisiert werden muss, um Profit zu generieren. Der Fötus selbst wird zum Kolonisator des Uterus. Diese Frauen wollen diese Kinder nicht gebären – sie müssen, um zu überleben. 

Auch jetzt schon ist es gängige Praxis, Eizell„spender*innen” nach rassistischen Kriterien auszuwählen, zum Beispiel wenn wohlhabende weiße Wunscheltern zwar eine Schwarze Leihschwangere in Ghana nutzen, die Eizelle aber aus der Ukraine kommt, weil sie unbedingt von einer weißen Person stammen soll. Ein anderer Aspekt, der bei assistierter Reproduktion meist schon selbstverständlicher Teil des Gesamtpakets ist, sind bestimmte genetische Tests. So werden Eizellgeber*innen auf genetische Anlagen für bestimmte Erkrankungen getestet und es kommen Präimplantations- und Pränataldiagnostik zum Einsatz. Behinderungen gelten hier als etwas vermeidenswertes. Wie sieht das in der dystopischen Literatur aus?

Die Frage nach genetischer Auslese taucht in fast allen dieser Romane auf – zwar nicht in Atwoods, der 1985 erschienen ist, bevor IVF und genetische Tests an Embryos so weit verbreitet waren. Aber spätere Romane schauen auf diese Frage: Was ist das genetische Material, mit dem der Embryo erzeugt wird? Und wer trägt ihn aus? Und da gibt es diese Diskrepanz zwischen armen Frauen, häufig Frauen of Colour, die weiße Kinder austragen, die durch rassistisch geprägte genetische Selektion zustande gekommen sind.
Das ist eine Fantasie, die wir auch in ganz vielen Mainstream-­Filmen sehen. Ich denke da an „The Island“ mit Scarlett Johansson, wo Klone erzeugt werden, um Kinder für diejenigen auszutragen, denen der Klon gehört – eine Art doppelte Ausbeutung: die Ausbeutung des Klons an sich und das Fungieren der Klone als Leihschwangere, denen genetisch selektierte Embryonen eingesetzt werden und die wiederum von Leuten gekauft werden, die reproduktive Arbeit auslagern wollen. Und dieses Outsourcing von reproduktiver Arbeit sowie die genetische Selektion, das ist sehr real. 

Glauben Sie, Literatur vermag es, Menschen dazu zu bringen, darüber nachzudenken, ob das wirklich Entwicklungen sind, die wir so wollen – oder sie vielleicht sogar motiviert, aktiv zu werden und Allianzen dagegen zu bilden?

Wir sollten anders über diese Literatur nachdenken. Literaturwissenschaftler*innen haben argumentiert, dass dystopische Romane uns aus einer progressiven Perspektive heraus einen Blick in die Zukunft und in die Vergangenheit bieten, der es uns ermöglicht, kritisch über die Welt nachzudenken und uns die Frage zu stellen: Ist die dargestellte Zukunft eine, auf die wir zusteuern wollen? Und wenn nicht, was müssen wir dann tun, um sie zu ändern? 

Das ist so spannend daran, zum Beispiel Atwood zu diskutieren. Nun, da die Vorschläge zur Legalisierung zu Leihschwangerschaft auf dem Tisch liegen. Was ermöglicht uns, ernsthaft darüber nachzudenken, wie Leihschwangerschaft aussehen soll? Leihschwangerschaft könnte zu etwas werden, das neue Familienmodelle ermöglicht. Es erlaubt Menschen, die keine Schwangerschaft austragen können, Kinder zu bekommen, die genetisch mit ihnen verwandt sind. Aber warum ist genetische Verwandtschaft in unserer Vorstellung so wichtig für Familienbande? Wie würden diese ohne genetische Verwandtschaft aussehen und was würde es bedeuten, das wertzuschätzen?

Was würde es bedeuten, wenn die Nutzung assistierter Reproduktion radikalen, kollektiven Vorstellungen folgen würde und nicht dem Diktat des Marktes? Denn bis jetzt folgt die Reproduktion dem Markt.

Ich finde, das ist ein wirklich guter Schlusssatz. Vielen Dank für das Interview.

 

Das Interview führte Jonte Lindemann.

  • 1Rund um den Themenkomplex Versklavung gibt es im Deutschen und Englischen sehr unterschiedliche Begriffsgeschichten, positive Wiederaneignungen von Begriffen oder widerständige Wortneuschöpfungen. Es war nicht immer leicht, diese Nuancen in der Übersetzung wiederzugeben. An einigen Stellen finden sich daher die englischen Originalbegriffe, an anderen ist die deutsche Übersetzung in Anführungszeichen gesetzt, um zu markieren, dass der Gebrauch kontextspezifisch und der Begriff diskutabel ist.
  • 2Das Konzept wurde von Schwarzen Feminist*innen in den USA geprägt und verbindet reproduktive Rechte mit Forderungen sozialer Gerechtigkeit. Dazu gehört das Recht, Kinder zu bekommen, das Recht, eine Schwangerschaft zu verhindern oder abzubrechen, und das Recht, Kinder frei von Gewalt großzuziehen. Im GID Nr. 266 haben wir dem Thema einen ganzen Schwerpunkt gewidmet: GID MAGAZIN (2023): Reproduktive Gerechtigkeit – Kinderwunsch und Elternschaft in ungleichen Verhältnissen, 40 Jg., Nr. 266, S.6-19, online: www.gen-ethisches-netzwerk.de/node/4600.
  • 3Strömung des Westlichen Feminismus ab den 1960er Jahren, die weitestgehend ignorant gegenüber den Differenzen unter Frauen blieb und Geschlecht als solches nicht in Frage stellte.
Erschienen in
GID-Ausgabe
270
vom August 2024
Seite 11 - 13

Alys E. Weinbaum ist Professorin für Englische Literatur an der University of Washington, mit einem Schwerpunkt auf marxistischen,
feministischen und rassismuskritischen Analysen.

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